Das Gedächtnis der Erde

 
George William Russell
 
Wir erleben das romantische Abenteuer und die freudige Spannung einer Reise auf unerforschten Meeren, wenn die Vorstellungskräfte von der albernen Meinu ng befreit werden, die in Tagtraum und Traum gesehenen Bilder seien nur eine umgemodelte Form der Erinnerung. Indem wir die i n Gesichten erschienenen Formen bis zum Ursprung zurückverfolgen, entdecken wir ihre vielfältige Herkunft - wie, dass einige aus dem Denken anderer stammen und dass man von anderen geradezu vermuten muss, dass sie abgetrennte Teile der Erderinnerungen s ind, auf die wir Zugriff haben. Wir entwickeln bald den Gedanken, dass unser Gedächtnis nur ein Teil jenes ewigen Gedächtnisses ist und dass wir während unserer Lebensspanne unzählige Erfahrungen sammeln, für ein mächtigeres Wesen als unser eigenes. Je kräftiger wir mit dem inneren Auge sehen, desto schneller kommen wir zu dieser Überzeugung. Jene, die verschwom­men sehen, bescheiden sich mit verschwommenen Erklä­rungen, welche die, die klar sehen, sofort als unzureichend verwerfen.
 
Wie lässt sich erklären, was vielen passiert ist, und oftmals auch mir, dass, wenn wir in uraltem Gemäuer oder alten Häusern sitzen, sich diese für uns noch einmal mit Leben füllen? In einer zerstörten Kapelle wartete ich auf einen Freund, und während ich dort weilte, erstand der Schein ihrer alten Verwendung sehr lebhaft vor mir. Vor dem Altar sah ich eine kleine Menschenmenge knien, aus der eine Frau in einem roten Gewand herausstach, sehr fromm und gefühlsmäßig gesammelt. Hinter ihnen, an die Wand gelehnt, stand ein Mann, als sei er zum Knien zu stolz. Ein alter Mann in
kirchlichen Gewändern, ein Abt oder Bischof, stand aufrecht, den Stab in der
einen Hand, während er die andere zum Segen erhob oder um seinen Worten
Nachdruck zu verleihen. Hinter dem Kirchenmann trug ein Junge ein Gefäß, und
das Gesicht des Halb­wüchsigen war voller Dünkel wegen seiner eigenen Wichtigkeit.
 
Ich sah dies alles plötzlich, als sei ich Zeitgenosse und um Jahrhunderte länger in der Welt. Ich konnte mich in Mutmaßungen ergehen über die gefühlsmäßige Hingabe der rotgekleideten Dame, die stolze Gleichgültigkeit des Mannes, der dastand, den Kopf nur leicht gesenkt, die Eitelkeit des Jungen, als Ministrant in der Zeremonie, genauso wie wir heute in einer Kirche die verschiedensten Stimmungen der Anwesenden auffangen können. Irgend etwas kann solche Bilder in lebhafter Beleuchtung vor uns zum Erstehen bringen, ein Satz in einem Buch, ein Wort oder die Berührung mit einem Gegenstand. Ich habe über die Rasenhügel gegrübelt, die alles sind, was von den Festungen noch übrig ist, worin unsere keltischen Vor­fahren lebten, und sie bauten sich für mich wieder zusammen, so dass ich anschauen konnte, was anscheinend eine frühere Zivilisation war, sah die Menschen,
bemerkte ihre Kleidung, die Farben Naturwolle, Safrangelb oder Blau und wie
rauh sie war, genau wie unser eigenes Handgesponnenes; sogar solche
Einzelheiten waren zu sehen, wie dass die Männer bei Tisch das Fleisch mit
Messern zerschnitten und mit den Fingern zum Mund führten.
 
Das ist nun nicht, und davon bin ich überzeugt, was man gemeinhin »Einbildung« nennt, ein innerer, schöpferischer Vorgang als Reaktion auf die natürliche Neugierde gegenüber vergangenen Zeitaltern. Es ist ein visueller Akt, das Wahrnehmen von bereits existierenden Bildern, hingehaucht auf ein ätherisches Medium, das sich in keiner Weise vom Träger unserer Erinnerungen unterscheidet; und das erneute Wahrnehmen eines Bildes in der Erinnerung, die persönlich ist, unterscheidet sich als über­sinnlicher Vorgang
keineswegs von der Wahrnehmung von Bildern in der Erderinnerung. Dieselbe
Sehkraft wird auf Dinge derselben Wesensart und Substanz gerichtet. Nicht nur
Felsblöcke und Ruinen stecken uns mit solchen Visionen an. Ein Wort in einem
Buch bringt das auch fertig, wenn man sensibel ist. Ich suchte in einem
klassischen Wörterbuch Auskunft über einen gewissen Mythos. Was mir sonst
noch auf dieser Seite ins Auge fiel, vermöchte ich nicht mehr zu sagen, aber
etwas bewirkte, dass zweitausend Jahre verschwanden. Eben sah ich mir den Garten eines Hauses in irgendeiner antiken Stadt an. Vom Haus kamen zwei Mädchen in den Garten geflattert, das eine in einem purpurnen, das andere in einem grünen Gewand, und rannten, vor Aufregung herumtanzend, zur Gartenmauer und guckten darüber nach rechts. Dort stieg eine Straße steil einen Hügel an, wo ein säulengeschmücktes Gebäude
stand. Im blendenden Sonnenlicht konnte ich eine sich die Straße
herunterschlängelnde Menschenmenge erkennen, die sich auf das Haus
zubewegte, und die beiden Mädchen waren so aus dem Häuschen, wie es
heutzutage Mädchen sein dürften, wenn König und Königin in ihrer Stadt Einzug
halten.
 
Das sofortige Entstehen von Bildern nach einem flüchtigen Blick auf eine Buchseite kann nicht als das Umarbeiten von Bildern aus dem Gedächtnis erklärt werden. Die Zeit, die vom Schließen des Buches bis zur Erscheinung im Gehirn verstrich, betrug eine Viertelminute oder weniger. Man kann nur vermuten, dass Bilder, so leuchtend bunt, so voller Bewegung und Lebhaftigkeit wie die lebenden Bilder in den Theatern, keine augenblickliche Schöpfung eines Zauberkünstlers in uns waren, sondern aus einem aus­gedehnteren Gedächtnis als dem persönlichen abgerufen wurden, dass die
griechischen Namen, die mir aufgefallen waren, die Kraft von Symbolen besaßen,
die das ihnen Wesensverwandte anzogen, und dass das Bild der auf­geregten
Mädchen und der glänzenden Prozession auf irgendeine Art, wie, weiß ich nicht,
mit dem, was ich gelesen hatte, verbunden war. Wir können das Entstehen
dieser Bilder nicht mit ein paar unbestimmten Phrasen über »Suggestivwirkung«
oder »Phantasie« links liegenlassen und uns vor weiteren Untersuchungen
drücken. Hätte vor fünfundzwanzig Jahren ein Mensch mit den physischen Augen
ein geflügeltes Luftschiff mitten in den Wolken gesehen, wäre er in einen Strudel
von Spekulationen und Fragestellungen geraten. Wäre dasselbe Bild jedoch nur
im Kopf erschienen, hätte man es schnellstens als »bloße Phantasie« begraben. Kein Gedanke wäre daran verschwendet worden, auch wenn das, was in uns erscheint, ebensowohl für wichtiger gehalten werden könnte, als was um uns herum vorgeht. Jede Schattierung, jeder Farbton, jedes Licht oder jeder Schatten auf einem inneren Bild muss ebenso einen plausiblen Grund haben wie die Drähte, Tragflächen, Maschinen und Propeller eines
Flugzeuges. Wir kommen nicht umhin, wenn das Bild klar und genau ist, auf ein 
Original zu schließen, wovon dies die Spiegelung ist. Woher und aus welcher 
Zeit stammen die Ori­ginalbilder, die wir in Traum und Träumerei sehen?
 
Es muss Originale geben; und wenn wir gezwungener-maßen jeden Prozess als undenkbar aufgeben, durch den unsere persönlichen Erinnerungsbilder unbewusst in neue umgestaltet werden könnten, die als glaubwürdige Kopie der Originale erscheinen, die sich bewegen, Licht, Farbe, Form, Schatten besitzen, wie sie die Natur vergeben würde, dann müssen wir wohl glauben, dass die Erinnerung ein charakteristischer Bestandteil aller Lebewesen ist und
ebenso der Erde, des größten bekannten lebenden Organismus, und dass sie
ihre ganze lange Geschichte, die uns zugänglich ist, mit sich herumträgt; Städte,
die längst untergegangen sind, Weltreiche, die zu Staub geworden oder die
zusammen mit versunkenen Kontinenten unter den Wassern begraben liegen.
Die Herrlichkeit, für die Menschen ihr Leben ließen, erstrahlt noch immer; Helena
ist da in ihrem Troja, Deirdre trägt ihre Schönheit zur Schau, die dem roten Zweig
Verderben brachte. Keine alte Überlieferung ist je zugrunde gegangen. Die Erde
bewahrt für sich und ihre Kinder, was diese voller Leidenschaft zerstört haben
mögen, und es lebt fort im Reich des Ewiglebenden, so dass es der mystische
Abenteurer sehen kann. Wir vertreten den Standpunkt, dass dieses Gedächtnis
universal sein muss, denn es gibt keinen erreichbaren Fleck, wo die Erde nicht
Bruchstücke ihrer uralten Geschichte dem sinnenden Geist zuflüstert. Diese
Erinnerungen vergolden die Wüstenluft, wo einstmals die stolzen, bronzefarbenenRassen wohnten und wieder verschwanden, und sie gehen um an den Felsen und Bergen, wo die Druiden ihre Himmels- und Unterwelt­götter anriefen. Die Gesetzmäßigkeit, durch welche diese Geschichte uns zugänglich gemacht wird, scheint dieselbe zu sein, die das von uns Gelernte uns schnellstens zur Verfügung stellt. Nehmen wir Gedanken oder Gespräch über ein Thema auf, merken wir bald, wie uns gebrauchsfertige Erinnerung zuströmt.
Alles in uns, das durch Wesensverwandtschaft mit dem Hauptgedanken
verbunden ist, scheint in Bereitschaft gesetzt zu werden; und in der Meditation
finden wir, dass alle jene fremdartigen Bilder, die wir sehen, nicht die Bilder aus
dem Gedächtnis, sondern unbekannte Landschaften, Städte, Wesen und
Ereignisse, wenn wir sie sorgsam untersuchen, irgendwie mit unserer Gemütslage
in Beziehung stehen.
 
Ist unser Wille mächtig genug, und haben wir durch Konzentration und Durchhaltekräfte das Gehirn zum Leuchten gebracht, können wir aus dem Erdengedächtnis Bilder von allem, was wir wünschen, abrufen. Die Erden­erinnerungen erreichen uns auf verschiedenen Wegen. Sind wir passiv und wird das ätherische Medium, der Träger solcher Bilder, nicht von Gedanken durchlöchert, ist es wie klares Glas oder stilles Wasser, dann erscheint darauf oft ein Spiel von Farbe und Form, was eine mit unserem Ort verbundene
Spiegelung einer Erderinnerung sein kann, oder es ist auch möglich, dass wir
eine direkte Vision dieser Erinnerung empfangen. Die Meditation wiederum
ruft Bildnisse und Bilder hervor, die ihrem Thema und unserer Stimmung
ähnlich sind und als Illustration dazu dienen.
 
Einst, als ich das Spiel geheimer Kräfte im Körper über­dachte, erschien vor mir
ein Buch, mit einem farbigen Symbol auf jeder Seite. Ich erkannte, dass es ein
magisches war, denn unter meinem Blick verschwand eins der Symbole von der
Seite und wurde durch die Umrisse eines menschlichen Körpers ersetzt, worauf
dieser einer inneren Offenbarung davon Platz machte: Kräfte leuchteten auf,
Feuer blitzten rosenfarben, golden, himmelblau und silbern das Rückgrat entlang,
strömten ins Gehirn hoch, wo sie auf eine kleine Kugel mit einer Leuchtkraft 
wie von weißem Sonnenfeuer stießen, und daraus brachen sie wieder hervor, in einer pulsierenden Bewegung, wie von Schwingen, zu beiden Seiten des Hauptes; dann wurde die Buchseite wieder dunkel und die Abfolge schloss mit dem Stab des Merkur und enthielt nun wieder nur mehr ein Symbol.
 
Solche Bilder steigen ohne bewusste Willensanstrengung auf, werden jedoch
deutlich davon hervorgerufen. Schließlich, aber seltener für mich, da die
benötigte dynamische Willensintensität schwierig zu erlangen war, gelang es
mir zuweilen willentlich, aus dem Gedächtnis der Natur Bilder von Personen
oder Dingen aus längst vergangenen Zeiten hochzuholen, die ich jedoch
kennenlernen wollte. Heute bedauere ich, dass ich, als ich jung und meine
Energie unverbraucht war, diese Kunst des Abrufens nicht öfter ausübte, hinsichtlich solcher Dinge, deren Beherrschung sich spirituell gelohnt haben könnte; aber ich war wie ein Kind, das eine ganze Garnitur neuer Spielsachen entdeckt und mit einem nach dem andern spielt - ich war an allem, was auf mich zukam, interessiert und gab mich nur zu oft damit zufrieden, der Diener meiner Vision und nicht ihr Herr zu sein. Für einen, der in einem kleinen Landstädtchen in Irland geboren worden war,bedeutete es
ein spirituelles Abenteuer zu merken, wie sich der Kreis der Existenz zu weiten
begann, so dass sich das Leben zu einem Paradies herrlicher Erinnerungen
auszubreiten schien, in vergangene Zeitalter hinaufreichte und sich mit dem
ewigen Bewusstsein der Erde vermischte; und wenn wir dann auf etwas Neues
stoßen, halten wir inne, um es zu betrachten und eilen nicht ans Ende der Reise.
 
Die hier aufgeführten Beispiele von Erdenerinnerungen sind an sich unbedeutend und werden nicht gewählt, weil sie in irgendeiner Weise großartig wären, sondern eher, weil sie dem gleichen, was viele Leute sehen, und so werden diese meinen Ausführungen bereitwilliger folgen. Die Tatsache, dass die Erde solche Erinnerungen bewahrt, ist in sich bedeutsam, denn haben wir einmal diese un­vergängliche Schreibtafel entdeckt, liegt die Spekulation nahe, ob in der Zukunft die Schulung zum Seher nicht zu einer Revolution im menschlichen Wissen führen dürfte. Es ist dies eine Welt, worin
wir uns leicht verirren und Stunden in vergeblicher Träumerei vergeuden
können, ohne mehr Gewinn davon zu haben, als wenn wir stundenlang in den
Staub starrten. Für jene, vor denen in ihrer spirituellen Entwicklung diese
Erscheinungen erstehen, möchte ich sagen:
Suchen Sie nach den größten Erdenerinnerungen und rufen Sie diese
hervor, nicht jene Dinge, die nur Neugierde befriedigen, sondern die, die
erheben und begeistern und uns eine Vorstellung unserer eigenen Größe
geben. Die edelste aller Erdenerinnerungen ist das erlauchte Ritual der
alten Mysterien, worin der Sterbliche, in feierlichen Auftritten
unbeschreiblicher Größe, seiner Sterblichkeit entkleidet und in die
Gesellschaft der Götter aufgenommen wurde.
 
 
 
Das Buch ist 2005 im Europäischen Universitätsverlag in Bochum
erschienen (ISBN 3-86515-037-3), dem wir für die freundliche
Genehmigung zum Abdruck des obigen Auszugs danken.
 


Autor: George William Russell