Christian Wagner –

Eine Lerche unter lauter Spatzen

Stefanie Walter

Einleitung

Ein schwäbischer Kleinbauer des späten 19. Jahrhunderts, von Schulden zeit seines Lebens gedrückt, dem die erste Frau und die gemeinsamen vier Kinder früh versterben. Den seine kleine Landwirtschaft mehr schlecht als recht ernährt und der sich deswegen als Tagelöhner, Holzfäller und beim Bau der Eisenbahn verdingen muss. Das ist Christian Wagner.
 
In seinem Heimatdörfchen Warmbronn bei Leonberg ist er ein immer belächelter und unverstandener Außenseiter, der seine Tiere nicht an den Metzger verkauft, der sich für den Erhalt eines Birkenwäldchens einsetzt, zur Mast bestimmte Gänse für viel Geld, welches er nicht besitzt, freikauft und zu allem Überfluss auch noch meint, zum Dichter berufen zu sein. Das ist Christian Wagner.
 
Ein genialer Autodidakt, der ohne höhere Schulbildung wunderbare Gedichte schreibt, die Anklang in den höchsten literarischen Kreisen der damaligen Zeit
finden. Ein Seher, der die „Schonung alles Lebendigen“ predigt und gegen alle Widerstände auch lebt, der sich dem Umwelt- und Tierschutz zu einer Zeit verschrieben hat, in welcher diese Ideen nur von den wenigsten geteilt und überhaupt verstanden wurden. Das ist Christian Wagner.
 
Ein Mensch, der an die Wiedergeburt glaubt, ohne die Lehren des Buddhismus gekannt zu haben, ein Weiser, welcher die ihn umgebende Natur als beseelt begreift und verehrt. Ein überaus ungewöhnlicher Mensch mit starken Überzeugungen und Idealen. Überzeugungen, die er lebt und verbreitet, obwohl sein Leben ohne diese Ideale wahrscheinlich ein einfacheres gewesen wäre. Ein
Außenseiter und Wunderling, ein begnadeter Naturlyriker, für einige ein wirklich weiser Denker und Mystiker, der seiner Zeit weit voraus gewesen ist. Das ist Christian Wagner.
 
Authentisch und echt ist er in jedem Fall, ohne sich je als Guru zu stilisieren. Ein Mann mit einer noch heute überaus aktuellen Botschaft, die da lautet: Alles Lebendige, die Natur, die Pflanzen und nicht zuletzt die Tiere zu schonen. In jedem Tier das Mitwesen zu erkennen und zu achten und in jeder kleinen unscheinbaren Blume am Wegesrand die Seele längst von uns Gegangener zu erkennen. Auch und vielleicht gerade das war und ist Christian Wagner. Eine Lerche unter lauter Spatzen.1
 

Kindheit und Jugend

Am 5. August 1835 wird Christian Friedrich Wagner in Warmbronn (heute ein Stadtteil von Leonberg) geboren. Er ist das einzige Kind seiner Eltern. Der Vater ist eigentlich Schreiner von Beruf, doch es gibt im Dörfchen nicht genug Arbeit für ihn, um seine Familie zu ernähren, so dass er nebenbei eine kleine Landwirtschaft betreibt. Trotzdem lebt die Familie in sehr ärmlichen Verhältnissen.2
 
Dennoch scheint Wagner eine glückliche Kindheit zu verbringen. Die Eltern lieben ihn „zärtlich“ und gerade die Mutter trägt mit den Geschichten, die sie dem Kind erzählt, dazu bei, dessen Lust am „Fabulieren“ zu wecken.3
 
Beide Eltern tun viel, um ihren wissbegierigen Sohn zu unterstützen, und so schicken sie ihn 1850 auf die Präparanden-Anstalt in Esslingen, wo er eine Ausbildung zum Lehrer machen soll. Aber schon sechs Wochen später ist Christian Wagner wieder in Warmbronn. Zum einen sind die Kosten einer Ausbildung zu hoch, als dass sie die Eltern aufbringen können, zum anderen scheint der schmächtige Knabe generell zu schwach für die Ausübung des Lehrerberufes.4 So kehrt Wagner zurück und hilft fortan in der elterlichen Landwirtschaft, erst als alter Mann wird er sein Dörfchen für einige Reisen wieder verlassen. Die Wagners besitzen nicht viel, lediglich zwei bis drei Stück Vieh und ein paar Äcker. Die Arbeit auf den Feldern reicht nicht aus, um die Familie mit dem Notwendigen zu versorgen und so arbeitet Wagner schon bald im Winter als Holzfäller und als Tagelöhner beim Bau der Eisenbahn.5
 
Bis Ende der 1850er Jahre ist er ein begeisterter Schmetterlingssammler und legt Herbarien an. Überhaupt liebt er die Natur, die Pfl anzen und die Tiere, und so gibt er bald die Schmetterlings-sammelei auf, da er sie reuevoll als Tierquälerei erkennt.6 In den wenigen freien Stunden, die ihm bleiben, beginnt er zu dichten. Er fühlt eine innere Berufung zu schreiben, obwohl oder gerade weil ihm seine Heimat Warmbronn nie eine wirkliche Heimat war, weder in geistiger noch in zwischenmenschlicher Hinsicht, wie er in der kurzen Betrachtung Mein Heimatsort deutlich zum Ausdruck bringt:
 
Mein Heimatsort
Warmbronn ward mir Geburtsort, Heim kaum. –
Geistig vereinsamt,
Sucht‘ ich in Liedern mir Trost und Erhebung. –
Freudig besang ich
Halmflur, Wiese und Wald und den Berghang. –
Nun er zu End mein
Liedsang fehlt mir der Trost, und erschreckend
geht es hinabwärts.7
 
Viel spricht aus diesen Zeilen: Trauer und Einsamkeit; ein Dichter unter Bauern, unverstanden in seinen Bedürfnissen und Überzeugungen; allein; die Natur als Retter, als Motiv der Gesänge, als Tröstung in der Isolation; aber auch die Leere, die bleibt, wenn der Gesang verklungen ist.
 

Frühes Leid

Im November 1865 heiratet Wagner Anna Maria Glatzle. Ob er ihr wirklich „beschwipst“ die Ehe versprach und sich „ernüchtert“ an sein leichtfertig gegebenes Versprechen gebunden sieht, sei da hin gestellt. Fest steht, dass er nun ein Ehemann ist und bald auch Vater sein wird.
 
Er bezieht in dem kleinen Bauernhaus seiner Eltern, in dem insgesamt drei Familien leben, eine „Stube und Kammer“ mit Küche.8 Die nur fünf Jahre dauernde Ehe steht unter keinem guten Stern und ist geprägt von vielen Schicksalsschlägen. Zunächst stirbt im Dezember 1866 sein Vater und Wagner übernimmt dessen verschuldete Landwirtschaft. Er arbeitet viel, ohne seine Familie wirklich ernähren zu können, so dass er weiter zusätzlich zur Landwirtschaft als Tagelöhner Geld verdienen muss.
 
Am 15. Januar 1866 wird sein erster Sohn Christian Albert geboren, am selben Tag stirbt Wagners Mutter. Auch der Sohn wird nur drei Wochen alt. In den wenigen Studen der Ruhe, die Wagner
neben all seiner Arbeit noch findet, entsteht eine erste Gedichtsammlung Lieder des Leids. In den Jahren 1868 und 1869 werden die Töchter Caroline Friederike und Karoline Luise geboren, beide Mädchen sterben wenige Monate nach ihrer Geburt.
 
Einen ersten Eindruck davon, wie Wagner auch durch seine Gedichte diese schweren Zeiten zu verarbeiten sucht, gibt das Werk Tröstungen. Zugleich ist es auch beredtes Zeugnis für seine Bemühungen, der ebenfalls trauernden Mutter, seiner Frau, neue Hoffnung zu geben:
 
Tröstungen
Ist ein Liebes deinem Aug entschwunden
Suche nimmer nach ihm Tag und Nacht;
Wann du findest was dich lieben mag,
Hast du das Verlorne neu gefunden.
 
Was dir Liebe zubringt ist dein eigen,
Ist dir Gatte, ist dir Kind und Freund;
Wenn es auch in seiner Thorheit meint
Das Erkennungswort dir zu verschweigen.
 
Klage nicht so trostlos Mutter, nimmer
Bei des Lieblings schmerzlichem Verlust;
Sieh! Ein andres Kind sucht deine Brust,
Wein o wein o Mutter, doch nicht immer.
 
Jede Blume will dein Auge trösten,
Jede Opferschale sendet Duft;
Jede Blüte die sie deckt die Gruft
Ist ein Gruß von deinem Früherlösten.9
 
Viele Motive klingen in diesen Zeilen an. Neben der verständlichen Trauer um den Verlust geliebter Menschen steht deutlich die Hoffnung, diese in anderer Gestalt erneut zu finden: „Wann du findest was dich lieben mag, / Hast du das Verlorne neu gefunden.“ Ferner die tröstende und beseelte Natur, die durch Blumenduft und Schönheit dem Trauernden zu helfen versucht: „Jede Blume will dein Auge trösten“.
 
Aus jeder Zeile des Gedichtes aber spricht klar die Überzeugung, dass die Verstorbenen nicht auf immer von uns gegangen sind, sie erscheinen wieder in Gestalt uns liebender Menschen, nur erkennen wir sie nicht, da sie uns „das Erkennungswort [...] verschweigen.“ So findet der zum wahrhaften Sehen begabte Dichter in der ihn umgebenden Natur nicht nur Trost und Ablenkung, er entdeckt in ihr auch Spuren der betrauerten Toten, sieht in den Blumen, die das Grab bedecken, einen „Gruß“ des Verlorenen. Wagner empfindet sehr tief und ehrlich und drückt dies in seinen Gedichten auch aus, dass für ihn die Natur im wahrsten Sinne des Wortes tatsächlich „beseelt“ ist.
 
Von Ende August 1868 bis April 1869 arbeitet er beim Bau der Eisenbahn mit und nutzt auch dort die Arbeitspausen, um Gedichte zu schreiben. Am 24. November 1870 stirbt schließlich seine Frau bei der Geburt des Sohnes Gottlieb, der seine Mutter nur um neun Monate überlebt.
 

Die zweite Ehe

Am 19. März 1871 heiratet Wagner erneut. Die zweite Frau ist seine Cousine Christiane Catharina Kienle, genannt Nane. Sie ist vielleicht der einzige Mensch im ungeliebten Warmbronn, der ihm geistig nahesteht und ihre Verbindung zueinander ist herzlich und eng.
 
Im Januar 1872 wird sein Sohn Christian geboren, im März 1874 die Tochter Amalie Friederike und im Oktober 1879 schließlich seine Tochter Pauline. Wagner ist glücklich mit seiner kleinen Familie, doch drückende Sorgen begleiten ihn weiterhin. Die Familie lebt immer noch in ärmlichen Verhältnissen: Zwar werden die Grundnahrungsmittel durch die eigene Landwirtschaft erwirtschaftet, für alle andere Ausgaben und die Steuern aber müssen Schulden gemacht werden. Bis 1892 unterschreibt Wagner mehr als zwanzig Schuldscheine.10
 
Wagner selbst beschreibt die Situation in seinem Lebenslauf folgendermaßen: „Ich ließ mir das Feldgeschäft angelegen sein und war ein sehr fleißiger, recht sparsamer Landwirt, ohne mit all meiner Anstrengung viel anderes zu erreichen, als dass ich älter hierbei worden bin.“11 Dennoch resigniert er nicht und nimmt sich bei all seinen Belastungen immer wieder die Zeit, Gedichte zu schreiben, bewusst durch die Natur zu wandern, die Blumen und Pfl anzen am Wegesrand zu bewundern. Auch nimmt er oft den über zwanzig Kilometer langen Fußmarsch nach Stuttgart auf sich, um sich in der dortigen Bücherei mit Lesestoff, mit geistiger Nahrung, zu versorgen.
 

Neuer Glaube

Christian Wagner bleibt seinen über die Zeit gewonnenen Überzeugungen treu, und so schlachtet er sein Vieh weder selbst noch verkauft er es an den Metzger. Alle seine Tiere bekommen das Gnaden- brot, nachdem sie treu für ihn und mit ihm gearbeitet haben. Er sieht in ihnen lebendige Mitwesen, die seine Achtung verdienen und seinen Schutz. Selbst nach seinem Tod will er sie versorgt wissen und verfügt testamentarisch, dass im Winter auf seinem Hof immer Futter für die Vögel bereitgestellt werden soll. Es existieren zahlreiche Anekdoten und Geschichten, die Wagners Tier- und Naturverbundenheit eindrucksvoll beschreiben. Einige wenige sollen hier kurz Erwähnung finden.
 
So hört er 1876 einen Gastwirt stolz erzählen, dass dieser drei seiner Gänse zu einem sehr guten Preis an eine Gänseleberfabrik verkauft hat. Wagner ist entsetzt und versucht den Wirt mit großer Beredsamkeit und Vehemenz davon zu überzeugen, seine Gänse nicht der Tortur in der Mastanstalt auszusetzen. Als alle seine mit großer Ernsthaftigkeit und Leidenschaft vorgetragenen Argumente fruchtlos bleiben, kauft Wagner die Tiere schließlich selbst, trotz seiner finanziell angespannten Lage. Die Gänse danken es ihm. Sie bleiben während mehr als drei Jahrzehnten seine treuen Begleiter, erwarten ihn des Abends nach der Feldarbeit und laufen ihm als seine „Herolde“ laut schnatternd voraus, wenn er ins Dorf geht.12
 
Ein staunender Besucher wird Zeuge einer Szene, die sich so täglich im Hause Wagner abspielt. Ein Huhn klopft mit dem Schnabel von außen an die Scheibe der Wagnerschen Stube, es wird eingelassen, lässt sich streicheln, setzt sich für ein Viertelstündchen auf die Stuhllehne des Dichters und verlässt diesen dann wieder. Es komme jeden Tag vorbei, erfährt der Besucher von Wagner, denn „das Huhn ist meine Freundin und hat mir nur mal einen guten Tag sagen wollen“.13
 
Auch zu seinen Katzen hat der Dichter eine besondere Beziehung, immer, wenn er krank ist, verlassen diese nur selten das Haus, sie legen sich unaufgefordert auf die ihn schmerzenden Stellen, „um ihn durch Wärme und Magnetismus zu heilen“.14 Zu allen Tieren, auch zu ihm fremden, hat Wagner dieses vertraute und innige Verhältnis, dabei lockt er sie nicht mit Leckereien. Die Tiere spüren, dass er einer ist, der es gut mit ihnen meint. Der sie als Lebewesen und Mitwesen ansieht, achtet und schützt.
 
In seinem bekannten Gedicht Lied des Braminen bringt Wagner seine Überzeugungen eindrucksvoll in poetischer Form zum Ausdruck:
 
Lied des Braminen (Auszug)
[...]
Heilig ist der Leib und was lebendig
Sei dein Wahlspruch immer und beständig;
Vor dem heilgen Leib sollst du dich scheuen,
An des Leibes Kunstwerk dich erfreuen.
 
Pfl anzen sollst du ausgerauft zertreten
Sorgsam in die Erde wieder betten;
Findest du am Weg ein hilflos Wesen,
Nimms in Pflege bis es ist genesen.
 
Werden Thiere dir am Weg begegnen,
Auf die Hände hebe sie zu segnen;
Speise sollst du immer bei dir haben,
Schmachtende und Hungernde zu laben.
 
Keine Mühe sollst du jemals scheuen
Vögel und Gefangne zu befreien;
Keine Kosten auf den Markt zu wandeln,
Junge zu den Müttern rückzuhandeln.15
[...]
 
Auch sein Werk Neuer Glaube, ein Evangelium „von der größtmöglichen Schonung für alles Lebendige“, stellt Wagner in den Dienst der Verbreitung dieser Achtung allen Lebens. In einer Art Katechismus, einem Dialog in Form von Frage und Antwort, fasst er seine „Lehren“ zusammen, tut, was er „nicht lassen konnte“ und predigt „Freiheit […] den Armen und Verachteten und der ganzen Natur“.16 Er hält es für einen „grässliche[n] Irrtum der Menschen, zu wähnen, dass die Thierwelt nur um ihretwegen da sei und folglich rücksichtslos verbraucht werden dürfe“.17 Ein Gedankenansatz, der unglaublich modern anmutet und auch heute erst zögerlich umgesetzt und weitergedacht wird. Das Wagner diesen Irrtum in seinem Leben nicht begeht, unterstreicht auch die Tatsache, dass er selber auf Fleisch als Lebensmittel verzichtet. 18
 

Erste erfolgreiche Versuche als Schriftsteller

Im Winter 1884 sichtet Wagner seine bisherigen poetischen und schriftstellerischen Versuche und stellt sie zu einem ersten Manuskript zusammen. Unter dem Titel Märchenerzähler, Bramine und Seher wird es bei einem Stuttgarter Verlag auf seine Kosten veröffentlicht. Die erste Auflage von 1000 Exemplaren ist überraschenderweise schnell vergriffen, der Verleger druckt 1887 eine zweite Auflage mit dem Titel Sonntagsgesänge und im selben Jahr noch eine dritte Auflage, nun erweitert um „weitere Märchen und Balladen“. Im gleichen Jahr wird Wagners Tochter Luise Christiane geboren. Nach diesem ersten kleinen Erfolg verbreitet sich Wagners Ruf als großer Naturlyriker langsam, aber stetig. Er erhält ab 1889 des öfteren Besuch von begeisterten Lesern. In manchen Kreisen gilt es als schick, einmal beim „Bauerndichter Wagner“ gewesen zu sein.
 
In den Jahren 1889 und 1891 erhält Wagner vom Stuttgarter Zweig der Deutschen Schillergesell- schaft Ehrengaben in Höhe von 100 Mark, und auch Leser, die um seine prekäre finanzielle Situation wissen, helfen ihm durch Geldzuweisungen, z. T. regelmäßig. Die Deutsche Schillergesellschaft in Weimar setzt ihre regelmäßige finanzielle Unterstützung durch Ehrengaben fort und Wagner stellt den ersten Teil seiner Autobiographie Aus meinem Leben zusammen. 1893 erscheinen die Weihegeschenke, im Jahr darauf Neuer Glaube. Im Jahre 1894 entsteht der zweite Teil seiner Autobiographie.
 
Doch auch diese Periode beginnenden Erfolgs und erster Anerkennung auch durch berühmte Autorenkollegen ist für Wagner nicht frei von Sorgen. Er gerät immer wieder in dieser Zeit in große finanzielle Not, u. a. durch den Verlust von Rindern, doch er erfährt auch zunehmend Hilfe aus den ihn und sein Werk verehrenden Kreisen. Privat aber trifft ihn erneut ein harter Schicksalsschlag. 1890 kehrt seine Frau halbgelähmt von einer Kur zurück, die sie wegen einer schweren Rückenmarks-entzündung unternommen hatte. Sie erholt sich nicht mehr von dieser Krankheit und fällt Mitte Februar 1892 in geistige Umnachtung. Sie stirbt schließlich am 25. April desselben Jahres.
 
Wagner ist untröstlich über den Verlust der geliebten Frau. Dennoch ist sie durch ihren Tod für ihn nicht auf immer verloren. In dem anrührenden Gedicht Totenfeier schildert er eine Art Geburtstags-
feier für die geliebte Verstorbene. Die Familie gedenkt ihrer, deckt ihren Platz an der Tafel ein, trägt die Lieblingsspeisen und einen guten Wein auf und rückt den Sessel der Mutter „an die Stelle / Wo er stand“. Dann versammeln sich alle und gedenken ihrer, ja beschwören sie geradezu. „Dulde keines anderen Gedanken / In der Brust / Als den Einen: Sie hereinzufordern / In den Kreis“. Und das Unglaubliche geschieht: Die Mutter erscheint. „Taucht sie plötzlich, blauer Luft entquollen / Auf im Saal“. Sie bleibt für einen Augenblick „Ehe sie in leichte Luft zerfließend / Uns entwallt.“19
 
Es ist mehr als eine fromme Hoffnung, die geliebte Frau möge nicht auf immer verloren sein, die aus diesen Worten spricht, es ist Wagners tief empfundene Überzeugung, dass die Menschen nach einer „Schlummerfrist“ zurückkehren, wiedergeboren werden, ebenso wie alle lebenden Menschen schon einmal dagewesen sind und deshalb zumindest manche über eine „Seligkeitserinnerung früheren Seins und Wohlgenießens“ verfügen.
 
Erneut wiedergeboren bzw. zurückgekehrt, sind es die Pflanzen und Tiere, welche uns mit der nicht-irdischen, geistigen Welt verbinden. Obwohl er nach eigener Aussage nicht viel über den Buddhismus weiß, ist es wohl nicht ganz falsch, seine Überzeugungen mit diesem zu vergleichen.20 Liest man sein berühmtes Gedicht Syringen, so meint man, eine Art Glaubensbekenntnis aus diesen Zeilen sprechen zu hören, die eindrucksvoll beschreiben, wie Wagner die Natur immer mehr bedeutet und gibt als bloße Schönheit.
 
Hier wird sie ihm zur Ahnung eines Lebens hinter den sichtbaren Dingen, zur Brücke hin zu seinen längst verstorbenen „Lieben“.
 

Syringen

Fast überirdisch dünkt mich euer Grüßen,
Syringen ihr mit eurem Duft dem süßen.
 
Nach Geisterweise weiß ich euch zu werthen:
Ein Duftgesang er ist mirs von Verklärten.
 
Gott, wie ich doch in dieser blauen Kühle
Der Blumenwolke hier mich wohlig fühle!
 
Süß heimlich ahnend was hineinverwoben;
wie fühl ich mich so frei, so stolz gehoben!
 
Ha, bin ichs selbst, deß einstig Erdenwesen
Nun auch einmal zu solchem Glanz genesen?
 
Sinds meine Lieben, die, ach längst begraben,
In diesem Düften Fühlung mit mir haben? – 21
 

Späte Anerkennung

Im Sommer 1895 reist Wagner an den Vierwaldstättersee und an den Lago Maggiore. Auch unter nimmt er ausgedehnte Lesereisen. Nachdem er weitere finanzielle Zuwendungen in Form von Stiftungen erhält und auch die Schillerstiftung zusagt, ihn für weitere drei Jahre mit 300 Mark zu unterstützen, fährt er Ende 1896 erneut nach Oberitalien,wo er u. a. die Schriftstellerin Ada Negri trifft, eine „Vorkämpferin für die Befreiung der untersten Stände“. Er trifft auf den Schiller Biographen Richard Weltrich, dessen große Monographie über Christian Wagner 1898 erscheint.22
 
Dank der regelmäßigen Zahlungen der Schillerstiftung kann Wagner 1900 endlich alle seine verzinsten Schulden zurückzahlen und ist zum ersten Mal in seinem Leben schuldenfrei. Er unternimmt weite Lesereisen und bricht 1904 zu einer dritten, diesmal großen Italienreise auf. Innerhalb von vier Wochen besucht er Neapel, Capri, Pompeji, Rom und Florenz. Die dort erfahrenen Eindrücke und Bilder wandelt er in Gedichte und Erzählungen um. Auch über ihn und sein Werk erscheinen erste Essays. Folgerichtig ist sein 70. Geburtstag am 5. August 1905 nicht nur in Warmbronn ein großes Ereignis, er erhält über hundert Glückwünsche aus Nah und Fern, zahlreiche Geburtstagsartikel erscheinen in der Presse.23 1909 kommt der Gedichtband Späte Garben heraus, im Frühjahr desselben Jahres trifft er Hermann Hesse. Im November werden in Stuttgart zehn seiner Lieder aus Ein Blumenstrauß in der Vertonung von Karl Bleyle uraufgeführt.
 
1910 verwandelt die Deutsche Schillerstiftung die bis dahin gewährte jährliche Pension in eine lebenslange Rente um. Im April 1911 begibt er sich mit seiner Tochter Luise auf eine erneute Italienreise. Am 12. Juni 1912 erkennt ihm der Frauenbund zur Ehrung rheinländischer Dichter den Ehrenpreis in Höhe von 2000 Mark zu. Auch ein Band mit Gedichten Wagners wird vom Frauenbund finanziert. Es ist Hermann Hesse, der die Gedichte auswählt und das Buch, welches 1912 erscheint, mit einem Vorwort versieht.24 Italien in Gesängen erscheint im Selbstverlag. Es wird u. a. von Bruno Frank begeistert rezensiert. Im August 1915 wird Wagner zum Ehrenbürger Warmbronns ernannt.
 
Seine Stellung zum 1. Weltkrieg und zur in seinem Zuge überall entstehenden Kriegslyrik ist eindeutig. Nachdem er mehrfach um Kriegslieder gebeten wird, die zu verfassen er aber ablehnt, schreibt er in einem Brief an Hesse: „das Heldentum des Nitroglyzerins erkennen wir [Dichter] nicht an!“ Er verfasst mutige Leserbriefe, in denen er seine ablehnende Haltung zum Krieg in einer Zeit voll patriotischer Kriegsbegeisterung formuliert. Er leidet sehr unter dem fortgesetzten Kämpfen und Töten und wünscht sich, Eremit zu werden. „Ich beklage, dass es in Deutschland keine Wälder mehr gibt, wie im Mittelalter, zur Zeit der Eremiten, in die hinein ich mich verkriechen könnte, um dort nur noch mit frommen Tieren zu leben.“25
 
Am 15. Februar 1918 stirbt Wagner. Entdeckungsfreudig ist er bis zuletzt. Er hat keine Angst vor dem Tod, glaubt er doch fest an die Wiedergeburt. Als er um den Jahreswechsel 1917/18 immer schwächer wird und seine Tochter Amalie besorgt den Arzt rufen will, hält er sie mit den Worten zurück: „Noi, jetzt wird amol g‘schdorba, dass m‘r au woiß, wie dees isch.“26
 

Ausklang

„Was ich geschrieben habe, war Inspiration. – Ich bekam? – Oder besaß die Fähigkeit des Schweiß-hundes, fremden Fährten nachzugehen, der Boden erzählte mir seine Geschichte und zwar, was hoch interessant ist, mit historischer Treue.“27 Wagner gehört zu den literarischen Außenseitern des späten 19. Jahrhunderts, in vielfacher Hinsicht. Sein Werk ist geprägt von einer Naturphilosophie, der „Schonung alles Lebendigen“. Er ist ein Autodidakt ohne höhere Schulbildung und hat doch ein Werk geschaffen, das von hohen ethischen Werten getragen ist.
 
Er erfährt bereits zu Lebzeiten die Unterstützung namhafter Autoren, u. a. durch Gustav Landauer, Kurt Tucholsky und Hermann Hesse, die sich bemühen, ihm die Anerkennung zu verschaffen, die er sich in ihren Augen verdient hat. Dennoch müssen Wagner und sein Werk heutzutage im „Jahr zehntewechsel“ immer wieder „neu entdeckt“ werden. Er ist ein Mensch, der viel Widersprüchliches in sich vereint. Sein Leben lang ein Außenseiter und wohl auch ein Rätsel für die meisten Menschen in seiner Umgebung. So ist Wagner seine Heimat überaus wichtig. Ihr Boden ernährt ihn und seine Familie, sie ist ihm Zuflucht und nicht zuletzt wichtige und vielleicht einzige Inspirationsquelle, aber ist er darum auch ein Heimatdichter? Er unterzeichnet zwar jedes Gedicht mit „Christian Wagner von Warmbronn“, aber wenn man sich an das weiter oben zitierte Gedicht Mein Heimatsort erinnert, wird klar, so einfach ist es nicht. Wagner hat ein sehr gebrochenes Heimatverhältnis, er lebt in ihr, in dieser Heimat, aber verstanden und aufgehoben fühlt er sich, wenn überhaupt, nur selten. Seine Dichtung jedenfalls soll über diese Enge hinausweisen.
 
Auch ein Dialektdichter ist Wagner niemals. Zwar spricht er privat den schwäbischen Dialekt seiner Heimat, dichtet und schreibt aber niemals im Dialekt. „An Dialektdichtung kann ich absolut keinen Geschmack finden. Freilich: er, unser Dialekt, hat eben so gar keinen Wohlklang und ist nach meinem Empfinden nur eine Entwürdigung, eine Profanierung der Sprache. Ich selber kann mir gar nicht genug tun an Musik und Wohllaut derselben Sprache. Hier allein liegt ihr Zauber.“28
 
Er ist auch kein Bauerndichter, will auch keiner sein, obwohl er ein Bauer ist und seine Herkunft auch nicht verleugnet. Er sieht wohl die Gefahr des vorschnellen Urteils der Leser, das auch Tucholsky im Sinn hat, wenn er in seinem Nachruf auf Wagner folgende Zeilen schreibt: „ Ich habe aber bis zum Schluß dieses Gedenken nicht sagen wollen, daß der Dichter Bauer ist, weil falsche Assoziationen entstehen könnten. Er war allerdings ein Landmann; er hat die Natur gekannt, aber das Hälmchen war ihm kein Anlaß ‚Duliöh‘ zu schreien oder ein knallig angestrichenes Gemüt leuchten zu lassen.“29
 
Mit Kritik muss Wagner sein Leben lang umgehen. Sei es Kritik „aus den eigenen Reihen“, sprich von den Dörflern in Warmbronn, die ihm immer wieder ungefragt ein „Schuster bleib bei deinem Leisten“ zurufen, oder Kritik von Kollegenseite, sprich von „(aus)gebildeten“ Autoren.So schreibt er Hermann Hesse in einem Brief: „Dass ein Bauer sich anmaßt, Sonette zu schreiben, in Hexametern zu dichten, das grenzt an Gotteslästerung.“30 Die Dörfler verstehen ihn nicht und wollen ihn auch nicht verstehen. Für sie ist Wagner ein Heide, jemand, der nicht nach ihren Regeln, nicht nach ihren Werten lebt und sich über seinen Stand erhebt. Ein Urteil, das Wagner nicht weiter tief beeindruckt. Er ist der Meinung, „lieber ein barmherziger Heide als ein unbarmherziger Christ“ und dabei belässt er es dann auch.
 
Doch Kritik kommt, wie schon angedeutet, auch aus den so genannten „literarisch-gebildeten Kreisen“. Von Leuten, die es so gar nicht verstehen und gutheißen können, dass da jemand vom Lande kommt, noch dazu ein Bauer mit nur geringer Schulbildung, und meint, einfach so Gedichte schreiben zu dürfen wie sie, die „wahren Künstler“, es selbst tun.
 
Eine derartige Szene schildert er stellvertretend für wahrscheinlich viele, die er erlebt hat, wiederum in einem Brief an Hermann Hesse: „Wurde ich doch als alter Mann von einem unreifen Bürschchen solchen Schlages [gemeint sind akademisch gebildete Schriftsteller] folgendermaßen angerempelt: ‚So, Sie sind der Bauer, der Gedichte schreibt? Wenn aber jeder Bauer Gedichte schreiben wollte, – was dann?‘ Er meinte offenbar, ich sollte mich bei ihm für diese Frechheit entschuldigen; das tat ich nun nicht, sondern sagte bloß: Diese Gefahr werde kaum eintreten, da es stets mehr Spatzen geben werde als Lerchen.“31
 
Und vielleicht hat sich Wagner genau mit diesen Worten selbst am treffendsten charakterisiert, denn das war er wahrhaftig: Ein Lerche unter lauter Spatzen, die sich das Singen nicht hat verbieten lassen, nicht vom Leben und seinen vielen Schicksalsschlägen und schon gar nicht von den „unreifen Bürschchen“ dieser Welt.


1 Das Haus Christian Wagners – jetzt ein Museum – war Ziel einer Studienfahrt während der Theosophischen Sommertagung 2007 in Calw.

2 Christian Wagner: Lebenslauf. Auskunft für Richard Weitbrecht (1892). Zitiert nach: www.cw-gesellschaft.de.

3 Ebd. „Mein Fabulieren ist rein ein Erbteil meiner seligen Mutter, die dem empfänglichen Knaben viel erzählte.“

4 „Doch Wort und Tat müssen zusammenstimmen. Christian Wagner – Magnus Schwantje. Ein Briefwechsel. 1902-1917“. In: Warmbronner Schriften 11, hrsg. von Harald Hepfner und Jürgen Schweier, Christian-Wagner-Gesellschaft e. V,. 2002, S. 55.

5 Vgl. den Artikel zu Christian Wagner auf www.nf-fellenbach.de.

6 Ulrich Holbein: „Die Katzen steigen an ihm auf und ab wie die Engel an der Jabobsleiter. Über den Tier- und Naturfreund Christin Wagner aus Warmbronn (1835-1918)“. In: Freiheit für Tiere, 4/2007, S. 54.

7
Christian Wagner: Mein Heimatsort, entnommen aus: ders.: Blühender Kirschbaum. Gedichte, hrsg. von Jürgen Schweier, Kirchheim/Teck 1995/2001, S. 74.

8 Ulrich Holbein: „Die Katzen steigen an ihm auf und ab“, a.a.O., S. 54.

9 Christian Wagner: Tröstungen, entnommen aus: ders.: Blühender Kirschbaum, a.a.O., S. 39.

10 Vgl. den Artikel zu Christian Wagner auf www.wikipedia.de.

11 Vgl. den Artikel zu Christian Wagner auf www.nf-fellenbach.de.

12
Magnus Schwantje: „Christian Wagner, der Dichter und Ethiker“. Nachdruck. In: Warmbronner
Schriften 11, hrsg. von Harald Hepfner und Jürgen Schweier, Christian-Wagner-Gesellschaft e. V., 2002, S. 62.

13 Ebd., S. 60.

14 Ebd., S. 63.

15 Christian Wagner: Lied des Braminen. Auszug, entnommen aus: ders.: Blühender Kirschbaum, a.a.O., S. 10.

16 Christian Wagner: Neuer Glaube. Faksimiledruck der Originalausgabe von 1894, Kirchheim/
Teck 1980, S. V.

17 Ebd., S. 23.

18 Wie hundertprozentig sein Fleischverzicht war, lässt sich nicht mehr klären. In seinem Briefwechsel mit Magnus Schwantje, „Kopf und Herz der deutschen Tierschutzbewegung“, insistiert letzterer wiederholt und möchte wissen, wie ausschließlich Wagners Fleischverzicht ist. Wagner äußert sich dahingehend, dass er „auf Reisen, bei etwaigen Besuchen Fleischspeisen nicht“ zurückweist, da „das Getötete auch bei meinem Verzicht nie mehr lebendig werden“ würde (vgl. Brief vom 14. Juli 1905 an Schwantje). An anderer Stelle aber berichtet er wie selbstverständlich von seinem Vegetarismus und schildert seine Skrupel, „werdendes Leben, wie z. B. Eier, zu vernichten“ (vgl. Brief vom 1. August 1905 an Schwantje). Die zitierten Briefe sind abgedruckt in: Magnus Schwantje: „Christian Wagner, der Dichter und Ethiker“, a.a.O., S. 25 und S. 27.

19 Christian Wagner: Totenfeier, entnommen aus: ders.: Blühender Kirschbaum, a.a.O., S. 78f. Alle angeführten Zitate stammen aus diesem Gedicht.

20 Kurt Oesterle: „Wo Sprachwunder aus den Wiesen steigen. Ein Besuch im württembergischen
Warmbronn, dem Heimatort des Dichters Christian Wagner“. Zu fi nden unter www.cw-gesellschaft.de. Oesterle spricht von einem „schwäbischen Buddhismus“ Wagners.

21
Christian Wagner: Syringen, entnommen aus: ders.: Blühender Kirschbaum, a.a.O., S. 119. Mit dem Wort „Syringen“ ist hier der Fliederbaum bzw. die Blüten des Flieders gemeint.

22 Vgl. den Artikel zu Christian Wagner auf www.wikipedia.de.

23 Ebd.

24 Vgl. Sabine Brenner: „Hermann Hesse und der „Frauenbund zur Ehrung rheinischer Dichter“. Zu finden unter www.literatur-archiv-nrw.de.

25 Ulrich Holbein: „Die Katzen steigen an ihm auf und ab“, a.a.O., S. 56.

26 Kurt Oesterle: „Wo Sprachwunder aus den Wiesen steigen“, a.a.O.

27 Vgl. den Artikel zu Christian Wagner auf www.wikipedia.de.

28
Vgl. „Wahrheit und Schaubild. Christian Wagner über einen Namenlosen“. Zu finden auf www.dradio.de.

29 Kurt Tucholsky: Christian Wagner. Aus: ders: Kritiken und Rezensionen 1916-1919. Zu finden auf www.textlog.de/tucholsky-christian-wagner.html.

30 Vgl. dazu: „Wahrheit und Schaubild“, a.a.O.

31 Vgl. den Artikel zu Christian Wagner auf www.wikipedia.de.





Autor: Stefanie Walter