Yoga und Christentum oder die

Geheimlehre der christlichen Religion

Auszug
 
Dr. Franz Hartmann
 
Das Wort „Yoga" stimmt überein mit dem Worte „Religion" (von religere, lat. = zurückbinden) in seiner ursprünglichen und wahren Bedeutung. Beide Ausdrücke beziehen sich auf das unsichtbare Band, welches den Menschen mit Gott, d. h. die menschliche Erscheinung mit dem ihr zugrunde liegenden wahren göttlichen Wesen verbindet. Die wahre Religionslehre ist die Lehre, welche uns den richtigen Auf­schluß gibt über die Beziehungen, in welchen die Seele des Menschen zu ihrem eigenen göttlichen Ursprunge steht, welcher zugleich das höchste Endziel ihrer Bestrebungen ist, und sie gibt die Mittel an, wie der Mensch wieder zu dieser verlorengegangenen göttlichen Selbst­erkenntnis gelangen kann. Ob die moderne Religion dies tut, diese Frage mag sich jeder selbst beantworten.
 
Die Yoga-Lehre zeigt uns den Weg zum wahren Sein. Sie ist keine bloße Morallehre; sie rät dem Menschen, sein ewiges Leben nicht in einem anderen äußeren Menschen, sondern in sich selbst zu suchen und selbst zu diesem höheren ewigen Leben zu erwachen; sie ver­langt keinen blinden Glauben an diese oder jene Meinung, sondern das Aufgehenlassen der Erkenntnis im eigenen Innern. Die Religion des Alltagsmenschen, insofern sie nicht auf Aberglauben beruht, ist ein ethisches System. Sie gibt uns gewisse Regeln und Vorschriften und sucht uns durch Versprechungen und Drohungen zu bewegen, dieselben zu befolgen; sie appelliert an unsere Selbstsucht und unse­ren Eigennutz, an unsere Furcht vor persönlichem Nachteil im „Jenseits", geradeso wie das Strafgesetzbuch an unsere Furcht vor persönlichem Nachteil im „Diesseits" sich richtet, während alles dies der Yoga-Lehre geradezu entgegengesetzt ist; denn diese fordert völlige Selbstlosigkeit, völlige Freiheit von allen Begierden nach Belohnung oder Furcht vor Strafe, ein völliges selbstloses Aufgehen in Gott, in der Liebe zum Ganzen, welche die Selbsterkenntnis der Einheit im Ganzen ist, und sie verlangt dies nicht mit Berufung auf irgendein Versprechen oder eine Drohung, sondern sie gibt uns die wissenschaftlichen Gründe dafür an. Sie ist kein dogmatisches, künst­lich gemachtes Religionssystem und keine philosophische Spekula­tion. Sie stützt sich auf keine Theorien oder Schlußfolgerungen, Überlieferungen oder äußere „Offenbarungen" oder Mitteilungen von anderen; sie ist von niemandem ersonnen, verfertigt, erdacht oder erfunden; sie ist keines Menschen Werk, sondern eine hohe und heilige Wissenschaft, deren Grundlage die eigene Erfahrung und Selbsterkenntnis ist; sie hat nichts mit Visionen und Träumereien zu tun, sondern ist das Resultat von einem geistigen Erwachen zu einem höheren Bewußtsein, einer Auferstehung durch den „mystischen Tod" zu einer höheren Daseinsform.
 
Diese Yoga-Lehre bildet aber nicht nur das Wesen der indischen Weisheitslehre, sondern sie ist auch die Grundlage und der Gipfel­punkt alles wahren Christentums, wenn sie auch nur verhältnismäßig wenigen Theologen bekannt ist. Dasjenige, was die große Menge nicht fassen kann, ist für sie ein Geheimnis. Auch wurden die auf die tiefsten Wahrheiten der Religion sich beziehenden Lehren zu allen Zeiten als heilige Geheimnisse bewahrt und nur den Würdigen mit­geteilt; die Yoga-Lehre, die heiligste von allen, war stets nur den Eingeweihten bekannt. Sie wurde von den indischen und ägyptischen Priestern sorgfältig bewahrt; sie war die Grundlage der „Mysterien" der Griechen und Römer; sie ist in der „Geheimlehre" der Adepten enthalten; ihr Grundsatz aber ist, daß der Mensch und Gott eins in ihrem Wesen sind, und daß der Mensch, wenn er zur Gottes­erkenntnis gelangt, sich selber als Gott erkennt, oder wie es der christliche Mystiker Johann Scheffler (Angelus Silesius) ausdrückt:
Von Gott wird nichts erkannt, er ist ein einzig Ein;
was man von ihm erkennt, das muß man selber sein.
Dies ist freilich eine Lehre, die nicht jeder begreifen kann, und es ist auch heute noch bedenklich, sie jedermann mitzuteilen, da der Tor, welcher von Gotteserkenntnis nichts weiß und selber nichts in Wahrheit ist, sich dadurch in seinem Eigendünkel leicht hinreißen lassen könnte, sich einzubilden, daß er selber Gott sei. Deshalb finden sich Ermahnungen zur Verschwiegenheit in allen Schriften, die von der Yoga-Lehre handeln. Unter anderen sagt auch der Verfasser des Oupnekhat („Das zu wahrende Geheimnis"):
 
„Du sollst nicht in schlechter Gesellschaft sitzen und dieses Geheimnis dem aufdringen, welcher kein Verlangen danach hat, doch endloser Lohn wird dem zuteil werden, welcher, nachdem er sein Inneres und Äußeres rein gemacht hat, denen, welche die Wahrheit suchen, dieses Wissen mitteilt und es zu glücklicher Stunde auch dem Nichtsuchenden zu Gehör bringt." (Oupn., Kioni III)
 
Das Geheimnis der Sache liegt aber nicht sowohl darin, daß diese Lehre verheimlicht wird; denn in der Tat wird sie jedem, der reif dafür wird, von selbst offenbar, sobald er zur wahren Erkenntnis gelangt, sondern vielmehr darin, daß zu ihrem Verständnis eine höhere geistige Kraft als die gewöhnliche Gehirntätigkeit des im Finstern tastenden und nach Beweisen suchenden Weltgelehrten oder Theologen gehört.
 


Autor: Dr. Franz Hartmann