Das dynamische Weltall
Das alte aus dem Judentum übernommene christliche Weltbild war statisch: Gott schuf im Anbeginn der Zeiten die Welt, „er sah an alles, was er gemacht hatte; und siehe da, es war sehr gut“ (1 Mose 1, 31). Das Werk Gottes war damit nach der alten Auffassung vollendet: „Also ward vollendet Himmel und Erde mit ihrem ganzen Heer. Und also vollendete Gott am siebten Tage seine Werke … und ruhte am siebten Tage von allen seinen Werken“ (1 Mose 2, 1 und 2). Die weitere Einwirkung auf die Welt beschränkte sich danach - von einzelnen willkürlichen Eingriffen abgesehen - darauf, dieser Welt ein Gesetz zu geben. Die Aufgabe des Menschen aber bestand in nichts anderem als darin, dieses Gesetz zu beachten.
Diese Auffassung beherrschte auch das ursprüngliche Christentum. Nach dem Evangelienbericht erwarteten die Jünger Jesu, aber auch Jesus selbst, dass die ‚Endzeit‘ noch zu Lebzeiten der Jünger kommen werde. Diese Endzeiterwartung und die Betrachtung der Erde als Prüfungsort hingen der christlichen Weltanschauung noch lange nach; Ansätze, sich aus ihr zu befreien, konnten sich nur schwer entfalten.
Ganz verschieden hiervon war die indische Auffassung von der Welt. Ihr lag ein Entwicklungsgedanke zugrunde. Die indische Auffassung nahm an, dass es neben der körperlichen Entwicklung eine parallel mit dieser vor sich gehende geistige Entwicklung gab. Außerdem kennzeichnete sie auch die der späteren platonischen Ideenlehre nahestehende Vorstellung, dass die sichtbare Welt das Ergebnis einer Materialisierung unsichtbarer Gedankenwelten ist.
Wenn wir diesen Gedanken folgen und sie mit unseren heutigen wissenschaftlichen Erkenntnissen verbinden, so gelangen wir zu Ergebnissen, die etwas wie folgt umrissen werden können:
Der Evolution der Formen geht eine Involution des Geistes voraus. Die geistigen Urkräfte im Weltall materialisieren sich und sind daher keimhaft in jedem Atom verborgen, ehe sie mit der materiellen Welt die große Reise der Evolution antreten, die über die Zelle zur Pflanze, zum Tier, zum Menschen und zum Übermenschen führt.
Von der darwinistischen Biologie weicht diese Auffassung insofern ab, als sie das Entstehen höherer und vorgeschrittener Arten nicht bloß auf natürliche Zuchtwahl und Mutationen zurückführt. Sie nimmt vielmehr an, dass die Entwicklung nach einem durch die Involution des Geistes vorgezeichneten Entwicklungsplan von inneren Kräften gelenkt wird, welche die natürlichen Faktoren nur benützen.
Wenn wir von der allgemeinen Entwicklung absehen und uns nur auf die des Menschen beschränken, so gelangen wir zu drei Grundgedanken:
1. Zu der Vorstellung von der Wiedergeburt oder Reinkarnation. Dies besagt, dass der menschliche Geist sich nicht nur einmal, sondern viele Male in einem irdischen, mit einer Psyche - d.h. mit Gefühl und Verstand - begabten Leib verkörpert.
2.Zu der Vorstellung, dass der Mensch sich geistig, seelisch und körperlich entwickelt. Die Erde ist für den Menschen nicht Prüfungsort für seine Gesetzestreue, sondern Schule und Trainingsstätte für seine Entfaltung.
3. Zu der Annahme einer grundsätzlichen Kausalität. Danach gibt es keinen jenseits der Schöpfung stehenden Gott, der die Gesetze des Universums - da von ihm gegeben - aufheben und willkürlich Gnaden erteilen kann.
Die geistige Urkraft wohnt vielmehr dem Weltall inne und bewirkt auch für den Bereich des Menschen eine Kausalität, welche nicht nur den physischen, sondern auch den moralischen Bereich umfasst. Für diese Kausalität hat sich heute auch im Westen der indische Ausdruck „Karma“ eingebürgert.
Quelle: Nobert Lauppert, Pilgerfahrt des Geistes, Graz 1972; Kap.2.
Autor: Norbert Lauppert