Das Gewissen -
ein Führer im Strom des Lebens
Hubert Scholz
Nach der Geheimlehre verließ die menschliche Seele vor ungefähr 18 Millionen Jahren ihre kosmische Heimat. Seitdem durchwanderte sie alle Räume des Weltalls, um mit allen Wesen und Formen der verschiedenen Sphären in Verbindung zu treten und um durch Erfahrungen zu lernen und sich zu befähigen, ein zuverlässiger Mitarbeiter an dem göttlichen Entwicklungsplane der Welt zu werden. Für diese lange Wanderung hat der Mensch beim Eintritt ins Dasein einen geistigen Führer als Geburtstagsgeschenk mitbekommen, und dieser geistige Führer ist das Gewissen. Ohne diesen geistigen Führer hätte der Mensch den Weg vom Naturmenschen zum Zivilisierten und Edelmenschen nicht finden können, ja, er wäre schon längst auf die Stufe eines Tieres zurückgesunken. Die Erfahrungen vieler Erdenleben sprechen aus dem Gewissen, und man nennt es daher auch die Sprache der Vergangenheit. Aber es ist nicht nur die Sprache der Vergangenheit, es ist viel mehr. Es ist die Stimme des Guten, Wahren und Schönen, es ist der Ausdruck des göttlichen Willens, der Ausdruck der Stimme Gottes. Es ist deshalb ein zuverlässiger Führer im Strom des Lebens. Es ist unfehlbar, und aus dieser Unfehlbarkeit ergibt sich die große Bedeutung, die das Gewissen für den einzelnen Menschen und für die ganze Menschheit besitzt. Es hat die unmittelbare Fähigkeit, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden, und diese Fähigkeit ist die Wirkung jenes Geistes, der absolute Reinheit und Weisheit ist. Dieser Geist weiß, und deswegen ist jedes Überlegen und Erwägen für ihn überflüssig. Seine Entschlüsse sind unabhängig vom Verstande, der immer nur an die Sinne gebunden ist. Das Gewissen ist eine freie Macht im Menschen. Wie eine Magnetnadel beständig nach Norden zeigt, so weist uns das Gewissen stets den Weg zum wahren Sein, den Weg zu Gott. Das Gewissen bezeichnet das, was sicher ist, was gewiß ist, es bedeutet das Gewisse, das rechte Wissen. Es bezieht sich nicht auf äußere Dinge, nicht auf die stets wechselnden Erscheinungen, sondern auf das Wesen, das allen Dingen als das Dauernde, das Ewige zugrundeliegt.
Wir unterscheiden daher ein zweifaches Wissen. Ein Wissen des Kopfes und ein Wissen des Herzens. Nur das Wissen, das aus dem Herzen kommt und dem höheren Teil des Menschen angehört, ist das rechte Wissen, während das Kopfwissen der niederen Verstandestätigkeit entspringt oder angelernt ist. "Lerne Kopfwissen von Seelenweisheit unterscheiden, die Lehre des Auges von der Lehre des Herzens" (Die Stimme der Stille). Die Qualen der Reue und die Gewissensbisse kommen aus dem Herzen, nicht aus dem Kopfe. "Das Gewissen ist eine leise, innere Stimme, die immer aus dem Herzen kommt und gewöhnlich nur dann spricht, wenn der Mensch gegen seine sittliche, höhere Natur und Überzeugung handelt oder zu handeln im Begriffe ist", schreibt Hermann Rudolph. So ist das Gewissen ein Richter über das, was sittlich, was vernünftig oder unvernünftig ist. Die kurze, aber bestimmte Mahnung "Tue es nicht", ist fast immer die Stimme des Gewissens. Kaum ist diese verklungen, so erhebt sich die Stimme des niederen Ichs, die durch Erweckung von Furcht und Verlangen zum Gegenteil auffordert. Es ist die Stimme des Versuchers. "Sie wird daran erkannt, daß sie die Nützlichkeit einer Handlung zu beweisen sucht, während das Gewissen nicht aus Nützlichkeitsgründen, sondern aus selbstloser Liebe handelt." Die Liebe tut das Gute, weil es gut ist, nicht aber des Vorteils willen, und sie unterläßt das Böse, weil es ein Übel ist, nicht aber aus Furcht vor den Folgen. Es gibt nur einen Maßstab, das Gute vom Bösen zu unterscheiden. Es ist die selbstlose Liebe! Viel Elend in der Welt entstand dadurch, daß die Menschen die Stimme der niederen Natur für die Stimme des Gewissens hielten. Das Gewissen spricht nur im guten Menschen. "Der gute Mensch in seinem dunklen Drange ist sich des rechten Weges wohl bewußt." Der böse Mensch kennt nicht den rechten Weg. Er geht viele Irrwege, denn in ihm schweigt die Stimme des Gewissens. Es kann sich ebensowenig Geltung verschaffen wie die Sonne, wenn die Erde sich in Wolken hüllt. Das Gewissen hat es nicht mit einer äußeren Handlung zu tun. Es wird niemals eine äußere Handlung verbieten, sondern immer nur die selbstsüchtige Absicht. Jedes selbstsüchtige Tun verdunkelt die Seele und erschwert es dem Gewissen, sich zu offenbaren. Jede Handlung läßt sich von drei Motiven aus beurteilen:
1. Der Mensch handelt gedankenlos, aus Stumpfsinn, aus Dummheit.2. Er handelt aus Begierde, aus Berechnung, aus Nützlichkeitsgründen.3. Er handelt aus Erkenntnis, aus Güte, aus selbstloser Liebe.
Grundverschieden sind also die Motive des Handelns. "Ein Reicher", schreibt Hermann Rudolph, "der den Armen eine Million schenkt, handelt nicht ohne weiteres gut." Wohl wird den Armen die Million zugute kommen, aber wenn das Geschenk aus ehrgeizigen Beweggründen erfolgt, dann hat die Tat für den Geber selbst keinen Wert. Wenn jemand nicht weiß, was er zu tun und was er zu lassen hat, dann ist er schlimm daran, er ist vom Gewissen verlassen, ja, man kann sagen, er ist von Gott verlassen.
Doch die meisten Menschen glauben weder an Gott noch an ihre eigene Seele. Sie wissen auch nichts von ihrer Unsterblichkeit und von der sittlichen Weltordnung. Seit Menschengedenken hat die Frage der Unsterblichkeit die Herzen der Menschen bewegt und die Köpfe beunruhigt. "Wer den Beweis der Unsterblichkeit finden will", schreibt Dr. Franz Hartmann, "der muß in sich selbst das unsterbliche Wesen kennenlernen, es gibt keinen andern Weg. Derjenige, in dem das Bewußtsein der Unsterblichkeit erwacht ist, braucht keinen Beweis. Der physische Tod ist eine wohltätige Einrichtung, ein Mittel, wobei der Mensch auf dem Wege der Evolution zur höheren Bestimmung gelangen kann." — Aber, es gibt einen anderen Tod, der durch den Verlust des Gewissens herbeigeführt wird. Es ist der geistige Tod, der stattfinden kann, ehe der Körper stirbt. Das höhere Selbst trennt sich da vom niederen Ich. Wer in die Selbstsucht und in die Genüsse der Welt versinkt, der verliert die Liebe zu Gott, die Liebe zur Wahrheit und zu seinen Mitmenschen. Der aufs Irdische gerichtete Sinn des Menschen will nur sich und seinen Vorteil. Und wenn das Gewissen sich meldet, versucht er, durch leere Redensarten sein Tun zu beschönigen. Die Stimme des Gewissens wird dann immer schwächer, bis sie schließlich ganz verstummt. Er hört dann nicht mehr die Stimme Gottes in seiner Brust. Die Weltgeschichte ist reich an Kaisern und Staatsmännern, die hochentwickelt an Verstandeskräften, doch anscheinend völlig gewissenlos handelten. Doch wir kennen auch Männer, die eine andere Meinung hatten vom Gewissen. Ich nenne nur den bekannten Maler und Mystiker Hans Thoma. Er vergleicht das Gewissen mit einem Telefon zwischen Gott und den Menschen. Er konnte den lieben Gott immer anläuten. In der "Entschleierten Isis" von H. P. Blavatsky lesen wir in bezug auf die Gewissenlosigkeit folgendes:
"Der geistige Tod — wir können auch sagen, die Gewissenlosigkeit — entspringt dem Ungehorsam gegen das Gesetz des natürlichen Lebens. Aber die geistig Toten haben auch ihre intellektuellen Begabungen und angespannten Tätigkeiten. Alle tierischen Freuden gehören ihnen, und für eine Unmenge von Männern und Frauen sind sie das höchste Ideal menschlicher Glückseligkeit. Eine hohe Entwicklung der intellektuellen Fähigkeiten schließt nicht geistiges Leben in sich."
Und weiter heißt es:
"Der geistig Tote, der Gewissenlose, ist eine viel gefährlichere Bestie geworden als seine Genossen in der unentwickelten Tierwelt. Er ist ein Wesen, Mensch seiner Gestalt nach, aber ein Tier in seinem Charakter, Mensch in seiner äußeren Erscheinung, aber ohne menschliche Gefühle, ohne Erbarmen, ohne Liebe, ohne Sinn für Menschlichkeit, ein Wesen, vor dem wir mit tiefstem Mitleid zurückschauern. — Der Gewissenlose ist eine Verkörperung der Selbstsucht, er fällt unter das Tier, und er wird nach dem Tode nicht in die Himmelswelt aufsteigen, sondern er wird als menschliche Geisel wiedergeboren."
So bilden die Gewissenlosen für die Menschheit eine große Gefahr! In ihnen entwickelt sich Schlauheit bis zu einem außergewöhnlichen Grade, und niemand außer denen, die mit der Lehre vertraut sind, würde Verdacht hegen, daß sie seelenlos sind, denn weder die Religion noch die Wissenschaft hat die geringste Ahnung davon, daß eine solche Tatsache existiert. Doch es besteht immer noch Hoffnung für eine Person, die ihr höheres Selbst noch nicht verloren hat, solange sie noch im Körper weilt. Sie kann noch erlöst und zu einer Wandlung ihrer materiellen Natur veranlaßt werden. Denn ein starkes Reuegefühl oder ein ernster Anruf an das entflohene höhere Selbst oder am besten eine tatsächliche Anstrengung, ihr Verhalten zu ändern, kann das höhere Selbst zurückholen. Es wird deshalb von Wissenden eine Warnung ausgesprochen, die auch für uns sehr wichtig ist, eine Warnung vor dem ersten Schritt, denn dem Sturz in die Tiefe muß der erste Schritt auf dem schlüpfrigen Pfade vorangehen.
"Der Abgrund wird nicht in diesem oder im nächsten Leben erreicht, aber es können Ursachen erzeugt werden, die die Vernichtung in der dritten und vierten oder selbst in einer späteren Geburt gewiß machen werden."
Es gibt also viele Stufen und Grade der Gewissenlosigkeit, und es ist nicht leicht, ein richtiger Teufel zu werden, wie es auf der anderen Seite auch schwer ist, ein Adept zu werden. H. P. B. bemerkt, daß ihr von ihren Lehrern die Erlaubnis erteilt wurde, das Geheimnis, das zwischen dem niederen Ich und dem höheren Selbst besteht, zu offenbaren, um alle Schüler vor den Gefahren des zweiten Todes, dem Verlust des Gewissens, zu warnen, denn der Verlust des Gewissens, der Verlust der Seele, ist der wirkliche Tod. Er wird dadurch herbeigeführt, daß die Brücke zwischen dem göttlichen Selbst und dem menschlichen Ich abgebrochen wird, so daß das persönliche Ich das göttliche Selbst nicht mehr erreichen kann.
Die Menschen suchen mit Vorliebe, ihre verkehrten Schritte vor dem Gewissen zu entschuldigen. Sie sind nicht ehrlich gegen sich selbst, aber wahr sein gegen sich selbst, sich selber treu sein, ist die grundlegende Bedingung aller Höherentwicklung. Die Nichtbefolgung der Stimme des Gewissens bringt stets Leid mit sich. Wie sollte sich der Mensch im Strome des Lebens hindurchfinden, wenn ihm nicht die Erfahrungen der Vergangenheit zur Seite ständen? Arm ist derjenige, der unter den flüchtigen Eindrücken der Sinne lebt, aber reich ist jener, der die aufgespeicherten Erfahrungen zahlloser Jahrhunderte und Jahrtausende in sich finden kann. Die Schärfung des Gewissens ist daher eine notwendige Forderung, sie ist auch der beste Schutz gegen Geisteskrankheiten. Der Mensch, der ein reines Gewissen hat, hat Intuition, er kann in seinem Urteil nicht irren. Er kann vieles erdulden, auch inmitten aller Trübsal kann er glücklich sein. Wer ein böses Gewissen hat, ist immer furchtsam und hat keine Ruhe. Menschen mit schlechtem Gewissen fürchten sich sogar in einem hellerleuchteten Saal. Gewissenlose genießen nie eine wahre Freude, sie fühlen nicht, was man Freude der Seele nennt. Bei einem reinen Gewissen ist man mit seinem Lose zufrieden und glücklich. Immer recht tun und sich gering schätzen ist das Merkmal eines bescheidenen Gemüts. Ein Sprichwort lautet: "Ruhe ernährt, aber Unruhe verzehrt." Das Ruhegefühl nach einer Handlung ist ein Gradmesser für die Tätigkeit eines reinen Gewissens. Ein ruhiges Gewissen ist ein wertvolles Gut, und ein böses Gewissen ist das schlimmste, was es geben kann. Denken wir nur an den Verrat des Judas an seinem Herrn und Meister. Nach Gewissensbissen und seelischen Kämpfen warf er die dreißig Silberlinge in seiner Verzweiflung in den Tempel und erhängte sich.
Es ist nicht leicht, die Stimme des Gewissens von der Stimme des Versuchers zu unterscheiden. Mancher glaubt, Gottes Willen zu erfüllen und gehorcht doch dem Satan. Wer das Gute will und die Wahrheit liebt, mag wohl noch oftmals irren, er wird aber niemals seelenlos werden. Jeder mache sich klar, daß das Gewissen es nur mit der Gesinnung zu tun hat und darum auch keine äußere Handlung fordert oder verbietet.
Der gewissenhafte Mensch rechtfertigt sich nicht, wenn das Gewissen ihn tadelt, sondern ist für jede Belehrung dankbar und faßt nach jeder sittlichen Verfehlung den Vorsatz, nicht mehr zu sündigen. Der Mensch hat nichts weiter nötig, als an dem Guten festzuhalten, das sich ihm offenbart. Wie die Luft alle Räume durchdringt, so ist die göttliche Kraft im Menschen beständig bestrebt, das Gemüt zu reinigen und die Persönlichkeit zu einem Werkzeuge ihres Willens zu machen. Je mehr der Mensch die Forderungen des Gewissens erfüllt, desto mehr steht er in Verbindung mit der Gotteswelt und um so mehr erhält er auch Aufschlüsse über die Mysterien des Lebens.
Es ist das Ziel des menschlichen Lebens, mit dem Gewissen eins zu werden. Nur durch das Gewissen können wir zu höheren Stufen der Erkenntnis geführt werden, zur Freiheit und Unsterblichkeit. Wer immer der Stimme des Gewissens folgt, wird eins mit seinem höheren Selbst, dem Geiste der Menschheit, und dadurch frei von allen Neigungen, Wünschen und Leidenschaften und schließlich auch vom Zwange der Wiederverkörperung. Wer das Gewissen beiseite schiebt, indem er die göttlichen Kräfte in seine Persönlichkeit hinabzieht und zu selbstsüchtigen, persönlichen Zwecken mißbraucht, geht den linken Pfad, er wird ein Verbrecher und schließlich seelenlos. Nur wer dem Gewissen gehorcht und wer sich mit jedem einzelnen Menschen und schließlich mit der ganzen Menschheit vereinigt, gelangt ans Ziel, denn "einer rankt nur am andern empor, und wer allein steht, steht nur, um zu fallen". So ist das Gewissen der beste Führer im Strom des Lebens, der beste Führer der Menschheit zu Gott. Nur zu dem Zwecke, um möglichst viele Menschen vom Verlust des Gewissens zu bewahren, sprach Jesus zu den Jüngern: "Geht hin in alle Welt und predigt das Evangelium der Liebe!" Denn für den Menschen, der das Leben der selbstlosen Liebe lebt, gibt es keinen Sturz! Die Kultur des Gewissens ist die große Aufgabe der Menschen.
Es ist die Aufgabe der theosophischen Bewegung, ein neues, lichtes Zeitalter vorzubereiten, um die Menschheit durch die Kultur des Gewissens zu den reinen Höhen des geistigen Lebens, zur Verwirklichung des wahren Menschentums emporzuführen, wo an Stelle der Selbstsucht die Selbstlosigkeit herrscht und alle Kräfte dem Menschen dienen, so daß Friede sein wird auf Erden. Möge die theosophische Bewegung sich ihrer Aufgabe stets bewußt bleiben und ihr erhabenes Ziel nicht aus den Augen verlieren. Jeder einzelne möge im Denken, Wollen und Handeln nur darauf bedacht sein, den anderen den Weg zu diesem erhabenen Ziel zu zeigen und das Ganze zu fördern. Dann schwindet die Selbstsucht und damit das Weltenleid, dann vereinigen sich Weisheit, Schönheit und Stärke und machen den Menschen zum Erlöser der Menschheit.
Autor: Hubert Scholz