Der Inhalt vieler Märchen ist die Geschichte der menschlichen Seele... Nicht in jedem Märchen werden alle Stufen des menschlichen Lebens berührt. Die Märchen ergänzen einander, indem jedes eine Seite des Entwicklungsweges behandelt, andere dagegen nur kurz andeutet oder ganz weglässt. Eine ziemlich ausführliche Darstellung erfährt das Schicksal der menschlichen Seele in dem Märchen „Aschenbrödel".

Wer ist Aschenbrödel?

Aschenbrödel ist der Mensch. Der Mensch in seiner wahren Natur ist nicht der irdische Körper, auch nicht die vergängliche Persönlichkeit, sondern die unvergängliche Seele, das denkende und organisierende Prinzip, das die geistige Ebene unseres Planeten bewohnt, bei der Geburt in das irdische Dasein seine niederen Kräfte hinabsendet, mit deren Hilfe die Persönlichkeit aufbaut und erhält und beim Tode den ausgesandten Teil seiner Natur wieder zu sich hinaufzieht und mit sich vereinigt. Bei jeder Verkörperung wird Ma-nas dual, teilt sich in seinen niederen Aspekt (Kama Manas) und seinen höheren Teil (Buddhi Manas). Manas ist der Engel im Menschen, im Neuen Testament auch der verlorene Sohn genannt.

Vgl. u. a. Theosophische Kultur, Jhrg.l, S. 422-431; Das Höhere Leben, Jhrg. 1982, S. 53 ff.; Theosophie heute, Jhrg. 1986, S. 88 ff.

In der Tat ist jeder Mensch ein in Sünde, d. h. in die Absonderung gefallener Engel, der im Anfange seines planetarischen Lebens seine himmlische Heimat verlässt, um in die Schule des Lebens zu gehen und Erfahrungen zu machen, Selbsterkenntnis zu erlangen und schließlich vollbewusst in den göttlichen Geist zurückzukehren.

Aschenbrödels Eltern

Der Vater wird ein reicher Mann genannt. Er ist es in Wirklichkeit auch. Der Vater der menschlichen Individualität ist Atma, der universale Geist. In unserem Märchen wird jedoch der kosmische Manas (Brahma) der Vater genannt, insofern als dieser als das kosmische Denkprinzip der Schöpfer der individuellen menschlichen Seele ist.

Die Mutter der menschlichen Seele ist das zweite Prinzip (Buddhi), welches der geistige Wille oder die kosmische Liebe ist, die Weltseele. In vielen Märchen heißt es, dass die Mutter bei der Geburt ihres Kindes starb. Dasselbe wird von den Müttern mancher Weltheilande erzählt. Auch die Mutter Buddhas starb bei der Geburt, bzw. sieben Tage danach. Bei der Verkörperung der individuellen Seele verliert die in der geistigen Sphäre unseres Planeten verbleibende himmlische Seele ihr [umfassendes] Bewusstsein im Menschen.

Das Kind ist die gesamte Menschheit. Deshalb wird gesagt, dass die Mutter nur ein einziges Töchterchen hatte. In der Tat ist die Menschheit essentiell eine Einheit. Aschenbrödel repräsentiert dementsprechend in unserem Märchen die Menschheit. Ihr Schicksal ist das aller Menschen.

Jedes Märchen hat wie jede Allegorie eine mehrfache Bedeutung. Wir können in Aschenbrödel sowohl die Menschheit als auch jeden einzelnen Menschen erblicken.

Die Mutter hatte vor ihrem Tode ihr Töchterchen ermahnt im Märchen, fromm und gut zu bleiben - d. h. empfänglich für den Beistand des Himmels: Die himmlische Seele (Buddhi) blickt bei jedem Menschen „vom Himmel herab", überschattet ihn mit ihrem Bewusstsein.

Das Grab der Mutter, von besonderer Bedeutung in diesem Märchen, ist das Herz des Menschen. Von hier aus spricht die Mutter als die Stimme des Gewissens zum irdischen Menschen.

Die Stiefmutter

„Ein Jahr nach dem Tode der Mutter nahm sich der Vater eine andere Frau", heißt es im Märchen. Die Mutter des Menschen ist die selbstlose Liebe, die Stiefmutter dagegen die Eigenliebe oder Selbstsucht, die in anderen Märchen auch die Hexe oder böse Zauberin genannt wird, weil sie die Kraft ist, die den Menschen in dem irdischen Körper gefangen hält und ihm in der Astralwelt die tierische Gestalt gibt. Der Mensch ist in der Tat ein Zauberschloss, in welchem gute und böse Kräfte ihr Spiel treiben.

Die Stiefschwestern

Der Eigenwille hat zwei Töchter: die Begierde und die Leidenschaft; diese sind die Stiefschwestern des Menschen, äußerlich schön, doch eitel und eingebildet. Ihr Herz wird schwarz genannt, das Licht wahrer Erkenntnis und Liebe ermangelt ihnen.

Die Stiefschwestern quälen den Menschen - vielleicht ein Hinweis auf versteckte Zusammenhänge: der Mensch ist in seinem irdischen Dasein in mancher Hinsicht ein Sklave der Arbeit.

Aschenbrödel bekommt einen grauen schmutzigen Kittel (die Persönlichkeit), und doch bleibt sie trotz ihrer niederen Gewänder eine Prinzessin, wenn auch verspottet durch die Leidenschaften.

Der Leidenspfad

Wenn Aschenbrödel, die Menschheit, auf dem tiefsten Standpunkt ihres Lebens, auf der Stufe der tiefsten Erniedrigung angekommen ist, beginnt ihr Unikehrpfad in Richtung auf ihre Erlösung, obwohl sie noch weiterhin viel leiden muss.

Begierde und Leidenschaft in Gestalt der Stiefschwestern wünschen sich materielle Güter - der habsüchtige Mensch begehrt vor allem Geld, weil er sich dadurch die Erfüllung seiner Wünsche verschaffen kann.

Das Reis, das sich Aschenbrödel wünscht, ist die Erinnerung an die Mutter. Es ist der Glaube der Seele an ihre himmlische Abstammung und Natur. Dieser intuitive religiöse Glaube erhebt den Menschen über das Tier und weckt im Menschen göttliche Kräfte. Was der Regen für die irdischen Samen ist, das sind die Tränen im Märchen für das Wachstum des Glaubens und der Tugend. Es heißt, dass noch niemand ohne Tränen durch das materielle Dasein hindurchging ... So wandelt Aschenbrödel den Leidenspfad. Sie gewinnt ihre Kraft aus dem Gebet. Es gibt für sie kein besseres Mittel, das Leiden zu überwinden. Studium, Gebet und Dienen sind die drei Gehilfen des Menschen auf seiner Wanderung zum Himmel. Der weiße Vogel, der die Wünsche Aschenbrödels erfüllt, ist ein Sinnbild der erwachenden geistig-göttlichen Kräfte im Menschen. Sie sind die Boten der himmlischen Welt. Sie sind weiß, entspringen der Weisheit, nicht der Selbstsucht. Die Vöglein kommen, ohne dass Aschenbrödel sie begehrt. Gleichermaßen kommen die göttlichen Kräfte zum Menschen von selbst, wenn er reif und empfänglich für ihre Aufnahme geworden ist und sie nicht zu selbstsüchtigen Zwecken missbraucht.

König und Prinz

Der König, der ein Fest veranstaltet, ist sinnbildlich der göttliche Geist, der Logos, der Gott unseres Sonnensystems (Atma). Er ist der Lenker und Erzieher des Menschengeschlechts. Die drei Tage des Festes symbolisieren Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Der göttliche Geist sendet seinen Sohn aus, den heiligen Geist, die großen Lehrer, um die menschlichen Seelen, die empfänglich sind, zu sich hinaufzuziehen. Jeder Mensch trägt einen Strahl des göttlichen Lichtes in sich, das den Menschen erleuchtet, wenn er sich seinem Vater im Himmel zuwendet. Der Prinz der Selbsterkenntnis vermählt sich, wie im Märchen deutlich, nur mit der reinen Seele.

Leidenschaft und Begierde, die Stiefschwestern, bilden sich ein, dass der Prinz sie zur Braut nehmen werde. Die Begierde ist niemals bescheiden gewesen.

Aschenbrödel gehorcht dem Befehl ihrer Stiefmutter, ein Sinnbild karmisch-schicksalhafter Verpflichtungen, die der Mensch zu erfüllen hat. Der Pfad zur Erlösung besteht in der Erfüllung aller Pflichten - letztlich aus Liebe zum Geiste der Menschheit. In Aschenbrödel sehen wir eine sich auf dem Pfade befindende Seele. Die Vögel, die Aschenbrödel bei der Arbeit helfen, sind die geistigen Willenskräfte. Zuweilen können wir beobachten, dass einem einsichtigen und guten Menschen die Arbeit wunderbar glückt -er tut sie aus Liebe.

Aschenbrödels Erlösung

Aschenbrödel bekommt ein goldenes und ein silbernes Kleid. Letzteres kann als Sinnbild des Kausalkörpers verstanden werden: das was sich beim Menschen entwickelt, ist dieser unvergängliche Leib, der aus den Tugendkräften gebildet wird und, wenn hinreichend entfaltet, den Tempel darstellt, in welchem die göttliche Weisheit und allumfassende Liebe „geboren", d. h. offenbar wird. Gold ist die Farbe der Weisheit (Buddhi), Silber die Farbe der Tugend. Die Pantoffeln sind möglicherweise die physisch-astrale Hülle der geläuterten Persönlichkeit.

Es ist nicht verwunderlich, dass die Schwestern und die Stiefmutter Aschenbrödel auf dem Fest nicht erkennen, Das Niedere erfasst nicht das Höhere. Der Selbstsüchtige sieht im anderen meist nur den Spiegel seiner selbst, die Erkenntnis höherer Seins zustände ist ihm verschlossen.

Aschenbrödels Gewand am zweiten Tage ist noch schöner - durchstrahlt von göttlicher Weisheit, der Vereinigung mit Buddhi.

Aber noch kann die Seele in der himmlischen Region nicht bleiben. Sie muss wieder in die irdische Welt, um ihre Obliegenheiten zu erfüllen. Sie muss sich vielleicht noch hunderte Male wiederverkörpern, bis sie des letzten Gewandes, dem des Vollendeten, des Buddha oder Christus würdig ist, welches aus reinstem Gold gewebt ist.

Die Hochzeit zwischen Aschenbrödel und dem Prinzen symbolisiert die Vereinigung von Liebe und Erkenntnis. Vollkommene Liebe ist vollkommene Weisheit. Weisheit ist der Maßstab der Liebe. Der Königssohn wartet immer auf die Seele, ist er doch von ihr in Wahrheit nicht getrennt, da er die höhere, göttliche Natur im Menschen ist. Entsprechend tanzt der Prinz im Märchen nur mit Aschenbrödel, der reinen Seele: das Unreine kann sich ihm nicht verbinden.

Im mystischen Sinne könnte das Fest am ersten Tage vielleicht als Geburt Christi im Menschenherzen verstanden werden, die Feier am zweiten Tage als Auferstehung und die Hochzeit am dritten Tage als Himmelfahrt der Seele, auf die es keine Notwendigkeit zur Wiedergeburt mehr gibt. Aus buddhistischer Überlieferung wissen wir, dass, wer Paranirvana erreicht hat, nicht wiederkommt, außer wenn er freiwillig auf höhere Entwicklungsstufen verzichtet und aus Liebe zur noch unerlösten Menschheit zurückkehrt, um ihr auf ihrem Pfade beizustehen (vgl. Stimme der Stille, Schluss des 3. Fragments).

Der Tod des Eigenwillens (der Stiefmutter) ist die Himmelfahrt der Seele. Wenn das Niedere stirbt, wird das Höhere frei.

Das Schicksal Aschenbrödels veranschaulicht in symbolischer Form Aspekte und Phasen unseres eigenen Lebens in seinen inkarnationsübergreifenden Entwicklungs- und Wandlungsprozessen. Es wird die Zeit kommen, dass jede Seele ihren Prinzen der Selbsterkenntnis finden und ihre Hochzeit mit ihm feiern wird.

Leicht gekürzt und redaktionell überarbeitet von Ch. Wegner

 


Autor: Hermann Rudolph