Zwei Naturen im Menschen

Krishna spricht:

Furchtlosigkeit und Herzensreinheit, Wille
Zum Streben nach der Freiheit, Liebesfülle
Für alles was da lebt. Ausdauer und Opfermut,
Zurückgezogenheit und Selbstbeherrschung,
Entsagung, Unschuld, Wahrheitsliebe, Güte,
Freigebigkeit, Barmherzigkeit, Geduld,
Bescheidenheit und Gleichmut, inn’re Ruhe,
Beständigkeit ein freudiges Gemüt,
Zornlosigkeit und Milde, Keuschheit, Stärke,
Verstandesklarheit und ein ruhig Herz;
Das sind die Eigenschaften aller Wesen,
Die himmlischer Geburt entgegengehen.
 
Zorn, Neid und Rohheit, Selbstvergötterung,
Dummheit, Eitelkeit und Heuchelei;
Dies sind die Zeichen der Unseligen,
Auf die das Schicksal der Dämonen wartet.
 
Die himmlische Geburt bringt Seligkeit;
Die andre führt zur Knechtschaft und zum Leid.
Doch traure deshalb nicht, o teurer Prinz!
Dir steht als Mensch der Weg zum Höchsten frei.
 
In jedem Menschen wohnen zwei Naturen:
Die göttliche und auch die tierische.
Die eine hab‘ ich dir bereits erklärt;
Vernimm nun die Beschaffenheit der zweiten:
Den Wesen, welchen den Dämonen gleichen,
ist nicht ihr Ursprung noch ihr Ziel bekannt.
Schlafwandlern gleichend leben sie, man findet
In ihnen weder Rechttun noch Verstand.
Sie sagen: „Diese Welt hat kein Gesetz
Der Ordnung, keine Wahrheit, keinen Herrn;
Sie ist aus blindem Ungefähr entstanden;
Des Daseins Zweck ist sinnlicher Genuss.“
Und diesem Irrtum folgend, handeln sie;
Denn unrein ist ihr Herz und das Gemüt
Verdunkelt, der Verstand verwirrt. So sind
Sie, die Verlorenen, der Fluch der Welt.
 
Sie geben unersättlichen Gelüsten
Sich hin und sind voll Zorn und Eitelkeit;
Vom Schein geblendet lieben sie die Täuschung
Und ihre Lebensweise ist verkehrt.
 
Die Lüge halten sie für wahr und lieben den
Den Irrtum, der zum Tode führt; sie kennen
Die Wahrheit nicht und opfern am Altare
Des Götzen ihres wahngebor’nen Selbsts.
 
Von vielerlei Verlockungen umstrickt,
Der Wollust, Torheit und dem Zorn ergeben,
Ist ihr Bestreben, Reichtum anzuhäufen,
Um ihre Lüste zu befriedigen.
 
Sie sprechen: „Dieses hab‘ ich heut erreicht,
Und jenes hoff‘ ich morgen zu gewinnen.
Der eine Wunsch ward heute mir erfüllt,
Den andern hoff‘ ich morgen zu erlangen.
 
Schon hab‘ ich heute diesen Feind bezwungen,
Und jenen hoff‘ ich morgen zu vernichten.
Ich bin ein Herr der Erde, ich bin stark
Und mächtig: ja! Mein Wille ist Gesetz;
Wir sind die Reichen und Hochwohlgebor’nen;
Wer lebt so flott und elegant wie wir?
Was uns belustigt, das genießen wir.“
 
So sprechen diese Wesen wahnbetört.
Vom Wirbelsturm der Leidenschaften stets
Im Kreis getrieben, und vom Netz des Irrtums
Umfangen, streben sie hinab und sinken
Hinunter in den eklen Höllenschlund.
 
Hochmütig, trotzig und besitzestrunken
Sind diese Wesen; ihr frommen Werke
Sind Heuchelei; sie opfern nur zum Scheine,
Und wertlos sind die Gaben, die sie bringen.
 
Der Selbstsucht und der Eitelkeit ergeben,
Starrsinnig und voll Hochmut, hassen sie,
Die Läst’rer, mich in ihren eignen Formen
Und in den Formen derer, die sie zeugen.
Verhasst und hassend, grausam, herzlos, schlecht,
So steh’n sie als der Menschheit Abschaum da;
Sie, die Unheiligen, Verlorenen
Verstoß ich in die Leiber der Dämonen.
Und vom Dämonenschoß geboren, geh‘n
Als Toren von Geburt sie zu Geburt;
So wandeln sie fortan den tiefsten Weg,
Bis sie zuletzt zu mir sich wieder wenden.
Der Hölle Tor ist dreifach; dreifach ist
Der Weg, der zu ihm führt: Die Wollust, Zorn
Und Geiz. Vermeide sie! Wer sie vermeidet,
Der geht den rechten Weg und findet Frieden.

 

Text: „Bhagavad Gita“, Übersetzung aus dem Englischen von Franz Hartmann, Schatzkammerverlag
Andere Übersetzungen:
Bhagavadgita, Robert Boxberger, Übersetzung aus dem Sanskrit, Reclam Heft 7874, 3,60 Euro
Bhagavad Gita, Jack Hawley (Hrsg.), Arkana/Goldmann TB 21607, 8,90 Euro