DAS GESETZ DER KAUSALITÄT
 
Der Vorstellung von Karma liegt die Auffassung zugrunde, dass der gesamte Kosmos ein organisches Gebilde ist, eine Gesamtheit ineinanderwirkender Kräfte. Jeder Gedanke, jedes Gefühl und jede Handlung wirkt nicht nur auf den Gegenstand, auf den sie unmittelbar gerichtet ist, sie verändert vielmehr das Kräftegleichgewicht im ganzen Kosmos. Sie wirkt daher in zweifacher Weise auf ihren Urheber zurück,
a) in einer direkten persönlichen Beziehung,
b) in einer indirekten Form.
Durch jeden Gedanken, jedes Gefühl und jede Handlung werden nämlich verschiedene Kräfte und ihre Beziehungen zueinander beeinflusst:
1. Das individuelle Kräftespiel
a) innerhalb des Menschen, der den Gedanken oder das Gefühl aussendet oder die Handlung vornimmt, und
b) in der Person oder dem Gegenstand, auf den sie gerichtet sind.
Dieses Kräftespiel umfasst chemische, biologische und psychische Kräfte, beim Menschen zudem noch die individuelle geistige Entwicklungstriebkraft, die ihm zufolge seines göttlichen Geistesfunkens innewohnt.
2. Das kollektive Kräftespiel der ganzen Erde, und zwar
a) als Gesamtheit der Einzelkräfte aller auf der Erde lebenden Wesen in allen Naturbereichen, und
b) die kosmische Entwicklungstriebkraft, die, von einem überweltlichen Bereich ausgehend, für unseren ganzen Planeten, ja für unser Sonnensystem eine kollektive Entwicklung bewirkt.
3. Das Gleichgewicht, die Harmonie zwischen dem individuellen und dem kollektiven Kräftespiel,
insbesondere die Harmonie zwischen der individuellen und der kosmischen Entwicklungstriebkraft, die sich, wie wir im vorherigen Kapitel gesehen haben, im individuellen und kollektiven Dharma (Pflicht, Gebote) ausdrückt.
Schon aus dieser knappen Zusammenfassung ist zu ersehen, wie schwierig es ist, Karma (Gesetz von Ursache und Wirkung) zu definieren. Es ist keine bloße Buchhaltung mit Eintragungen auf der Soll- und Habenseite, keine Waage, bei der ‚gute‘ Taten auf die eine und ‚böse‘ Taten auf die andere Waagschale gelegt werden, sondern ein kompliziertes Gefüge lebendiger Kräfte.
Karma ist aber auch kein starres, von einer höheren macht verhängtes Schicksal, gegen das man nicht ankämpfen kann, es ist vielmehr das eigene Werk jedes Menschen. Er hat in vergangenen Zeiten - in früheren Leben sowohl als auch in diesem Leben - dieses komplizierte kosmische Kräftespiel beeinflusst und verändert, und diese Veränderungen wirken jetzt wieder auf ihn zurück.
Da das Schicksal aber das eigene Werk des Menschen ist und er ständig weitere Kräfte in das kosmische Kräftespiel aussendet, ist das Schicksal in beträchtlichem Maße veränderbar. Die vom Menschen in jedem Augenblick ausgehenden neuen Kräfte verstärken oder neutralisieren ja je nach ihrer Art die vorhergegangenen.
Vor uns steht also das Bild des Menschen als einer Kraft inmitten von Milliarden anderer Kräfte, inmitten einer kollektiven und im letzten Zusammenspiel harmonischen Gesamtkraft. Dabei haben wir zu bedenken, dass diese kosmische Ganzheit nicht, wie man es früher vielleicht getan hätte, mit einem gewaltigen Mechanismus ineinandergreifender Räder, etwa einem großen Uhrwerk, verglichen werden darf, sondern eher mit einem großartigen Ineinanderspiel elektrischer Ströme oder atomarer Schwingungen, oder noch besser mit pulsierenden Blutgefäßen oder zuckenden Nerven, denn alle diese Kräfte wirken nicht mechanisch, sondern leben.
Gewiss ist für die praktische Anwendung die vereinfachende Gleichung nicht ganz unrichtig, dass gute Taten eine gute, wohlgesinnte Umgebung zur Folge haben, schlechte Taten aber eine schlechte, übelgesinnte Umgebung, und ebenso, dass persönliche Anstrengung höhere Begabungen zeitigt, Faulheit sie aber verhindert. Aber: Gut und Böse sind relative Begriffe. Gut ist nicht der, der vermeintlich von Gott vor ein paar tausend Jahren gegebene Gebote beachtet, sondern der Mensch, der sich in den fortdauernden kosmischen Willen, der sich für die Menschheit von Jahrhundert zu Jahrhundert ändert, in rechter Weise einfügt. Gut ist daher in diesem Sinne jener Mensch, der wach für die gegenwärtigen Entwicklungsnöte der ihn umgebenden Menschen und der gesamten Menschheit ist. Hierbei steht im gegenwärtigen Zeitpunkt das Bedürfnis nach einer neuen sozialen Ordnung in allen Lebensbereichen - Familie, Wirtschaft, Kultur usw. - und nach einem neuen sozialen Verantwortungsgefühl im Vordergrund, das an die Stelle der alten zerfallenden patriarchalischen Ordnungen treten muss.
Zum Abschluss dieses Kapitels erscheint eine Gegenüberstellung der Theorie von Karma und Wiedergeburt zu der traditionellen christlichen Einlebenvorstellung zweckmäßig. Die christliche Einlebentheorie birgt zahlreiche innere Schwierigkeiten:
Belohnung und Bestrafung erfolgen im ‚Jenseits‘ - die Wirkung erfolgt also auf einer anderen Daseinsebene als jener, auf der die auslösenden Kräfte eingesetzt wurden.
Die Theorie schwankt zwischen zeitlichen und ewigen Wirkungen. Im Mittelalter stand die Drohung mit der ewigen Hölle im Vordergrund, heute wird diese meist totgeschwiegen und der auf ein zeitliches Fegefeuer folgende ewige Himmel in den Vordergrund gestellt. Werden die Wirkungen betont, ergibt sich eine Inkongruenz zwischen zeitlicher Ursache und ewiger Wirkung. Wird die zeitliche Wirkung betont (Fegefeuer), ergibt sich die Frage, ob das ewige Nachher ursachlos ist.
Dazu kommt noch, dass die immer wieder durchdringende Lehre, dass die ‚Rechtfertigung‘ eigentlich nur durch die Gnade Gottes möglich ist, die wieder vom Glauben an den Opfertod Jesu abhängt, die Gerechtigkeit, d.h. die Angemessenheit der Wirkung im Verhältnis zur Ursache, überhaupt in Frage stellt. (s.a. NT, wörtliche Interpretation der Sätze im „Römerbrief“: 3, 22-24; 3,28; 10,4.)
Schließlich steht die Erschaffung einer neuen Seele für jedes neugeborene Kind im Widerspruch zu dem überall wahrnehmbaren Entwicklungsgesetz. Die Arten aller körperlichen Organismen entwickeln sich durch die Jahrtausende hindurch. Entwickeln sich die Seelen nicht? Oder ist seelische Entwicklung in der Verkörperung eine Ausnahme?
Demgegenüber ist die Lehre von Karma und Wiedergeburt streng logisch: Die Auswirkung jeder eingesetzten Kraft erfolgt auf der ihr eigenen Ebene - physische Handlungen haben physische Wirkungen, psychische Kräfte psychische Wirkungen, und zwar sowohl objektiv (im äußeren Schicksal und den äußeren Beziehungen) als auch subjektiv (in der eigenen Psyche und im eigenen Körper).
Die Auswirkungen im ‚Jenseits‘ zwischen den Verkörperungen beschränken sich daher auf die psychischen Ursachen. (Denn das Physische ist ja im ‚Jenseits‘ nicht mehr vorhanden. Anm. der Red.) Die kausalen Folgen physischen Verhaltens treten erst in der nächsten Inkarnation (Wiederverkörperung) ein.
Die Entwicklung verläuft auch im seelisch-geistigen Bereich ungebrochen. Erst dies ermöglicht eine Entwicklung bis zu menschlicher Vollkommenheit, wie sie - im Widerspruch zu der späteren Einlebentheorie - im Evangelium verlangt wird: „Werdet vollkommen, gleichwie euer Vater im Himmel vollkommen ist!“ (Matth. 5,48)
 
Es folgt Kap. 6: „Was geschieht zwischen Tod und Wiedergeburt?“
Quelle: Nobert Lauppert, Pilgerfahrt des Geistes, Graz 1972; Kap.5.
Das Büchlein ist - wenn überhaupt - nur noch antiquarisch zu erhalten.


Autor: Norbert Lauppert