Blätter aus prähistorischer Zeit

Vorwort aus Band I der Geheimlehre

(Schluss)

 
Helena Petrowna Blavatsky
Weiterhin postuliert die Geheimlehre:
b) Die Ewigkeit und die Unbegrenztheit des Universums in toto, einen
periodisch auftretenden „Spielplatz zahlloser Universen, die sich unaufhör­lich manifestieren und auflösen", „manifestierende Sterne" und „Funken der Ewigkeit" genannt. „Die Ewigkeit des Pilgers"1 ist wie ein Funkeln des Auges der Selbst-Existenz (Buch des Dzyan). „Das Erscheinen und Ver­schwinden von Welten gleicht dem Kommen und Gehen von Ebbe und Flut." (Siehe Teil II: „Die Tage und Nächte Brahmâs").
 
Diese zweite Behauptung der Geheimlehre stellt die absolute Universali­tät des Gesetzes der Periodizität fest, von Kommen und Gehen, von Ebbe und Flut - Dinge, die auch die Naturwissenschaft überall in der Natur bemerkt und akzeptiert hat. Die wechselseitige Folge von Tag und Nacht, Leben und Tod, Schlaf und Wachsein etc. ist eine so alltägliche Realität, so vollkommen allumfassend und ohne Ausnahme, dass offensichtlich ist, weshalb wir hier von einem absolut fundamentalen Gesetz des Universums sprechen.
Darüber hinaus postuliert die Geheimlehre:
c) Die grundsätzliche Identität aller Seelen und der universalen Überseele (diese ist selbst ein Aspekt der unbekannten Wurzel) sowie die obligatori­sche Pilgerfahrt jeder Seele (die ein Funken der Überseele ist) durch den Inkarnationszyklus, die „Notwendigkeit", während seiner ganzen Dauer, ent­sprechend dem zyklischen und karmischen Gesetz. In anderen Worten, keine rein spirituelle Buddhi (göttliche Seele) kann unabhängig (bewusst) existie­ren, ehe der aus der reinen Essenz des universalen sechsten Prinzips (der Überseele) hervorgetretene Funken (a) jede Elementalform der phänome­nalen Welt des jeweiligen Manvantaras durchschritten und (b) Individualität erlangt hat - zuerst durch natürlichen Impuls und dann durch eigenes, selbst herbeigeführtes und selbst erdachtes Bemühen (im Rahmen seines Karma [im englischen Text: checked by its Karma]). So durchläuft sie alle Intelligenz­grade, vom niedrigsten bis zum höchsten Manas, vom Mineral- und Pflan­zenbereich bis hinauf zum heiligsten Erzengel (Dhyâni-Buddha). Die zentrale Lehre der Esoterischen Philosophie schließt Privilegien oder beson­dere Begabungen des Menschen aus, bis auf solche, die sein eigenes Ego durch persönliches Bemühen und als verdiente Werte in einer langen Reihe von Metempsychosen und Reinkarnationen gewonnen hat. Deshalb sagt der Hinduismus, dass das All sowohl Brahman als auch Brahma ist, denn Brahman ist in jedem Atom unseres Universums, wo die sechs Prinzipien in der Natur alle das Resultat, d. h. die unterschiedlich differenzierten Aspekte des SIEBTEN und des EINEN sind, der einzigen Wirklichkeit im Universum -im kosmischen wie im mikrokosmischen Universum. Das ist auch der Grund, weshalb die auf der Manifestations- und Formebene stattfindenden psychischen, spirituellen und physischen Veränderungen des SECHSTEN (Brahmâ, das Werkzeug von Brahman) in der Antiphrase der Metaphysik als illusorisch und mâyâvisch bezeichnet werden. Denn obwohl die Wurzel eines jeden individuellen Atoms und jeder kollektiven Gestaltung das siebte Prinzip, also die Eine Wirklichkeit ist, ist letztere in ihrer manifestierten dinglichen und zeitlichen Erscheinung nicht mehr als eine flüchtige Illusion unserer Sinne.
 
In seiner Absolutheit ist das Eine Prinzip in seinen beiden Aspekten (Parabrahman und Mulaprakriti) geschlechtslos, unbedingt und ewig. Auch seine periodische (manvantarische) Emanation oder ursprüngliche Ausstrah­lung ist Eins, androgyn und phänomenal, also endlich. Und alle aus dieser ursprünglichen Ausstrahlung dann entstehenden Strahlungen sind ebenfalls androgyn, werden aber männliche und weibliche Prinzipien in ihren niedri­geren Aspekten.
 
Das erste, was nach einem großen oder kleineren Pralaya (letzteres belässt die Welten in statu quo2) wiedererwacht zum aktiven Leben, ist der Âkâsha, Vater-Mutter, Geist und Seele des Äthers, d.h. der Oberflächenbe­reich des Kreises. Vor seiner kosmischen Aktivierung wird Raum als „Mut­ter" bezeichnet und zu Beginn seines Wiedererwachens „Vater-Mutter" [...]
 
Soweit die Grundlagengedanken, auf denen die Geheimlehre beruht. Beweise für die Richtigkeit der in ihnen enthaltenen Einsichten anzuführen, würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen. Ebenso ist es nicht möglich, hier zu zeigen, dass sie in jedem philosophischen System, das diese Bezeichnung verdient, enthalten sind - wenn auch allzu oft in irreführender Form.
 
Sobald die Leser diese Grundkonzepte verstanden und folglich eingese­hen haben, dass sie alle Probleme des Lebens berühren und erhellen, werden auch keine weiteren Rechtfertigungen nötig sein, denn ihr Wahrheitsgehalt wird ihnen sonnenklar vor Augen stehen. Deshalb werde ich nun mit einigen Erläuterungen zu den in diesem Werk enthaltenen Stanzen fortfahren. Ich tue dies in der Hoffnung, damit die Aufgabe des Lernenden in einem allgemei­nen Überblick, der die Grundzüge ihres Inhalts in wenigen Worten erklärt, etwas zu erleichtern.
 
Die in den Stanzen aufgezeichnete Geschichte der kosmischen Evolution ist sozusagen die abstrakte algebraische Formel dieser Evolution. Die Leser dürfen deshalb hier nicht eine Aufstellung aller Stufen und Transformationen erwarten, die zwischen den ersten Anfängen der „universalen" Evolution und unserem gegenwärtigen Zustand liegen. Eine solche Aufzählung wäre ebenso unmöglich wie unverständlich für Menschen, die noch nicht einmal in der Lage sind, das Wesen jenes Existenzbereichs zu verstehen, der ihrem eigenen Bereich, auf den ihr Bewusstsein zur Zeit beschränkt ist, am nächsten liegt.
 
Die Stanzen enthalten also eine abstrakte Formel, die - mutatis mutandis - auf jede Evolution anwendbar ist: auf die Entwicklung unserer winzigen Erde ebenso wie auf die des Planetensystems, zu dem diese Erde gehört, bis hin zum solaren Universum, dem dieses Planetensystem angehört - und so fort in aufsteigender Reihenfolge, bis zur Erschöpfung unserer Vorstellungs­kraft.
 
Die sieben Stanzen des ersten Buches („Kosmogenesis") repräsentieren die sieben Begriffe dieser abstrakten Formel. Sie behandeln und beschreiben die sieben großen Stufen des Evolutionsprozesses, die in den Purânas als die „sieben Schöpfungen" und in der Bibel als die „Tage" der Schöpfung erwähnt werden.
 
Die erste Stanze beschreibt den Zustand des EINEN ALLS im Pralaya vor der ersten Bewegung neuerwachender Manifestation. Dass ein solcher Zustand nur symbolisch dargestellt, nicht aber beschrieben werden kann, bedarf keiner langen Überlegung. Auch kann er nicht anders als im Negativen symbolisiert werden, denn da es sich um den Zustand von Absolutheit per se handelt, treffen auf ihn keine jener spezifischen positiven Attribute zu, die wir normalerweise benutzen, um die Welt, in der wir leben, zu beschreiben. Man kann also jenen Zustand nur andeuten durch Benutzung der Negativform all der extrem abstrakten Eigenschaften, die der Mensch als äußerste, mit seinem Vorstellungsvermögen gerade noch erreichbaren Gren­zen mehr erfühlen als begrifflich verstehen kann.
 
Die zweite Stanze beschreibt einen Zustand, der für westliche Begriffe praktisch so gleichbedeutend mit dem in der ersten Stanze ist, dass eine ganze Abhandlung nötig wäre, um die Feinheiten des vorhandenen Unter­schieds zu vermitteln. Es bleibt also der Intuition und den höheren geistigen Fähigkeiten der Leser überlassen, den Sinn der allegorischen Ausdrucks­weise so weit wie möglich zu erfassen. Und es darf in der Tat nicht vergessen werden, dass die Stanzen sich viel mehr an die innere Aufnahmefähigkeit des Menschen wenden als an seinen alltäglichen Verstand.
 
In der dritten Stanze wird das Wiedererwachen des Universums zum Leben nach dem Pralaya beschrieben. Sie entwirft ein Bild vom Hervorkom­men der „Monaden" aus ihrer Versunkenheit im Innern des EINEN. Es ist dies die früheste und höchste Stufe in der Formierung von „Welten", und der Ausdruck Monade kann gleichermaßen für das gewaltigste Sonnensystem und das kleinste Atom verwendet werden.
 
Die vierte Stanze zeigt den Ablauf des Differenzierungsprozesses des „Keims" des Universums zur siebenfachen Hierarchie bewusster göttlicher Mächte, den aktiven Manifestationen der Einen Höchsten Energie. Sie sind die Rahmengebenden und Formenden, sind letztendlich die Schöpfer des gesamten manifestierten Universums - Schöpfer im einzig richtigen Sinn des Wortes. Sie sind die intelligenten Wesen, die das Universum beleben und leiten, die der Evolution Ordnung und Richtung geben. Sie selbst sind Mani­festationen des EINEN GESETZES, welches wir unter der Bezeichnung „Naturgesetze" kennen. Sie sind unter dem Sammelbegriff „Dhyâni-Chohans" bekannt, obwohl jede einzelne der verschiedenen Gruppierungen ihre eigene Bezeichnung hat.
 
In der indischen Mythologie wird diese Evolutionsstufe „Erschaffung" der Götter genannt.
 
Die fünfte Stanze beschreibt den Vorgang der Weltgestaltung. Zuerst ausbreitende kosmische Materie, dann der „feurige Wirbelwind", die erste Stufe in der Formung eines kosmischen Gasnebels. Dieser Gasnebel konden­siert und wird nach mehreren Transformationen entweder ein solares Univer­sum oder ein Planetensystem oder ein einzelner Planet.
 
Die weiteren Formationsstufen einer „Welt" werden in der sechsten Stan­ze angedeutet, in der die Evolution einer solchen Welt bis zu ihrer vierten großen Periode weitergeführt wird, welche der Periode entspricht, in der wir zur Zeit leben.
 
In der siebten Stanze wird der Abstieg des Lebens bis hin zum Erscheinen des Menschen fortgeführt. Und damit endet das erste Buch der Geheim­lehre .
 
Die Entwicklungsgeschichte des „Menschen", von seinem ersten Auf­treten auf dieser Erde in dieser Runde bis zu seinem jetzigen Zustand, ist das Thema des zweiten Buches.
 
Die Stanzen, die als Thesen der einzelnen Abschnitte jeweils am Anfang stehen, werden ausschließlich in einer zeitgemäßen, unserem Sprachgebrauch angepassten Übersetzung wiedergegeben, denn es wäre schlechterdings un­möglich und würde auch dem Verständnis nicht dienen, die archaische Ausdrucksweise des Originals mit all seinen verwirrenden Wortkonstruk­tionen einzubringen. Angeführt werden ins Chinesische, Tibetische und Sanskrit übertragene Fassungen von Auszügen aus den im Original im Senzar geschriebenen Kommentaren und Anmerkungen zum Buch des Dzyan. Sie werden hier erstmalig in einer europäischen Sprache wiedergegeben. Es ist beinahe überflüssig zu erwähnen, dass wir nur Teile der sieben Stanzen veröffentlichen, denn komplett würden sie niemandem außer ein paar höher entwickelten Okkultisten verständlich sein. Auch ist es unnötig, den Lesern zu versichern, dass die Autorin, oder besser: die bescheidene Berichterstat­terin, diese untersagten [engl.: forbidden] Textpassagen ebenso wenig wie je­der andere Laie versteht. Um die Lektüre zu erleichtern und Anmerkungen und Fußnoten auf ein Minimum zu beschränken, wurde es für richtig erach­tet, Texte und erläuternde Kommentare miteinander zu verbinden, wobei der Benutzung von tibetischen und Sanskrit-Eigennamen und Sachbezeichnun­gen immer dann der Vorzug gegeben wurde, wenn dies zum besseren Verständnis unvermeidbar erschien. Dies um so mehr, als die erwähnten Ausdrücke ausnahmslos als Synonyme anerkannt und die Originale nur zwischen Meister und Chela (Jünger) gebräuchlich sind.
 
Da dieses Werk nicht für philologische Zwecke, sondern als Lehrbuch für Studenten des Okkultismus konzipiert wurde, haben wir Bezeichnungen aus fremden Sprachen vermieden, soweit das möglich war. Nur übersetzbare und ohne Erklärung unverständliche Ausdrücke wurden beibehalten, aber in ih­ren Sanskritformen wiedergegeben. Es sind dies fast immer spät entwickelte Formen dieser späteren Sprache, die zur Fünften Menschheit gehören. Sanskrit, wie wir es jetzt kennen, wurde von den Atlantiern nicht gespro­chen, und die meisten der philosophischen Ausdrücke der indischen Systeme der nach-mahâbhâratischen Periode gibt es nicht in den Vedas, und es gibt sie auch nicht in den ursprünglichen Stanzen, wohl aber Wörter, die ihren Bedeutungen entsprechen.
 
Nochmals sei gesagt, dass die Leser, wenn sie wollen, alles nun folgende als Märchen abtun können - vielleicht als noch unbewiesene Spekulationen von Träumenden oder, schlimmstenfalls, als eine weitere unter den vielen aktuellen oder bereits wieder aufgegebenen wissenschaftlichen Hypothesen aus Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft. Auf keinen Fall jedoch ist es wertloser als viele Theorien der Wissenschaft, jedenfalls ist es philosophi­scher und wahrscheinlicher.
 
H. P. Blavatsky, Die Geheimlehre, Adyar Studienausgabe
 
1 „Pilger" ist eine Bezeichnung für unsere Monade(die zwei in einem), während sie ihren Inkarnationszyklus durchläuft. Weil sie untrennbarer, integraler Teil des Ganzen, des Universalgeistes ist, von dem sie ausstrahlt und von dem sie am Ende des Zyklus wieder absorbiert wird, ist die Monade das einzige unsterbliche und ewige Prinzip in uns. Wenn gesagt wird, sie strahle von dem Einen Geist aus, dann wird damit eine etwas umständliche, ja unkorrekte Bezeichnung benutzt, weil in unserer Sprache passende Ausdrucksmöglichkeiten einfach nicht vorhanden sind. Im Vedânta heißt es Sûtrâtman (Schnur-Seele), aber die vedantische Erläuterung unterscheidet sich etwas von der des Okkultismus. Wir müssen es den Vedântins überlassen, den Unterschied zu erklären.
 
2 Nicht die physischen Organismen verharren in statu quo während der großen kosmi­schen oder gar solaren Pralayas, und noch viel weniger deren psychische Prinzipien, sondern nur ihre astralen oder im Âkâsha festgehaltenen „Fotografien". Aber sobald die „Nacht" während der kleineren Pralayas angebrochen ist, bleiben die Planeten zwar intakt, sind aber tot - ähnlich den im Polareis gefangenen und eingefrorenen Riesentieren, die Jahrtausende unverändert erhalten bleiben.




  
 


Autor: Helena Petrowna Blavatsky