Das Gemeinschaftsleben im
theosophischen Lichte
Martin Beutin
Der Sinn unseres Daseins liegt nicht im Einzelleben,
sondern im Leben in der Gemeinschaft. Wohl kommt es vor, daß sich der Mensch
auf kurze Zeit in sich zurückzieht und die Einsamkeit wünscht — besonders nach
großen Erlebnissen und seelischen Erschütterungen —, aber doch nur, um sich
wieder sammeln und die von außen gekommenen Eindrücke in sich verarbeiten zu
können. Ist das geschehen, so drängt es ihn von neuem ins Leben, und nichts ist
geeigneter, ihm reiche Erfahrungen einzubringen, als der Umgang mit seinen
Mitmenschen.
Nun ist es bekanntlich nicht schwer, mit Leuten
friedlichen Verkehr zu pflegen, die uns freundlich gesinnt sind. Aber: "So
ihr liebet, die euch lieben, was werdet ihr für Lohn haben?"
Wenn wir nur mit den uns sympathischen Menschen
verkehren wollten, könnten wir innerlich nicht wachsen und unsere Fähigkeiten
so ausbilden, als wenn wir Schwierigkeiten zu überwinden haben. Wie im
Körperlichen die Kräfte nur wachsen, wenn sie geübt werden, so wachsen auch die
geistigen Fähigkeiten nur durch tägliche Übung im Verkehr mit Menschen. Darum
dürfen wir den Schwierigkeiten nicht aus dem Wege gehen, dürfen dem Kreis, in
den uns das Schicksal gestellt hat, nicht den Rücken wenden.
"Teuer ist mir der Freund, doch auch der Feind
kann mir nützen; zeigt mir der Freund, was ich kann, lehrt mich der Feind, was
ich soll", sagt
Schiller, und Mabel Collins äußert: "Kein Mensch ist dein Feind,
kein Mensch dein Freund; alle sind gleichermaßen deine Lehrer." Und:"Dein Feind tritt als Geheimnis vor dich, das ergründet werden muß,
erfordere es auch Menschenalter; denn der Mensch muß verstanden werden." Wer
am Menschen nicht scheitern will, trage den unerschütterlichen Entschluß des
Durch-ihn-lernen-wollens wie einen Schild vor sich her.
So wollen wir versuchen, die Natur und die Ursache der
uns im Menschen begegnenden Schwierigkeiten zu erkennen und die Mittel und Wege
zu ihrer Beseitigung aufzufinden. Der Endzweck alles Zusammenlebens liegt nicht
im Streiten, sondern im Frieden, wie Tolstoi sagt: "Das Gesetz des
Lebens ist nicht der Kampf, sondern das einander Dienen der Wesen."
Als Ganzes genommen bildet die Menschheit eine einzige
große Familie, eine Einheit. Ihr Zusammenleben geschieht in den verschiedensten
Formen und Stufen: vom Hordenleben der Naturvölker bis hin zur festgefügten Ehe
und zu den durchorganisierten Staaten der Kulturvölker. In ihnen allen gibt es
Schwierigkeiten; Gegensätze sind überall vorhanden und steigern sich zuweilen
so sehr und treffen den Menschen so hart, daß er glaubt, sie nicht ertragen zu
können. Wie kann man da erwarten, daß die Völker sich brüderlich die Hand
reichen? Nur zu begreiflich ist der Wunsch aller Menschen, einen Schlüssel zu
finden, der sie aus dem Unfrieden herausführt.
Die Wurzel aller Streitigkeiten und Schwierigkeiten
unter den Menschen liegt einzig und allein in der Nichterkenntnis unserer
wahren, gemeinsamen göttlichen Natur. Solange wir in unserem Mitmenschen etwas
von uns Getrenntes erblicken, etwas anderes als uns selbst, d. h. unser eigenes
höheres Selbst, ist nicht "der Friede voll". Es gibt in Wirklichkeit
nur eine Schwierigkeit, nur eine Sünde; es ist die Absonderung von Gott und
seiner Schöpfung, die ja im Wesen Gott ist. Es ist ein innerlich unsichtbares
und äußerlich sichtbares Sichabwenden von den Mitmenschen und damit von Gottes
Schöpfung. Wenn wir aber die menschliche Natur richtig studieren, so studieren
wir gleichzeitig die Natur der uns begegnenden Schwierigkeiten; diese liegen
nicht außerhalb uns selbst, in den Mitmenschen, sondern genauso in uns selber
begründet.
Die theosophische Lehre von der Wiederverkörperung der
menschlichen Seele hilft uns zum Verständnis der Mitmenschen wie auch zur
Überwindung der Unstimmigkeiten. Beim Hinabsteigen des Egos in die irdische
Welt umgibt es sich jedesmal mit verschiedenen Hüllen, dem Seelenorganismus,
um auf verschiedenen Ebenen arbeiten zu können. Je nach den von ihm in früheren Erdenleben
gemachten Erfahrungen sind die Hüllen der einzelnen Menschen verschieden; die
Seelen besitzen verschiedene "Anlagen", die sie sich wie ein Kleid
"anlegen". Wie an einem Baume nicht zwei Blätter völlig gleich sind,
so gibt es auch nicht zwei Menschen mit ganz gleichen Anlagen. Und das ist gut
so! Offenbart sich doch der Schöpfer in seinem Weltall, in der Natur, in
ausgesprochener Mannigfaltigkeit, läßt Tausende von Arten im Mineralreich, an
Pflanzen und Tieren entstehen, und welcher Mensch würde ernstlich wünschen,
daß es nur eine Art von Stein, nur eine Sorte Pflanzen oder Tiere geben möge?
Jede Gattung ist gut in ihrer Art: der Diamant in seinem Glanze und seiner
Härte, die Rose in ihrem Dufte, der Tiger in seiner Wildheit! Alle sind
daseinsberechtigt und erfüllen ihre Aufgabe, wenn sie nach ihrer Eigenart leben
können. Diese Eigengesetzlichkeit, die in der ganzen Natur waltet, will nur der
Mensch nicht anerkennen. In Selbstwahn und Selbstsucht verstrickt, wollen wir
nicht dulden, daß der andere sich nach seiner Eigenart einrichtet und danach
handelt. Hier ist die Quelle der Reibereien unter uns zu suchen. Immer
wünschen, ja verlangen wir, daß sich die anderen Menschen auf unsere
Vorstellungen, Empfindungen und Handlungen einstellen. Solches ist ihnen gar
nicht immer möglich, jedenfalls nicht freiwillig; denn ein jeder macht sich sein
eigenes Bild von der Welt und handelt danach. Alles gewaltsame Einwirken auf
die Handlungen eines Menschen, alle Beeinflussung, die gegen seine Natur geht,
ist zu verwerfen.
Freilich ist zu unterscheiden zwischen Beeinflussung
und Erweckung. Beeinflussung kommt von außen her; sie kann bewußt oder unbewußt
geschehen: stets ist sie auf etwas Zusätzliches, eigentlich Fremdes, gerichtet.
Dagegen ist Erweckung eine Entdeckung oder Enthüllung dessen, was im Menschen
ist, war und ewig sein wird: des Guten, Wahren und Schönen, des Göttlichen! Nur
wer aus seinem Dornröschenschlaf zum himmlischen Lichte erwacht ist, kann
andere erwecken und Begeisterung entfachen. Nur eine entzündete Kerze kann eine
andere zum Leuchten bringen, obwohl in beiden das Feuer latent vorhanden ist.
Suchen wir also in unserem Mitmenschen nicht das Äußere auf, suchen wir das
Göttliche, das in allen Menschen vorhanden ist.
Wenn wir unsere Mitmenschen verstehen lernen wollen,
ist es wichtiger, daß wir die Mitmenschen verstehen, als daß wir von ihnen
verstanden werden. Wir müssen uns darüber klar sein, daß die Menschheit in der
Entwicklung begriffen ist und jeder eine besondere Stufe dieser Entwicklung
darstellt. Bei allem Tun kommt es nur auf die Beweggründe an, die zu den
Handlungen führten. Wir können kaum wissen, aus welchen Motiven ein anderer
handelt, aber bei genauer Prüfung des eigenen Gewissens werden wir oft
beobachten können, daß die Motive, die wir bei unseren Brüdern verurteilen,
auch uns selbst bestimmt haben. Wir werden finden, daß alles, was wir an
unserem Freunde zu tadeln haben, noch in unserer eigenen Natur als Hemmnis
versteckt liegt, daß das, was wir an anderen als Mangel wahrnehmen, uns selbst
am meisten fehlt.
"Ob du dich selber erkennst? Du tust es sicher,
sobald du mehr Gebrechen an dir als an anderen entdeckst", sagt Hebbel in
seiner Selbsterkenntnis. Wie jemand in sich selber beschaffen ist, so urteilt
er über äußere Verhältnisse. Die Klarheit darüber führt uns von außen nach
innen. Es handelt sich darum, zuerst seine eigene Natur kennenzulernen und an
ihrer Reinigung zu arbeiten. Durch die Überwindung unserer eigenen niederen
Natur erlangen wir allmählich die Fähigkeit, das Innenleben anderer
mitzuempfinden, und diese Fähigkeit ist der Anfang aller Weisheit im Verkehr
mit unseren Mitmenschen.
Wir überwinden alle Spannungen und Unzuträglichkeiten
in unserem Leben, wenn wir uns unserer Göttlichkeit und unserer darauf
beruhenden Einheit mit allem bewußt werden. Die Hindernisse, die dieser
Offenbarung entgegenstehen, müssen beseitigt werden. Zum wahren Menschentum,
zur Brüderlichkeit, gelangen wir nur, wenn dauernd alle Haßgefühle, ja auch
alle Gleichgültigkeit in Liebe umgewandelt werden. Zunächst muß das innerhalb
der Familie geschehen; hat die Liebe dort Kraft gewonnen, so breitet sie sich
ganz von selbst aus auf Verwandte, die Gemeinde, das Volk, die Menschheit, bis
sie endlich alle fühlenden Wesen umschließt.
Die Erkenntnis der Einen Wahrheit und Wirklichkeit in
uns und allen Wesen, das ist die Theosophie. Theosophie allein kann uns von allem Selbstwähnen und Eigenwillen
erlösen. Wenn der Mensch Theosophie erlangt, wenn das göttliche Selbst in ihm
auferstanden ist, gewinnt er seine Freiheit von allen Schwierigkeiten und
Notwendigkeiten; er lebt für alles, was lebt. Die Verwirklichung solcher
Erkenntnis ist der Sinn unseres Lebens überhaupt, der Zweck unseres Daseins.
Herrscht in einer Gemeinschaft der lebendige, aktive Glaube an die geistige
Bruderschaft der Menschen, so ist es mit ihr wohlbestellt, und der Segen kann
nicht ausbleiben. Der Weg zum Herzen unserer Brüder ist nur einer: Der Weg
durch unsere Göttlichkeit zur Göttlichkeit im anderen. Er ist der unmittelbare
Weg, die Wahrheit und das Leben.
Autor: Martin Beutin