Christus in uns
 
Erhard Bäzner
 
Welch ein wunderbares, unvergleichliches Licht strahlt von Ihm aus, welch ein Strom von Erlösendem und Heilendem, Freudigem und Himmlischem, Göttlichem! Ein mächtiger Strom des Lebens, eine alles bezwingende Kraft, eine heilige Glut der Liebe entspringt einem Quell in verborgenen Tiefen; unerschöpflich und unaufhaltsam fließt er fort und fort dahin und trägt alles Leben durch seine Kraft dem Meere zu, in die Arme des Einen Vaters.
 
Jesus Christus überragt durch Seine Größe alles Vergängliche. Er steht über der Zeit. Es wäre jedoch verkehrt, Seine Überzeitlichkeit in dem begründen zu wollen, was historisch von Ihm überliefert ist; denn das liegt verschüttet unter den Vorstellungen, die sich Berufene und Unberufene von Ihm machten. Jede Religionsgemeinschaft prägte Ihm ihren Stempel auf, jedes Volk verkündete Seine Lehren in einer ihm gemäßen Form, jede Zeit ließ Ihn in der Sprache sprechen, die sie verstand. Alle, die sich Christen nennen, glauben auch heute noch, den ursprünglichen Jesus zu lieben, den wirklichen Christus zu verehren.
 
„Du sollst dir kein Bildnis noch Gleichnis machen!" Denn nichts könnte das religiöse Leben stärker zurückdämmen und die Entwicklung mehr hindern, die Wirksamkeit des menschlichen Geistes mehr aufhalten, als ein starres Festhalten an der Persönlichkeit irgendeines Meisters, an seinem bloßen Bilde oder an den Vorstellungen, die man sich von ihm macht. „Du darfst dich nicht mit einem gedachten Gott zufrieden geben, denn sieh, wenn dein Gedanke vergeht, dann vergeht auch dein Gott, dann hast du nichts mehr. Du musst vielmehr einen wesenhaften Gott haben, der über alle Gedanken und Vorstellungen, über alles Vergängliche erhaben ist" (Meister Eckehart). Ein Gott oder Christus, der der Einbildungskraft entsprang, durch gelehrte Gedankenarbeit konstruiert wurde und in starren Dogmen und Formeln eingesperrt ist, kann ebenso wenig Heiland und Erlöser sein wie irgendein Götzenbild, ein kunstreiches Bild aus Holz, Stein oder Erz. Nur der „Christus in uns ist das Geheimnis der Erlösung und die Hoffnung unserer Herrlichkeit". Jesus fragte auch nicht nach dem, was „geschrieben stand", sondern ging seinen eigenen, inneren Weg, geleitet von dem Christusgeiste in ihm. Deshalb sind Seine Worte zeitlos, unvergänglich und unmittelbares Leben.
 
Der religiöse Mensch will und muss sich zum religiösen „Erlebnis" durchringen, das nicht an die Vergangenheit oder an irgendwelche Dogmen oder Persönlichkeiten gebunden ist. Er findet es im eigenen Innern, in der Tiefe der Seele. So sagt auch der Naturforscher Bölsche: „Ob ich das Tiefste in mir Gott nenne oder Genius, ob Jehova oder Zeus oder bloß das tiefere Ich, ob ich die Gotteskindschaft in mir selber an das Wort Christus knüpfe oder an das hl. Weizenkorn von Eleusis oder an den Königssohn Buddha, der in sich ging und sich erneuerte - das ist zuletzt wirklich eine Wortsache." Das tiefste Erlebnis liegt jenseits der Formenwelten, es hat weder mit Lehre noch Bekenntnis noch mit Vergangenheit und Zukunft zu tun, denn es entspringt der ewigen Allgegenwart des Geistes, die der Kern unseres Wesens ist. Sich in ihr wiederzufinden, mit ihr eins zu werden und zu sein, ist wahre Religion.
 
In solch religiösem Leben wird jeder Tag die Welt von neuem verklären, sie in einen Tempel des höchsten Lichtes verwandeln, in dem Gottes Herrlichkeit jeden Morgen wieder offenbar wird. Mit ruhigen Schritten - mit der Göttlichen Ruhe - wandern wir dann durch die Zeit, nichts erscheint uns zu klein, nichts zu groß, in der ewigen Einheit inneren Schauens und Erlebens verschwinden alle Gegensätze und Unterschiede. Unermesslich weitet sich unser Lebenshorizont, überall offenbart sich uns lebendiges, lichterfülltes Sein. Und die wunderbarsten Kräfte unerschütterlicher Geduld und Hingabe, Vertrauen und Liebe, Begeisterung und Tatkraft erwachen in der Seele.
 
Weit über allem Wechsel der Dinge, hoch über allen vergänglichen Formen ruht die unvergängliche Wirklichkeit, das „Eine" Sein! Und jeder kann es finden, sich in dasselbe erheben, es erleben. Jeder kann Christus in sich finden, Ihn erkennen, kann Ihn lebendig in sich tragen, wenn er sich in den
Strom des Einen Lebens versenkt, der ihn durch das Dasein trägt. In den Tiefen der eigenen Seele, wo das Heimweh nach dem Göttlichen, die Sehnsucht nach Erlösung wohnt, in dem innersten Grunde der Seele, dort ist die Quelle der allumfassenden Liebe und der allerleuchtenden Weisheit. Sie zu erkennen, ist eine Offenbarung des lebendigen Geistes, des Christus in uns. Von hier aus, nicht durch äußere Vorschriften, auch nicht durch „Visionen" oder „Stimmen", lenkt Christus unser Leben und durchstrahlt es so, dass Seine Gegenwart sich uns offenbart von allen Höhen des Lebens, aus allen Gründen und Tiefen des Todes. Das ganze Leben, erfüllt mit Licht und Liebe, wird uns Heiland, Versöhner, Befreier, Erlöser und Segnender: Unser Christus.
 
"Darin ist Gottes Liebe an uns erzeigt und erschienen, dass Er seinen eingeborenen Sohn in die Welt gesandt hat, damit wir durch und mit Ihm (das heißt mit und inIhm) leben sollen." (Meister Eckehart)
 
Unser Leben wird Neuschöpfung, so wie Christus immerwährende Neuschöpfung, ein ewig Werdender, ein Neugestaltender ist. Das neue Leben ist eben Neugestaltung oder eine Wiedergeburt, wie Jesus und Paulus es nennen, das Christus-Leben, das darin besteht, dass der Mensch seine Wesenseinheit mit Gott und mit allen Menschen erkennt. Christus ist aber auch der ewig Seiende, der in allem Wechsel sich gleichbleibende, ewig schaffend, immer umgestaltend Neues, Stärkeres, Schöneres, Wertvolleres und Lichtvolleres wirkt. So konnte der Apostel auch an seine Gemeinde schreiben: „Christus, du bist mein Leben!" (Phil. 1,21.), und auch das andere Mal: „Christus lebet in mir!" (Gal. 2,20.)
 
Christus ist der Geist, der Geist der Liebe, das hohe über sich selbst hinauswachsende Ideal unseres Lebens. Er ist nicht nur der Wunderwirkende, der Verehrungswürdige, sondern der Lebensspender, der Welt- und Lebensvollender, das Licht der Welt, die All-Liebe und der All-Erlöser. Er ist Weg und Ziel, „die Auferstehung und das Leben", das „Eine" Sein. Er ist die Kraft und das Leben auf dem Wege zur Vollkommenheit, zur Vollendung, zu dem Berge der „Verklärung", von dem es heißt: „Und Er ward verklärt vor ihnen (seinen Jüngern), und Sein Angesicht leuchtete wie die Sonne, und Seine Kleider wurden weiß wie ein Licht." Er selbst sagt von sich: „Ich bin das Licht der Welt; wer mir nachfolgt, der wird nicht wandeln in Finsternis, sondern wird das Licht des Lebens haben."
 
„Christus inuns ist das Geheimnis der Erlösung, die Hoffnung unserer Herrlichkeit." Aber Christus, der Eine Geist der Menschheit, die Seele der Welt, muss in jedem Menschen geboren werden. Unser Herz ist der Ort, wo Er aufersteht und zum Himmel fährt, von wo er wiederkehrt, zu richten die lebendigen und zu erwecken die toten Kräfte unseres eigenen Innern. „Darum sind alle Dinge geschaffen, dass Christus in der Seele geboren werde" (Meister Eckehart), und zwar so lange, bis er allerorten seine Macht entfaltet. Dann wird das himmlische Jerusalem, die wahre Seele der Menschheit, auf die Erde hernieder gekommen sein, wo es kein Leid und keine geistige Nacht mehr gibt, sondern nur noch das Licht des strahlenden Tages, das ausgeht von der alles durchdringenden Sonne des göttlichen Geistes, der Liebe. „Welch ein Licht die Liebe selber ist, wer vermöchte das mit Worten auseinander zu setzen? ... Oder ist etwa die Liebe kein Licht? ... Wenn Gott Licht ist und Gott Liebe ist, dann ist wahrlich die Liebe selber das Licht; die Liebe, die durch den heiligen Geist, der uns gegeben ist, ausgegossen ist in unsere Herzen" (Augustinus).
 
Werden wir also Lichtträger, bewusste Lichtbringer und Lichtspender, denn auch wir sind Kinder Gottes, für Sein ewiges Licht geschaffen! Steigen wir immer wieder in die inneren Gründe unserer Seele, um immer wieder neue Kraft und neuen Mut zum Leben und Wirken und neues Leben aus der ewigen Quelle des „Einen" Lebens, des ewigen Seins zu schöpfen, vom göttlichen Lichte erfüllt und durchdrungen zu werden, uns mit Christus, dem lebendigen Christus zu vereinen, dann erleben wir die Wahrheit der Worte des Augustinus: „Ich stieg hinab in meine innerste, tiefste Seele, und Du führtest mich. Und ich vermochte es, weil Du mein Helfer warst. Ich trat ein und sah mit dem Auge meiner Seele, so schwach es war, droben über dieser meiner Seele und über meinem Geiste das unveränderliche Licht; es war nicht das gemeine Licht, das den Sinnen leuchtet. Es war auch nicht von der Art dieses Lichtes und nur etwa größer und heller. Nein, es war ein völlig anderes Licht. Es war über mir, weil es mich erschaffen hat. Wer die Wahrheit kennt, der kennt dieses Licht, und wer dieses Licht kennt, der kennt die Ewigkeit. Die Liebe kennt es."
 
So lebt Christus mit und in uns, immer und überall, stets gegenwärtig! „Ich bin bei euch alle Tage, bis an das Ende der Welt."
 
Darum wollen wir uns in Liebe und Dankbarkeit als freie, die Wahrheit liebende, als dienende, in Liebe wirkende, in Weisheit und Liebe lebende, in der Einheit denkende und schauende Brüder für die innere Wiedergeburt im Geiste vorbereiten, um als immer Werdende, als Ebenbild Gottes, das wir werden und sein sollen, als Licht im Lichte strahlend, verklärt zu werden, von Herrlichkeit zu Herrlichkeit, von Ewigkeit zu Ewigkeit.
 
„Der wahre Gottessohn ist Christus nur allein,
Doch muss ein jeder Christ derselbe Christus sein.
 
Ich muss Maria sein und Gott in mir gebären,
Soll er mir ewiglich die Seligkeit gewähren.
 
Wird Christus tausendmal zu Bethlehem geboren,
Und nicht in dir, dann bleibst du doch verloren.
 
Ich sag', es hilft dir nicht, das Christus auferstanden,
Wo du noch liegen bleibst in Sünd' und Todesbanden.
 
Das Kreuz von Golgatha kann dich nicht von dem Bösen,
Wo es nicht auch in dir wird aufgericht', erlösen.
 
Ich glaub' an keinen Tod; sterb' ich auch alle Stunden,
Hab' ich doch jedes Mal ein besser Leben 'funden.
 
Gott zeuget seinen Sohn, und weil es außer Zeit,
So währet die Geburt auch bis in Ewigkeit."
 
(Angelus Silesius)
Aus: Blätter zur Pflege des Höheren Lebens, Nr. 5, Ullrich-Verlag, Calw
 
 


Autor: Erhard Bäzner