Das Denkprinzip -

die komplexe Natur von Manas

Shirley Nicholson

Der Verstand (Manas) hat eine doppelte Rolle. Zusätzlich zu seinem konkreten Aspekt, der hauptsächlich mit unserem persönlichen Leben und unseren per­sönlichen Angelegenheiten befasst ist, hat er auch einen universalen Aspekt, der nach den Worten Lama Govindas „ungestört durch Egoismus und unbewegt von Unterscheidungen, Wünschen und Abneigungen"1 ist. Im Gegensatz zu Kama-Manas, dem Wunschverstand, ist diese Ebene Buddhi-Manas. Ihre Funktion hat mit dem abstrakten, begrifflichen Denken, mit dem Zusammenfügen und Verbinden und mit dem Erkennen vereinheit­lichender Prinzipien zu tun, nicht mit dem Zergliedern und Trennen, wie es der konkrete Verstand tut. Die Ebene von Buddhi-Manas ist die Quelle von Inspiration und schöpferischer Erkenntnis, sei es auf wissenschaftlichem, mathematischem, philosophischem oder künstlerischem Gebiet. Erleuchtet von der Intuition offenbart dieser universale Aspekt des Verstandes den tiefe­ren Sinn des Lebens. Er kann uns ein Gefühl von Heiterkeit geben, wenn wir die Prinzipien und Gesetze beachten, die das Weltall regieren. Es ist dies der Bereich universaler Wahrheit - des Guten, Wahren und Schönen Platos. Nur wenige Menschen haben das volle Potential dieses Selbst-Aspektes entwickelt, aber wir können im Verlauf der Geschichte hervorragende Beispiele dafür in den genialen Menschen sehen, die auf allen Gebieten zum Fort­schritt der Kultur beigetragen haben.
 
Die einzigartige Fähigkeit der Selbsterkenntnis hat ihre Wurzeln in dieser Ebene des Geistes. Nur wir Menschen können sozusagen aus unserem eige­nen Denken heraustreten und es bei seiner Tätigkeit beobachten. Wie der Existentialpsychologe Rollo May erklärte: „Die Fähigkeit, über eine unmit­telbare Situation hinwegzuschreiten, ist das grundlegende und einzigartige Merkmal der menschlichen Existenz."2 Alles, was wir zu tun haben, besteht darin, unsere Aufmerksamkeit auf unsere inneren Vorgänge zu richten, auf den Strom unserer Gedanken, Gefühle und Sinnesempfindungen. Während wir das Wirken unseres Denkens beobachten, konkretisieren wir zugleich unsere eigenen Gedanken und Gefühle. Die Subjekt-Objekt-Spaltung zieht eine Grenze zwischen unserem Bewusstsein und unseren inneren mentalen Prozessen. So können wir tatsächlich wahrnehmen, dass wir ein Bewusstsein sind, das in Träger oder Felder eingeschlossen ist, das Selbst im emotionalen und im mentalen Körper. Aber wir neigen dazu, uns mit diesen Körpern und ihrer in hohem Maß individuellen Art von Verhaltensmustern zu identifizie­ren. Wir empfinden, dass wir unsere Verhaltensweisen, unsere Vorlieben, unsere gewohnten Emotionen usw. sind. Unser Selbstbewusstsein stellt das Ego heraus, und wir schneiden uns von Atman ab, das nie von dem Einen ge­trennt ist und schließen uns in dessen begrenzten Ausdruck in der Welt ein. Wir vergessen unsere himmlischen Wurzeln und beschränken unsere Auf­merksamkeit auf Nebensachen.
 
Was aber abstraktes Denken und den Gebrauch von Symbolen er­möglicht, ist diese Fähigkeit des Verstandes, sich selbst zu beobachten. So wie wir uns von dem Strom der Erfahrungen freimachen können, können wir auch Symbole mit ihnen verbinden. Ganze Bereiche spezifisch menschlicher Tätigkeit, wie Sprache, Mathematik und Musik, beruhen auf unserer Fähig­keit zu symbolisieren. Mit Symbolen umzugehen, ist eine typisch menschli­che Funktion. Selbst das Wort Mensch ist von dem Sanskrit-Wort Manas abgeleitet und weist auf unsere einzigartige Natur als Denker und Erzeuger von Symbolen hin.
 
Rollo May betont auch unsere Fähigkeit, über die unmittelbare Lage hin­auszuwachsen -
 „außerhalb zu stehen und auf sich selbst zu blicken, verleiht die Macht, sich selbst einzuschätzen und durch eine unbegrenzte Vielfalt von Möglichkeiten zu führen." Dies ist auch die Quelle unserer Fähigkeit, den Ausgang unserer Tätigkeiten vorauszusehen und für die Zukunft zu planen, indem wir die Symbole mental gestalten. Dies verleiht uns die Kraft der Wahl und macht uns daher für unsere Handlungen verantwortlich.
 
H. P. Blavatsky stellt unsere Fähigkeit zur Selbsterkenntnis in einen evolutionären Rahmen. Atman, der Geist, ist auf seiner eigenen Ebene nicht seiner selbst bewusst, ebensowenig sind es auch die Geschöpfe, die weniger entwickelt sind als die Menschen. Der Verstand, Manas, ist nötig, um Atman, einen Strahl des einen göttlichen Lichtes, auf einen Brennpunkt zu konzentrieren.
 „Es besteht auf dieser unserer Ebene keine Möglichkeit zu einer Schöp­fung oder zu Selbstbewusstsein in einem reinen Geist, solange seine zu homogene und vollkommene - weil göttliche - Natur nicht mit einem bereits differenzierten Element vermischt und durch dieses gestärkt wird. Es ist Manas, das dieses notwendige Bewusstsein auf der Ebene der differenzierten Natur liefern kann". (Geheimlehre)
 
Manas ist daher sowohl der Sitz unserer Individiualität als auch das Tor zur Einheit. Herabblickend festigt es das getrennte Selbst und Ego, empor­blickend vereint es uns mit dem All.
 
 Uralte Weisheit, moderne Erkenntnis,
Kassel 1989, S. 183 ff.
 
1 Govinda, Lama A., Foundation of Tibetan Mysticism, New York, 1974.
 
2 May, Rollo, Existence, New York, 1958.
 
 


Autor: Shirley Nicholson