Das Gedächtnis der Erde

 
Vorbemerkungen (Ch. Wegner)
Vor einiger Zeit berichteten wir über die Neuerscheinung von G. W. Russells Licht der Erleuchtung (The Candle of Vision) im Bochumer Universitätsverlag.
Überraschend für manche, fuhrt Russell hier nicht durch die äußeren Stationen seines Lebens, sondern er nimmt den Leser mit in seine inneren Entdeckungsreisen. Dabei geht es ihm nicht um wortreiches Ausbreiten eigener Schauungen, vielmehr möchte er Zeugnis ablegen für verborgene, in jedem Menschen vorhandene Pforten und Schatzkammern inneren Lebens, die im Laufe der Entwicklung und durch geistig-seelische Disziplin und Ausrichtung zugänglich sind. Russell erspürt Stufen und Klippen seines eigenen Weges und vermittelt dabei Hinweise allen jenen, denen die begrenzte, physisch-materiell geprägte Lebenssicht nicht aus­reicht. Wer ahnt, dass der Mensch mehr ist als ein denkendes Tier und nicht glauben kann, dass Geist und Vernunft bloße Schwingungsmuster im Gehirn sind, nimmt solche Aufzeichnungen mit Genugtuung zur Kenntnis, sind sie doch ein Dokument wider den Agnostizismus unserer Zeit.
Ahnungen, die sich erst jetzt langsam Bahn brechen, von der essentiellen Einheit allen Lebens, der Vernetztheit seiner vielfältigen Erscheinungen, sind für Russell Kennzeichen einer Wirklichkeit, die ihm durch das "Licht der Erleuchtung" sichtbar werden. Seine inneren Sinne vermitteln ihm Einsicht in das "Gedächtnis der Erde" (s. u.), ebenso auch in "Das Gedächtnis des Geistes" und andere Bereiche, von denen er in seiner Autobiographie Kunde gibt.
Es ist eine Besonderheit in Russells Niederschrift, die dem "nicht sehenden" Leser entgegenkommt, dass er seine Vision reflektierend kommentiert, Themen wie Imagination und Intuition aus spiritueller Sicht beleuchtet, dabei auch die Erklärungen der Psychologen in Betracht zieht. Nicht uninteressant seine diesbezügliche Feststellung: sie kämen ihm zuweilen vor wie Versuche von Blinden, "die gern zeichneten, allerdings ohne zu sehen, was." Eigene Erfahrungen leiten ihn zu der Gewissheit, die übrigens in die Richtung neuerer Bewusstseinsforschung weist, "dass Vision und Ekstase von Gesetzmäßigkeiten abhängen und allen offen stehen und dass dies von größerer Wichtigkeit sei als die eigentliche Botschaft der Seher".
Russells wacher, zielgerichteter Geist, die Fähigkeit zur Selbstkritik und die Lauterkeit seines Charakters bewahren ihn davor, in Niederungen verschwommener Medialität abzusinken. Im Gegenteil, strenge Selbst­disziplin und Meditation, die er in einem eigenen Kapitel seines Werkes beschreibt (s. Theosophie heute, 3/2005), haben ihm anscheinend ein Tor in die höheren Dimensionen seines Geistes geöffnet.

 

Das Gedächtnis der Erde

 
George William Russell
 
Wir erleben das romantische Abenteuer und die freudige Spannung einer Reise auf unerforschten Meeren, wenn die Vorstellungskräfte von der albernen Meinu ng befreit werden, die in Tagtraum und Traum gesehenen Bilder seien nur eine umgemodelte Form der Erinnerung. Indem wir die i n Gesichten erschienenen Formen bis zum Ursprung zurückverfolgen, entdecken wir ihre vielfältige Herkunft - wie, dass einige aus dem Denken anderer stammen und dass man von anderen geradezu vermuten muss, dass sie abgetrennte Teile der Erderinnerungen sind, auf die wir Zugriff haben. Wir entwickeln bald den Gedanken, dass unser Gedächtnis nur ein Teil jenes ewigen Gedächtnisses ist und dass wir während unserer Lebensspanne unzählige Erfahrungen sammeln, für ein mächtigeres Wesen als unser eigenes. Je kräftiger wir mit dem inneren Auge sehen, desto schneller kommen wir zu dieser Überzeugung. Jene, die verschwom­men sehen, bescheiden sich mit verschwommenen Erklä­rungen, welche die, die klar sehen, sofort als unzureichend verwerfen.
(Fortsetzung folgt)
 


Autor: George William Russell