„Die Stimme der Stille"

H. P. Blavatsky
 
 
(Auszug)
 
Was soll ich tun, um Weisheit zu erlangen, was, um Vollendung zu gewinnen?
 
Suche die Pfade, aber laß dein Herz rein sein, ehe du die Wande­rung beginnst. Lerne, das Falsche vom Wahren, das ständig Fließende vom ewig Dauernden zu unterscheiden, ehe du den ersten Schritt tust. Vor allem lerne, äußeres Wissen von Seelenweisheit, die Lehre des „Auges" von der des „Herzens" zu trennen.
 
Wahrlich, Unwissenheit gleicht einem geschlossenen, luftleeren Gefäß; die Seele ist darin gleich einem Vogel gefangen. Weder Gesang noch Flügelschlag ist ihm möglich. Stumm und starr sitzt der Sänger da und stirbt vor Entkräftung.
 
Aber selbst Unwissenheit ist besser als bloß äußeres Wissen, das nicht von Seelenweisheit erleuchtet und geführt ist.
 
Die Samen der Weisheit können nicht in luftleerem Raum aufgehen und wachsen. Um zu leben und Erfahrungen zu sammeln, braucht das Gemüt Weite, Tiefe und Stützpunkte. Suche diese Stützen nicht im Reiche des äußeren Scheins. Erhebe dich über die Illusion, suche das ewige und unveränderliche SEIN, mißtraue den falschen Einflüsterungen der Einbildungskraft.
 
Denn der Verstand ist wie ein Spiegel, der Staub ansammelt, während er Licht und Schatten zurückwirft. Der sanfte Atem der Seelenweisheit ist nötig, um den Staub unserer Wahnvorstellungen hinwegzufegen. Suche, Verstand und Seele zu verschmelzen.
 
Meide Unwissenheit, doch meide ebenso das falsche Wissen. Wende ab dein Antlitz von den Täuschungen der Welt: mißtraue dei­nen Sinnen, denn sie trügen. Aber in deinem Körper, dem Schrein deiner Empfindungen, suche im Unpersönlichen den „Ewigen Men­schen"; hast du ihn gefunden, dann blicke nach innen: du bist ein Erleuchteter.
 
Meide das Lob. Lob führt zu Selbsttäuschung. Dein Körper ist nicht dein Ich, dein SELBST ist in sich ohne Körper, und weder Lob noch Tadel berühren es.
 
Selbstbeglückwünschung gleicht einem hohen Turm, darauf ein hochmütiger Narr geklettert ist. Da sitzt er nun in selbstüberheblicher Einsamkeit, von niemandem beachtet als von sich selber.
 
Falsches Lernen wird von den Weisen verworfen und durch das gute Gesetz in alle Winde zerstreut. Das Rad dieses Gesetzes dreht sich für alle, für die Demütigen und für die Stolzen. Die „Lehre des Auges" ist für die Menge, die „Lehre des Herzens" für die Aus­erwählten. Die einen sagen voll Eitelkeit: „Siehe, ich weiß." Die anderen, die in Demut gesammelt haben, bekennen leise: „So habe ich gehört."
 
Wahre Erkenntnis ist Mehl, falsches Wissen ist Spreu. Willst du vom Brote der Weisheit essen, dann knete dein Mehl mit den klaren Wassern der Unsterblichkeit. Wenn du aber Spreu mit dem Tau der Sinnestäuschung knetest, bereitest du nur Nahrung für die schwarzen Tauben des Todes, die Vögel von Geburt, Verfall und Leid.
 
Wenn dir gesagt wird, du müssest aufhören, alle Wesen zu lieben, um ein Weiser zu werden, so antworte, daß dies eine Lüge ist.
 
Wenn man dich lehrt, vom Tun werde Sünde geboren und Seligkeit nur von gänzlicher Untätigkeit, dann antworte, daß dies ein Irrtum ist. Das Aufhören jeglichen menschlichen Tuns, die Befreiung des Geistes von der Knechtschaft durch bloßes Abstandnehmen von Sünden und Fehlern ist nichts für sich wiederverkörpernde Egos.
 
Tätigkeit sowohl als auch Untätigkeit haben Platz in dir; dein Kör­per sei tätig, dein Verstand ruhig, deine Seele klar wie ein Gebirgssee.
 
Glaube nicht, daß in dunklen Wäldern zu sitzen, in selbstgefälliger Abgeschiedenheit und fern von Menschen von Wurzeln und Kräutern zu leben, den Durst zu stillen mit Schnee vom großen Gebirge, glaube du nicht, daß dich all dieses zum Ziel endgültiger Befreiung bringen wird.
 
Glaube nicht, daß deine Pflicht natürlich und menschlich erfüllt ist, wenn du die Sünden deiner grobstofflichen Form überwunden hast.
 
Die Seligen haben verabscheut, so zu handeln. Gautama Buddha verließ die süße, aber selbstsüchtige Ruhe der stillen Wildnis, sobald er die wahre Ursache des menschlichen Leides erkannt hatte. Aus einem Einsiedler wurde er zum Lehrer der Menschheit. Nachdem der Erleuchtete die Vollendung erlangt hatte, predigte er auf den Bergen, in den Tälern und in den Städten vor den Menschen. Zum Wohle der Menschheit zu leben ist der erste Schritt. Wenn aber die „Lehre des Herzens" dir zu hochfliegend erscheint, wenn du selbst der Hilfe be­darfst und es nicht wagst, anderen Hilfe anzubieten — dann laß dich beizeiten warnen: begnüge dich mit der „Augenlehre" des Gesetzes. Warte und hoffe. Denn wenn der „Geheime Pfad" dir „heute" auch noch unerreichbar sein mag, „morgen" wird er in der Reichweite deines Schrittes liegen. Wisse, daß keine Bemühung aus der Welt der Ursachen verschwinden kann. Selbst vergeudeter Rauch verschwindet nicht spurlos. Ein bitteres Wort, in vergangenen Leben gesprochen, wird nicht vernichtet, sondern kehrt wieder.
 
Du kannst am heutigen „Tage" die günstigen Gelegenheiten für dein „morgen" schaffen. Auf der „Großen Reise" zeitigt eine jede von den Ursachen, die stündlich gesät werden, ihre Wirkungen als Ernte, denn strenge Gerechtigkeit regiert die Welt. Der mächtige Schwung ihres niemals irrenden Wirkens bringt den Sterblichen Wiedergeburten in Glück oder Leid, die karmischen Erzeugnisse all ihrer früheren Gedanken und Taten.
 
Nimm denn soviel, als deine Verdienste für dich aufgespeichert haben. Sei guten Mutes und sei zufrieden mit deinem Schicksal. Es ist dein Karma, das Karma der Kette deiner Geburten, die Bestim­mung derer, die in Schmerz und Trübsal, lachend und weinend, zugleich mit dir von Leben zu Leben getragen werden, verkettet mit deinen früheren Taten.
 


Autor: H. P. Blavatsky