Blätter aus prähistorischer Zeit

Vorwort aus Band I der Geheimlehre
(Fortsetzung)
 
Helena Petrowna Blavatsky
 
Aus exoterischer Sicht sind die ältesten Religionen die indische, die ägyptische und der Mazdaismus - obwohl sie alle natürlich nur einer esoterischen Wurzel entsprungen sind. Als Folge oder Ergebnis dieser drei kommt dann die Religion der Chaldäer, die aber vollständig untergegangen ist, auch wenn die Archäologie sie heute in ihrer entstellten Form des Sabäismus wieder ans Licht gebracht hat. Es folgt, wenn wir einige Religionen vorerst übergehen, die später erwähnt werden sollen, die jüdische Religion, die, der Magie Babyloniens folgend, esoterisch in der Kabbala ihren Niederschlag gefunden hat. Exoterisch ist sie eine Sammlung allegorischer Legenden, festgehalten z.B. im ersten Buch Moses und dem restlichen Pentateuch. Aus der Sicht des Sohar enthalten die ersten vier Genesis-Kapitel die Fragmente einer höchst philosophischen Darstellung der Entstehungsgeschichte unserer Welt. Wenn man von diesen Fragmenten den symbolischen Schleier nicht lüftet, dann haben wir nichts als Ammenmärchen vor uns, ein Dorn im Fleisch von Wissenschaft und Logik, die offensichtlichen Auswirkungen von Karma. Dass die Rabbis tatenlos zusahen, als ihre heilige Schrift als Prolog für das Christentum benutzt wurde, war ihre grausame Rache, denn ihnen war die wirkliche Bedeutung des Pentateuch bekannt. Es war ihr stillschweigender Protest gegen diesen Raub, und die Vergeltung der Rabbis hat heute zweifellos ihre Auswirkungen in der biblischen Exegese der traditionellen Verfolger der Juden. Die bisher erwähnten exoterischen Glaubensrichtungen werden im weiteren Verlauf dieses Werkes vom Standpunkt der Universallehre betrachtet werden.
 
Der Okkulte Katechismus enthält folgende Fragen und Antworten:
Was ist das, was immer ist? - Raum, das ewige Upapâduka (wörtlich: elternlos). Was ist das, was immer war? - Der Keim in der Wurzel. Was ist das, was immer kommt und geht? - Der große Atem. Dann gibt es also drei ewige Prinzipien? - Nein, die drei sind eins. Das, was immer ist, ist eins, das, was immer war, ist eins, das, was immer Sein und Werden ist, ist auch eins: Und das ist Raum.
Erläutere, o Lanu. - Das Eine ist ein ungebrochener Kreis (Ring) ohne Peripherie, denn es ist nirgendwo und überall; das Eine ist die grenzenlose Fläche des Kreises, der einen Durchmesser nur in manvantarischen Perioden manifestiert. Das Eine ist der unteilbare Punkt, der nirgends gefunden, aber während dieser Perioden überall wahrgenommen wird. Es ist die Vertikale und die Horizontale, ist Vater und Mutter, ist Gipfel und Fundament des Vaters, die zwei äußersten Bereiche der Mutter, die in Wirklichkeit nirgends hinreichen, denn das Eine ist sowohl der Ring als auch die Ringe, die innerhalb des Rings sind. Licht in Dunkelheit und Dunkelheit im Licht: der ,Atem, der ewig ist". Es kommt von außen nach innen, und dann ist es überall und von innen nach außen, und dann ist es nirgendwo - d. i. Mâyâ 6, eines der Zentren7. Es dehnt sich aus und zieht sich zusammen (Ausatmen und Einatmen). Beim Ausdehnen ergießt sich die Mutter und verteilt sich, beim Zusammenziehen zieht sich die Mutter zurück und sammelt sich. So werden die Perioden der Evolution und der Auflösung erzeugt, Manvantara und Pralaya. Der Keim ist unsichtbar und feurig, die Wurzel (Fläche des Kreises) ist kühl, aber während der Evolution, im Manvantara, ist ihr Gewand kalt und strahlend. Heißer Atem ist der Vater, der die Nachkommen des vielgesichtigen Elements (heterogen) verschlingt und die Eingesichtigen (homogen) übrig lässt. Kühler Atem ist die Mutter, die sie empfängt, formt, hervorbringt, in ihren Schoß zurücknimmt, um sie neu zu formen in der Morgendämmerung (von Brahmâs Tag, dem Manvantara) ...
 
Zum besseren Verständnis sei erwähnt, dass der Okkultismus sieben kosmische Elemente kennt - vier rein physische, das teilmaterielle fünfte (Äther), das gegen Ende unserer vierten Runde in der Luft sichtbar wird und während der ganzen fünften alle anderen an Bedeutung überragt, und letztlich zwei weitere, die aber für das menschliche Wahrnehmungsvermögen bis jetzt noch völlig unerreichbar sind. Letztere werden aber im Verlauf der Sechsten und Siebten Menschheiten dieser Runde im menschlichen Vorstellungsvermögen als Vorahnung auftauchen und dann in den beiden folgenden Runden erkannt werden - eins in der sechsten und das andere in der siebten. Mit ihren zahllosen Teilelementen, von denen es weit mehr gibt, als der Wissenschaft bekannt sind, sind diese sieben Elemente nichts weiter als bedingte modifizierte Formen und Aspekte des einen einzigen Elements. Letzteres ist nicht Äther und auch nicht Âkâsha, sondern deren Quelle. Das fünfte, inzwischen von der Wissenschaft offen diskutierte Element ist nicht Sir Isaac Newtons hypothetischer „Ether", obwohl er wahrscheinlich diese Bezeichnung wählte, weil er einen Zusammenhang mit dem „Vater-Mutter" -Äther des Altertums vermutete. Newton wusste intuitiv, dass „die Natur in einem ständigen Kreislauf wirkt; sie erzeugt Flüssiges aus Festem, gebundene Dinge aus flüchtigen und flüchtige Dinge aus gebundenen, Feines aus Kompaktem und Kompaktes aus Feinem ... So könnte vielleicht alles aus Ether entstanden sein." (Hypot., 1675) Vergessen wir nicht, dass es in den veröffentlichen Stanzen nur um die Kosmogonie unseres eigenen Planetensystems und dessen sichtbare Umgebung nach einem solaren Pralaya geht. Die geheimen Lehren von der Evolution der Gesamtheit des Kosmos dürfen nicht preisgegeben werden, denn selbst die größten Geister unseres Zeitalters würden sie nicht verstehen, und sogar unter den größten Eingeweihten scheint es nur sehr wenige zu geben, die sich mit diesen Dingen spekulativ beschäftigen dürfen. Außerdem erklären die großen Lehrer offen, dass selbst von den höchsten Dhyâni-Chohans keiner über die Geheimnisse jenseits der Grenzen, die die Milliarden Sonnensysteme von der sogenannten „Zentralsonne" trennen, etwas erfahren konnte. Was hier veröffentlicht wird, bezieht sich also nur auf unseren sichtbaren Kosmos nach einer „Nacht Brahmâs".
 
Ehe die Leser sich nun mit der Lektüre der Stanzen aus dem Buch des Dzyan beschäftigt, die im Mittelpunkt dieses Werkes stehen, ist es unerlässlich, ihnen die wenigen grundlegenden Konzepte zu erläutern, die das gesamte Gedankengebäude, das ihnen hier dargeboten wird, bestimmen und befruchten. Da es nur um wenige Grundideen geht, die ohne Einschränkung begriffen werden müssen, wenn alles Folgende verständlich sein soll, muss
die Autorin sich nicht entschuldigen für ihre Bitte an den Leser, sich mit diesen Konzepten vertraut zu machen, ehe er mit dem Studium des Werkes beginnt.
 
Die Geheimlehre stellt drei fundamentale Lehrsätze auf:
 
a) Die Existenz eines allgegenwärtigen, ewigen, grenzenlosen und unveränderlichen Prinzips;
b) Die Ewigkeit und die Unbegrenztheit des Universums in toto;
c) Die grundlegende Identität aller Seelen und der universalen Überseele.
 
a) Ein allgegenwärtiges, ewiges, grenzenloses und unveränderliches PRINZIP, das sich jeder Spekulation entzieht, weil es die Kraft des menschlichen Vorstellungsvermögens übersteigt und durch jeden menschlichen Darstellungsversuch und Vergleich nur herabgesetzt würde. Es ist jenseits aller gedanklichen Reichweite - ist in den Worten der Mândûkya--Upanischad „unausdenkbar und unaussprechlich".
 
Damit dem Leser diese Ideen verständlicher werden, möge er sich anfangs eine absolute Wirklichkeit vorstellen, die vor jedem manifestierten, bedingten Sein existiert. Dieser unendliche und ewige Ursprung - in der derzeitigen europäischen Philosophie schwach wiedergegeben als das „Unbewusste" und „Unergründliche" -, ist die wurzellose Wurzel von „allem, das war, ist oder je sein wird". Dieser Ursprung ist natürlich eigenschaftslos und wesentlich ohne jede Beziehung zum manifestierten, endlichen Sein. Er ist eher „Seinheit" als Sein (Sanskrit Sat) und jenseits von Denkbarkeit und Spekulation.
 
Diese „Seinheit" wird in der Geheimlehre unter zwei Aspekten symbolisiert: einerseits als absoluter abstrakter Raum, der reine Subjektivität repräsentiert - das ist etwas, das der Verstand des Menschen weder als Begriff ausschließen, noch sich aus sich selbst heraus vorstellen kann. Andererseits ist sie als absolute abstrakte Bewegung symbolisiert, wodurch ein nicht bedingtes Bewusstsein repräsentiert wird. Selbst unsere westlichen Denker haben bewiesen, dass Bewusstsein ohne Veränderung unvorstellbar ist, und dass Veränderung durch Bewegung, ihre wesentliche Eigenschaft, am besten symbolisiert wird. Diese letztere Eigenschaft der Einen Wirklichkeit wird außerdem durch den Begriff „Der große Atem" bildhaft gemacht - ein Symbol, das so anschaulich ist, dass es keiner weiteren Erklärung bedarf. So wird also das erste Grundaxiom der Geheimlehre, das metaphysische EINE ABSOLUTE - DIE SEINHEIT - von der begrenzten Intelligenz theologisch als Dreieinigkeit symbolisiert.
 
Parabrahman (die Eine Wirklichkeit, das Absolute) ist der Bereich absoluten Bewusstseins, d. h. jener Wesenskern, der ohne jede Beziehung zur bedingten Existenz ist, und wovon bewusste Existenz ein bedingtes Symbol ist. Aber sobald wir uns gedanklich von dieser (für uns) absoluten Negation entfernen, tauchen wir ein in die durch den Kontrast von Geist (oder Bewusstsein) und Materie, von Subjekt und Objekt bestimmte Welt der Dualität. Geist (oder Bewusstsein) und Materie dürfen aber nicht als unabhängige Realitäten aufgefasst werden, sondern als die beiden Seiten oder Aspekte des Absoluten (Parabrahman), die die Grundlage des bedingten, subjektiven und objektiven Seins sind.
 
Betrachtet man diese metaphysische Dreiheit als die Wurzel, aus der jede Manifestation hervorgeht, so nimmt der große Atem die Wesensmerkmale präkosmischer Ideation an. Er ist fons et origo jeglicher Energie und allen individuellen Bewusstseins und ist wegweisende Intelligenz in dem riesigen Entwurf kosmischer Evolution. Mûlaprakriti, die präkosmische Wurzelsubstanz, dagegen ist der Aspekt des Absoluten, der allen objektiven Bereichen der Natur zugrunde liegt.
 
Ebenso wie präkosmische Ideation Wurzel allen individuellen Bewusstseins ist, ist also präkosmische Substanz Grundlage aller Materie in ihren verschiedenen Differenzierungsgraden.
 
Aus dem Gesagten wird deutlich, dass der Kontrast dieser beiden Aspekte des Absoluten Voraussetzung für die Existenz des „manifestierten Universums" ist. Ohne kosmische Substanz könnte kosmische Ideation nicht als individuelles Bewusstsein manifest werden, denn nur durch eine stoffliche Grundlage kann Bewusstsein als das „Ich bin ich" hervorkommen. Denn es bedarf einer physischen Basis, um auf einer gewissen Komplexitätsstufe einen Strahl des Universalgeistes zu aktivieren und ihm Richtung zu geben. Nochmals sei erwähnt, dass kosmische Substanz also ohne kosmische Ideation eine leere Abstraktion bliebe und dass deshalb kein Bewusstsein entstehen könnte.
 
Somit ist Dualität überall im manifestierten Universum vorhanden, denn sie ist sozusagen essentielle Voraussetzung für dessen EX-istenz als „Manifestation". Den Positionen von Subjekt und Objekt oder Geist und Materie gleich, die zwar polarisiert, aber doch nur zwei Aspekte der sie zur Synthese bringenden Einen Einheit sind, gibt es auch im manifestierten Universum ein „Etwas", das Geist mit Materie und Subjekt mit Objekt verbindet. Dieses der westlichen Philosophie bislang unbekannte „Etwas" wird im okkultistischen Sprachgebrauch Fohat genannt. Fohat ist die „Brücke", über die im
„göttlichen Denken" existierende „Ideen" sich der kosmischen Substanz als „Gesetze der Natur" einprägen. Fohat ist somit die dynamische Energie der kosmischen Ideation oder, anders ausgedrückt, ist das intelligente Medium, die lenkende Kraft aller Manifestation, ist das über die Dhyâni-Chohans (in der christlichen Theologie sind dies die Erzengel, Seraphim, etc.), die Architekten der greifbaren Welt übermittelte und manifestierte „göttliche Denken". Unser Bewusstsein geht also hervor aus dem Geist, der kosmischen Ideation, und aus der kosmischen Substanz kommen die verschiedenen Gefäße, in welchen dieses Bewusstsein individualisiert und zu reflektivem Bewusstsein, d. h. zu Selbstbewusstsein wird. In seinen verschiedenen Manifestationen ist Fohat das geheimnisvolle Bindeglied zwischen Geist und Materie, das beseelende, jedes Atom zum Leben bringende Prinzip.
 
Die folgende Zusammenfassung soll dem Leser eine klarere Vorstellung geben:
 
1. DAS ABSOLUTE, das Parabrahman des Vedânta, die eine Wirklichkeit, SAT, die - wie Hegel sagt - sowohl absolutes Sein als auch Nichtsein ist.
2. Die erste Manifestation, der unpersönliche, philosophisch ausgedrückt: nicht manifestierte Logos, der Vorläufer des „manifestierten". Dies ist die „erste Ursache", das „Unbewusste" der westlichen Pantheisten.
3. Geist-Materie, LEBEN; der „Geist des Universums, Purusha und Prakriti, der zweite Logos.
4. Kosmische Ideation, MAHAT oder Intelligenz, die universale Weltseele; das kosmische Noumenon der Materie, die Basis für alles intelligente Wirken in und seitens der Natur, auch MAHÂ-BUDDHI genannt.
Die EINE WIRKLICHKEIT und ihre zwei Aspekte im bedingten Universum.
 
(Schluss folgt.)
 
 6 Weil die esoterische Philosophie jedes endliche Ding als Mâyâ (d. h. auf Nichtwissen beruhende Illusion) betrachtet, sieht sie logischerweise jeden innerkosmischen Planeten oder Körper genauso, nämlich als etwas Strukturiertes und daher Endliches. Der mit „Es kommt von außen nach innen" beginnende Satz bezieht sich in der ersten Satzhälfte also auf die Morgendämmerung der mahâmanvantarischen Periode, d. h. auf die große Neuentwicklung nach einer der vollständigen periodischen Auflösungen einer jeden zusammengesetzten Form in der Natur (vom Planeten bis zum Molekül) in ihr ursprüngliches Wesen oder Element. Der zweite Teil des Satzes betrifft ein partielles oder lokales Manvantara, das ein solares oder sogar ein planetarisches sein kann.
 
7 „Zentrum" bedeutet Energiezentrum oder kosmischer Brennpunkt. Wenn die „Schöpfung" oder Gestaltung eines Planeten von jener Kraft ausgeht, die im Okkultismus LEBEN und von der Wissenschaft Energie genannt wird, ist das ein Vorgang von innen nach außen, wobei jedes Atom die schöpferische Energie des göttlichen Atems in sich trägt. Während also nach einem absoluten Pralaya, in welchem das präexistente Material nur aus EINEM Element besteht, und ATEM, der „überall" ist, von innen nach außen wirkt, beginnt nach einem kleinen Pralaya - in dem alles in statu quo, sozusagen in einem eingefrorenen, dem Mond ähnlichen Zustand verharrt - die Wiederauferstehung des oder der Planeten zum Leben von innen nach außen.
 
ÜBERSETZUNGEN; insbesondere von Texten über Bereiche jenseits menschlichen Vorstellungevermögens, sind Versuche, dem Gemeinten so nahe wie möglich zu kommen. Auch wenn einem der ursprüngliche Text vorliegt, ist es oft hilfreich, verschiedene Übersetzungen zu vergleichen (worauf wir schon in Fußnote 19 zu Seite 25 in Heft 1 dieses Jahrganges hinwiesen). Hier machen wir auf das Wort „zusammengesetzt" (s. Fußnote 6 zu S. 60) aufmerksam, für welches in der Troemelschen Übersetzung „konstruiert" steht. — Auch Passagen auf Seiten 59 (Mitte) und 62 (Mitte) lohnen genauen Vergleich! (Red.)
 


Autor: Helena Petrowna Blavatsky