Bewußt leben

Renate Behrenbeck

Wenn man Ihnen die Frage stellen würde, ob Sie bewußt leben, wären Sie darüber wahrscheinlich sehr erstaunt und würden sicher spontan mit 'Ja' antworten. Ich glaube, wir sind alle fest davon überzeugt, vollbewußt hier zu sein und in jedem Augenblick alles aufzunehmen, was sich um uns tut. Aber tun wir das wirklich? Tun wir alles bewußt, sind unsere Gedanken immer voll auf das konzentriert, was wir gerade machen? Denken wir nur an unseren Tagesablauf. Morgens bereiten wir ganz mechanisch unser Früh­stück — ganz gleich, wie jeder frühstückt, ob konservativ mit Brötchen, Brot, Butter, Marmelade oder auch mit Müsli und Obst. Haben Sie dabei je darüber nachgedacht, wieviele fleißige Hände für Sie vorher tätig waren, damit Sie nun Ihr Frühstück zu sich nehmen können? Bevor das fertige Brot zum Einzelhändler kommt, mußte das Getreide gesät, geerntet und verarbeitet werden. Ebenso ist es mit dem Obst, das wir zu uns nehmen. Wenn es sich um Südfrüchte handelt, hat es meistens einen weiten Weg zurückgelegt, bis es bei uns ist, und mit dem Kaffee oder Tee, den wir trinken, ist es ähnlich. Nach dem Frühstück greifen viele zur Zeitung. Hunderte von Menschen waren beteiligt am Sammeln der Neuigkeiten, dem Redigieren, dem Drucken und Verbreiten des Blattes. Und sobald wir mit dem Lesen beginnen, werden unsere Gedanken in dieselbe Richtung gelenkt wie die von Tausenden anderen Menschen, die gerade dasselbe tun. Man kann also sagen, obwohl der Tag kaum begonnen hat, ist man indirekt mit Tausenden, ja vielleicht mit Millionen anderer Menschen verbunden.
 
Wenn wir andere Dinge kaufen, z. B. Textilien oder Porzellan, ist es dasselbe. Überall sind fleißige Hände nötig, ehe das Fertig­produkt vor uns liegt. Daraus folgt, daß manches Stück uns sofort anspricht. Wir sagen dann beim Betrachten: Es ist mit Liebe gemacht, und darum gefällt es uns besonders gut, während ein anderes von uns abgelehnt wird, weil es für uns keine gute Ausstrahlung hat. Denn nicht immer ist derjenige, der an der Herstellung beteiligt war, in guter Stimmung. Vielleicht hat er sich gerade geärgert oder fühlte sich nicht wohl, und schon werden diese unschönen Gedanken mit in das Stück eingearbeitet. Wir wissen aber, Gedanken sind Kräfte oder Energien, und da nichts verloren­geht, spüren wir ihre Ausstrahlung auch in diesen Dingen.
 
Als wir vor einiger Zeit unsere ungarischen Freunde in Budapest besuchten, hat mir so gut gefallen, als unsere Freundin uns erzählte: Wenn sie unterwegs ist und an einem Denkmal vom Grafen Râkóczi vorbeikommt, schickt sie ihm immer einen Gruß und bedankt sich bei ihm für alles, was er für das Land getan hat. Mich hat das sehr beeindruckt, denn wie gedankenlos gehen wir an einem Denkmal vorbei. Oft wissen wir nicht einmal, wen es darstellt, ganz ab­gesehen davon, daß wir demjenigen auch nicht einen Gedanken schenken, weil wir viel zu sehr mit unseren eigenen beschäftigt sind.
 
Wir nehmen also nicht bewußt auf, was um uns geschieht.
 
Können wir dann sagen, wir leben bewußt? Natürlich sind unsere Gedanken immer aktiv, oft vielleicht sogar zu aktiv, denn sie beschäftigen sich gewöhnlich mehr oder weniger intensiv mit den Alltagsdingen, z. B. was wir essen wollen, was wir noch besorgen müssen usw.. Und wer im Berufsleben steht, muß sich vielleicht mit Paragraphen oder sonstigen Bestimmungen plagen, so daß das Denken damit voll ausgefüllt ist. Natürlich sollen wir unsere Pflichten ordnungsgemäß und korrekt erfüllen. Trotzdem können wir unser Gehirn bzw. unser Denken so trainieren, daß wir jederzeit in einer anderen Welt zu Hause sind. Selbst wenn man von der täglichen Arbeit voll in Anspruch genommen wird, so bleiben doch kurze Augenblicke, in denen man das Denken in andere Bahnen lenken kann. Da kann schon ein Blick aus dem Fenster hilfreich sein, besonders, wenn er auf eine Grünanlage oder einen Park fällt, und man fühlt sich dann sofort mit der Natur verbunden. Man freut sich über einen schön gewachsenen Baum oder über Blumen, die zu sehen sind, oder auch über das Gezwitscher der Vögel. Diese Momente genügen oft, um mit neuer Kraft die unterbrochene Arbeit fortsetzen zu können. Es kommt ein neuer Gedanke, und man kann plötzlich das, was man vorher nicht recht zu lösen vermochte, nun 'spielend' zu Ende bringen.
 
Als Schüler der Theosophie wissen wir, daß alles aus Leben besteht, alles, was uns umgibt, was wir sehen, anfassen können, ist Leben schlechthin. Aber wann nehmen wir das bewußt auf? Für uns ist alles so selbstverständlich. Wir brauchen diese Dinge, und infolgedessen müssen sie uns zur Verfügung stehen. Wenn wir aber das, was Leben ist, einmal richtig erfaßt haben, sehen wir, daß alles miteinander verbunden ist, und wenn man diesem Gedanken weiter nachgeht, erkennen wir das irdische Leben mit seiner gesamten sozialen Struktur als Teil des lebendigen kosmischen Bewußtseins, das hinter allen Dingen steht.
 
Was es heißt, bewußt zu leben, ist wohl nur zu verstehen, wenn wir uns vergegenwärtigen, daß der Mensch eine siebenfältig zu­sammengesetzte Wesenheit ist, die wir in die "Höhere Triade" — den unsterblichen Teil — und die "Niedere Vierheit" — den ver­gänglichen Teil — aufteilen können. Jedes Prinzip und jedes Teil hat ein eigenes Bewußtsein, so auch unser Körper. Aber im Vergleich zu den anderen sechs Teilen unserer Konstitution ist er der niedrig­ste. Gehen wir also nur den Wünschen unseres Körpers nach, wird es uns kaum möglich sein, unser Bewußtsein zu erweitern. Um das zu erreichen, müssen wir unserem Denken eine andere Richtung geben. Der Körper ist nur das Haus, der sichtbare Ausdruck von den anderen sechs, uns nicht sichtbaren Prinzipien oder Teilen unseres Bewußtseinsstromes. Er repräsentiert das 'Ich bin Ich'. So muß also jeder selber entscheiden, wie er sein Leben gestalten will, was für ihn wichtig und wertvoll ist. Der gewöhnliche Mensch läßt sich meistens von seinen Neigungen und Wünschen leiten. Er lebt überwiegend im kâmischen1 Prinzip, das sind unsere Wünsche, Begierden und Triebe. Das kâmische Prinzip an sich aber ist neutral. Es wird erst jeweils von unseren Gedanken bzw. Wünschen gefärbt. Wenn wir selbstlose Wünsche haben, altruistisch denken und handeln, leben wir auf einer höheren Bewußtseinsstufe, als wenn wir nur unseren Neigungen und Trieben nachgehen. Wenn wir uns mit schönen Gedanken umgeben, schaffen wir uns eine andere Umgebung, als wenn wir nur voll Haß, Neid, Mißgunst und Eifersucht sind. Meister K. H. sagte einmal:
 
"Jeder Gedanke eines Menschen geht, sobald er entwickelt ist, in die inneren Welten über und wird zu einer tätigen Wesenheit, indem er sich mit einem Elemental2 verbindet — verschmilzt, könnte man sagen —, das heißt, mit einer der halbintelligenten Kräfte der Natur­reiche. Er lebt als eine aktive Intelligenz weiter — ein vom Verstand gezeugtes Geschöpf — für eine längere oder kürzere Periode, ent­sprechend der ursprünglichen Intensität der Gehirntätigkeit, die es erzeugte. Ein guter Gedanke wird als aktive, wohltätige Kraft ver­ewigt, ein böser Gedanke aber als ein übelwollender Dämon. So bevölkert der Mensch seinen Weg im Raum beständig mit einer selbstgeschaffenen Welt, angefüllt mit den Sprößlingen seiner Phantasien, Begierden, Impulse und Leidenschaften." — Mahatma Letters I-75/76.
 
Zeigt das nicht deutlich, in welche Richtung unsere Gedanken gehen sollten? Wir müssen also unterscheiden lernen, was wichtig ist und was nicht. Wenn wir uns hier auf Erden nur gut unterhalten wollen — wie man allgemein sagt —, Zerstreuungen suchen, die besonders in einer Großstadt so reichhaltig angeboten werden, dann leben wir nur für die äußeren Dinge. Es kann schon mal vor­kommen, daß man hinterher sagt, schade um die Zeit, die man damit vertan hat, die hätte man doch nützlicher verwenden können. In diesen Augenblicken nehmen wir unser wahres Selbst wahr, das Göttliche in uns. Es will uns bewußt machen, daß das wahre Leben ganz anders ist. Das zeigt sich nicht in den äußeren Dingen, die man nur als Betäubungsmittel für das wahre Selbst ansehen kann. Wir kennen viele unterschiedliche Religionssysteme, deren Gott oder Gottheit wir ein umfassenderes Bewußtsein zugestehen, ein Bewußtsein, das überall und in allem ist, und wenn das so ist, so muß sich auch der Mensch als Kind dieses Göttlichen bewußt werden, was er wirklich ist — und das heißt: er muß bewußt leben.
 
Es ist uns gesagt, daß sich alles aus Atomen zusammensetzt. Diese Atome werden von einem Lebensatom beseelt, und jedes Lebensatom ist eine sich entwickelnde Wesenheit. Der Mensch setzt sich aus zahllosen Scharen solcher Lebensatome zusammen, die sich auf unterschiedlichen Entwicklungsstufen befinden. Wir geben diesen kleinen, für uns kaum wahrnehmbaren Wesenheiten den Lebensraum. Wir sind ihr Hierarch, und es ist unsere Aufgabe, diesen Wesenheiten bei ihrer Evolution zu helfen. Wir sind für sie verantwortlich. Und ich glaube, jeder möchte ein guter Hierarch sein. Das zeigt uns, daß wir mit unserem Körper verantwortungs­bewußt umgehen müssen. Dazu gehört, daß wir ihn richtig pflegen, ihn mit richtiger Nahrung versorgen, damit er uns immer gute Dienste leisten kann, denn der Körper ist unser Pferd, auf dem wir reiten. Also müssen wir ihn gut behandeln und gewissenhaft für ihn sorgen. Wir nehmen das meistens alles so selbstverständlich hin, bis einmal etwas nicht mehr richtig funktioniert. Dann staunen wir und möchten am liebsten ein Pille nehmen, die sofort alles in Ordnung bringt, genauso, als wenn wir in einen Automaten einen Groschen stecken, damit er wieder läuft. Aber bei unserem Körper geht das leider nicht so auf Knopfdruck. Wir sollten uns immer bewußt sein, wie unendlich viele kleine Wesenheiten uns anvertraut sind und für uns arbeiten. Gewöhnlich sehen wir nur uns und schauen vielleicht noch mal nach oben, aber was unter uns und in uns ist, vergessen wir leicht. Zum bewußten Leben gehören aber alle Bereiche, denn eines ist ohne das andere nicht denkbar. Wir haben gehört, daß der Mensch eine zusammengesetzte Wesenheit ist, also müssen wir versuchen, auf allen Ebenen unseren Lebensatomen in ihrer Ent­wicklung zu helfen.
 
Das bedeutet, wir müssen die Zusammenhänge aller Dinge richtig erkennen. Dazu gehört auch, daß wir mit allem, was uns von 'Mutter Erde' anvertraut ist, achtsam und liebevoll umgehen. Wir sollten ihre Rohstoffe nicht unnötig vergeuden und keine Dishar­monie in der Natur verursachen, sondern versuchen, in Harmonie mit ihr zu leben, um so auch zu ihrer weiteren Entwicklung beizutragen. Dr. von Purucker zitierte einmal den Dichter Francis Thompson mit den Worten: "Du kannst nicht eine Blume berühren, ohne daß ein Stern erzittert." Wenn eine rasche und oft unbedachte Handlung schon von so weittragender Bedeutung ist, was tun wir dann oft sozusagen 'unbewußt', d. h. also, ohne daran zu denken, daß wir bewußt leben sollten? Wir brauchen gar nicht bis zu den Sternen zu gehen. Die vielen Dinge, die uns umgeben, sind dankbar, wenn wir sie nett behandeln, führen sie doch alle ein eigenständiges Leben. Wir sollten auch nicht vergessen, einmal 'Dankeschön' zu sagen, wenn uns die Elementale, die diese Dinge bewohnen, in irgendeiner Form geholfen haben. Wir tun das meist viel zu selten, obwohl es nur zwei Worte sind, die nicht einmal etwas kosten, und das in unserem materiell ausgerichteten Zeitalter, wo alles nur nach Geldwert bemessen wird. Und es sollten nicht nur Worte sein, sondern sie sollten auch von dem erfüllt sein, was sie aussagen. Das bewußte Leben im Alltag erfordert in jedem Moment Wachheit und konzentrierte Aufmerksamkeit für das, was wir gerade tun. Dann kommen wir allmählich auch dahin, wo die sind, die uns vorangegangen sind. Und wenn wir anfangen, alle unsere Handlungen bewußt vorzunehmen, wenn wir überlegen, ob es richtig ist, was wir gerade tun, ob wir auch nichts und niemand dadurch schädigen oder verletzen, dann fangen wir an, bewußt zu leben, und werden unser Bewußtsein dadurch immer weiter aus­dehnen. Sollte nicht jeder Mensch als sich entwickelnde Wesenheit bestrebt sein, ein solch bewußtes Leben zu führen, damit er in den folgenden Inkarnationen wieder einen kleinen Schritt auf der großen Lebensleiter vorankommt, um so vom Rad der Wiedergeburt einmal befreit zu werden?
 
Von Sokrates wird berichtet, daß er einmal einen Kreis in den Sand zeichnete und sagte: "Das Denken kleiner Menschen bewegt sich in kleinen Kreisen; das Denken großer Menschen bewegt sich in größeren Kreisen; das Denken der Götter vollzieht sich in Kreisen, die so groß sind, daß wir sie als solche nicht erkennen können: Der Kreisumfang ist zur Geraden geworden."
 
Es bestimmt also jeder Mensch jeden Tag, in welchem Kreis — ob in einem kleinen oder größeren — sich sein Bewußtsein bewegt.
 
Wenn aber die Götter ihr Denken in Kreisen bewegen, die so groß sind, daß wir sie als solche nicht mehr erkennen können, weil der Kreisumfang zur Geraden geworden ist, sollten wir dann nicht auch versuchen, dem nachzueifern und unser Bewußtsein soweit aus­zudehnen, daß aus dem Kreis scheinbar eine Gerade wird? Bedeutet das dann nicht, bewußt zu leben in jedem Augenblick, ganz gleich, was nötig ist zu tun, zu sagen oder zu entscheiden?
 
1 Kâma [sanskr.]: (tierische) Leidenschaft, sinnliche Begierde, Gelüst
 
2 Elemental [engl.]: elementals oder Erdgebundene, auch "Elementarwesen" genannt




  
 


Autor: Renate Behrenbeck