Das „Ich" und die Persönlichkeit

Dr. Franz Hartmann
 
„Die Seele (das „Ich") ist edler als alle körperlichen Dinge. Sie ist eine einfache (geistige) Kraft, die das Leben in alle Glieder leitet, durch die innige Vereinigung, in welcher sie mit dem Leibe steht."
(Meister Eckhart.)

Der Mensch - mehr als nur vergängliche Persönlichkeit

In allen theosophischen Schriften ist viel von einem „höheren" und einem „niederen Selbst", von dem „wahren Ich" oder der Individualität und der „angenommenen Eigenheit" oder „Persönlichkeit" die Rede. Immer wieder wird auf die Notwendigkeit der Selbstentsagung, Selbstaufopferung und Aufgeben des eigenen Selbst hingewiesen, wenn der Mensch zum wahren Selbstbewusstsein und Leben im Geiste gelangen will. Aber wie könnte ein Mensch sich selbst beherrschen oder sich selbst entsagen, wenn in ihm nichts Höheres lebendig ist, als das Bewusstsein seiner vergänglichen Persönlich­keit? Da wäre Selbstaufopferung gleichbedeutend mit geistigem Selbstmord und Vernichtung. Der bekannte Mystiker Angelus Silesius sagt in seinen Knittelversen:
 
"Dafern der Teufel könnt' aus seiner Seinheit geh'n,
So sähest du ihn stracks vor Gottes Throne stehn."
 
Aber der „Teufel", d. h. der gottlose, tierische Verstandesmensch, mit allen seinen intellektuellen Fähigkeiten, kann nicht aus seiner „Seinheit" gehen, weil er sich keines andern Seins als seines angenommenen bewusst ist. Wür­de er als Teufel sich selbst aufgeben, so wäre, da er ein ganzer Teufel ist, überhaupt nichts mehr von ihm da. Ohne die Erkenntnis des Höheren ist das Verlassen des Niederen eine Unmöglichkeit und alle sogenannte „Demut" nur Heuchelei.
 

Wer bin ich wirklich?

Der indische Weise Sankaracharya sagt:
„Die erste Bedingung zur Erlangung der wahren Erkenntnis ist der Besitz der Fähigkeit, das Dauernde, (das unsterbliche wahre Ich) von dem Nichtdauernden (der sterblichen Persönlichkeit) zu unterscheiden. Wer zu dieser Unterscheidung gelangt ist, der kann mit Recht, auch ohne dass es ihn jemand gelehrt hat, von sich selbst sagen:
 
„Ich bin nicht das Kleid, das ich trage. Ich bin nicht mein Körper, den ich bewohne; ich bin nicht mein Verstand, den ich gebrauche, nicht mein Gemüt, das mein Werkzeug zum Denken und Fühlen ist; ich bin der ich bin, namenlos, allumfassend, ewig: ein Geist, der seine Seele besitzt, die sich einen materiellen Körper aufgebaut hat, der ihr zum Wohnort dient, in dem sie aber nicht eingeschlossen ist; denn meine Seele ist viel größer als mein Körper und nur ein geringer Teil ihrer Eigenschaften kann sich auf einmal durch ihn äußern."
 
So wie der Inhalt eines Buches sich nicht in einem Wort darstellen oder eine Oper sich nicht durch einen einzigen Ton wiedergeben lassen kann, so kann sich auch der Reichtum der Seele und der Inhalt des Wissens eines Menschen nur teilweise und stückweise durch den Körper offenbaren. Jeder weiß im Grunde genommen mehr als dasjenige, dessen er sich gerade erinnert. Das persönliche Bewusstsein wechselt beständig, je nach den Eindrücken, die man erhält und den Empfindungen, die aus denselben entspringen. Das Selbstbewusstsein des persönlichen Menschen ist nur gleichsam der Abglanz eines Lichtstrahles, der von dem wahren, geistigen Selbst, der „Überseele", dem „Vater im Himmel" kommt. Dieser göttliche Lichtstrahl ist ein Teil unserer himmlischen Seele, der ins materielle Dasein dringt und während unseres Erdenlebens innig mit diesem verbunden ist. Aus dieser Verbindung des Geistigen mit dem Materiellen und Sinnlichen entspringt der Begriff der „Ichheit" oder „Eigenheit", der Selbstwahn, der Egoismus und Eigendünkel, der in der eigenen Persönlichkeit ein selbständig existierendes, vom großen Ganzen getrenntes, in seinen Interessen von dem Allgemeinen unabhängiges, ja vielleicht mit allen andern Geschöpfen im Kampfe liegendes Wesen sieht.
 

Wahres Selbstbewusstsein - „Tatwam asi"

Dies ist das sogenannte „kleine Ich", an sich selbst eine Illusion oder Täuschung, welche verschwindet, wenn der Mensch zum Bewusstsein seines wahren Daseins gekommen ist. Friedrich Rückert sagt darüber in seiner „Weisheit des Brahmanen" folgendes:
 
"Mein wandelbares Ich, das ist und wird und war, Ergreift in Deinem sich, das ist unwandelbar. Denn du bist, der du warst, und bist, der sein wird, du! Es strömt aus deinem Sein mein Sein dem deinen zu. Ich hätt' in jeder Nacht mich, der ich war, verloren. Und wär' an jedem Tag, als der nicht war, geboren. Hätt' ich mich nicht, dass ich derselbe bin, begriffen, Weil ich in dir, der ist, bin ewig inbegriffen."
Hier, wie in allen religiösen Schriften, ist von einem „Ich" und „Du" die Rede, und man ist geneigt zu glauben, dass das große und das kleine „Ich" (Gott und Mensch) zwei voneinander getrennte Wesen seien; aber die Philo­sophie lehrt uns, dass Gott alles in allem und das Wesen von allem, und außer Ihm nichts ist. „In Ihm leben wir" und Er ist unser Leben. Der Mensch ohne Gott ist nichts; alles was nicht Gott ist, ist Täuschung (Maya) und deshalb wird auch in der indischen Philosophie das „kleine Ich" als „Nicht-Ich" bezeichnet. Gott ist die unteilbare Einheit, die all-eine Wesen­heit von allen Erscheinungen; denn alle Dinge sind aus Gott (dem Logos) entstanden. Der Mensch an sich selbst (ohne Gott) ist wesenlos; die Null ohne die Eins ein Nichts; das kleine Ich erlangt erst dann einen Wert, wenn es vom Gottesbewusstsein durchdrungen und somit die Null mit der Eins verbunden ist. Ein solcher von Gotteserkenntnis durchdrungener Mensch er­kennt die Gegenwart Gottes in allen Dingen; alle Geschöpfe sind für ihn Offenbarungen des einen göttlichen Lebens im Weltall, selbst wenn sie missgestaltet und unvollkommen sind. Er erkennt die Wirkung des göttlichen Lebens vor allem auch an sich selbst. Für ihn gibt es kein „Ich und Du" mehr; er sieht in allen Geschöpfen die alleinige Gottheit, sein wahres Selbst. Deshalb sagt auch der Brahmine beim Anblick des Himmels oder der Erde: „Tatwam asi!" (das bist du), um sich daran zu erinnern, dass er in seiner Vereinigung mit Brahma alles in allem ist.
 

Hindernisse und Überwindung - Religion der "Erleuchteten"

Vielleicht empfiehlt es sich, die Beziehungen zwischen dem großen und dem kleinen Ich nach wissenschaftlicher Methode zu betrachten. Alle Religion ist, wenn nicht auf eine intellektuelle Erkenntnis, so doch auf das Gefühl dieser Verbindung zwischen dem höheren und dem niederen „Ich" gegrün­det. Wer das wahre religiöse Gefühl im Herzen trägt, ist sich dieser Verbin­dung bewusst und bedarf keines anderen Beweises. Erklärungen können nur dazu dienen, Irrtümer zu zerstreuen; die Wahrheit bedarf keiner Stütze. Sie ist wie das Licht. Wo sie offenbar wird, da wird sie erkannt. Es schadet der Sonne nichts, wenn die Wolken uns ihren Anblick verhüllen, aber wir sehen sie dann nicht. So muss auch die Geistessonne der Wahrheit das Dunkel un­seres materiellen Daseins durchdringen, wenn wir zur Erkenntnis ihres Lichtes gelangen sollen. Und um die sich ihm entgegenstellenden Irrtümer und Vorurteile zu zerstreuen, hat der Mensch seinen Verstand. Wenn die Wolken des Irrtums zerstreut und die Gebilde der Phantasie verschwunden sind, kann die Wahrheit sich offenbaren. Da gibt es kein Dünken und Wäh­nen, keine Meinungen, kein „Fürwahrhalten" mehr, sondern der erleuchtete Mensch erkennt sich selbst als das Licht.
„Gott wohnt in einem Licht, zu dem die Bahn gebricht;
Wer es nicht selber wird, der sieht ihn ewig nicht.
                                                              (Angelus Silesius)
Niemand kann sich dieses Licht selbst verfertigen; aber es steht geschrieben: „Selig sind, die reinen Herzens sind, denn sie werden Gott (die Wahrheit) schauen." Deshalb hat der Mensch seinen freien Willen und seine Vernunft, damit er mit Hilfe des Lichtes sein Herz und Gemüt reinige und fähig werde, zum Lichte der Selbsterkenntnis zu kommen. Dies ist die praktische Aus­übung der Religion und „okkulten Wissenschaft". Deshalb lehrt auch der große Weise Gautama Buddha: „Das Herz zu reinigen, das böse Tun zu unterlassen und nach dem Guten zu streben, dies ist die Religion aller Erleuchteten." Aber gerade hierzu ist auch eine richtige Weltanschauung und eine richtige Auffassung des Verhältnisses zwischen Gott und Mensch för­derlich.
 

Geistige Evolution durch Reinkarnation

Was ist das „Ich"? - Wenn wir die erste Ursache alles Daseins, die Quelle, aus der alles entsprungen ist, mit dem Namen „Gott" bezeichnen, so ist alles im Grunde genommen wesentlich Gott und die Formenwelt an sich nichts als ein Spiegelbild, eine Erscheinung. Folglich ist auch jeder Mensch in seinem Inneren Gott und sein wahres Selbstbewusstsein wurzelt in Gott. Aber bis ein Mensch zu diesem wahren Selbstbewusstsein oder Gottesbewusstsein gekommen ist, ist es noch ein langer Weg; denn da muß er die Täuschung der Eigenheit, welche ihm die Form, die er bewohnt, vorspiegelt, überwinden. Dies ist der Weg der geistigen Evolution. Der Mensch kann nicht sich selbst als einen Gott erkennen, so lange er nicht göttliche Fähigkeiten und göttliche Kräfte entwickelt hat. So wie der menschliche materielle Organismus sich auf dem Wege der Evolution aus den niederen Reichen entwickelte, so muss sich auf dem Wege der geistigen Evolution die geistige Individualität bilden. In jedem Menschen sind hierzu die Keime enthalten. In jeder Seele schlummern verborgene, göttliche Kräfte, die zu erwachen bestimmt sind, was allerdings nicht auf einmal in einem einzigen Erdenleben, wohl aber durch wiederholte Reinkarnationen geschieht. Das große Ich bleibt dabei immer dasselbe, aber die Persönlichkeit, als welche es auf der Bühne des Lebens eine vorübergehende Rolle spielt, wechselt.
 
Der Geist bedarf zu seiner Offenbarung der Form. Absolutes Bewusstsein ist kein relatives Bewusstsein, es steht in Beziehung zu nichts. Absolutes Selbstbewusstsein ist das Bewusstsein des Daseins, aus dem das Gefühl der „Ichheit" entspringt. Geist ohne Körper ist nicht offenbar und deshalb für den Menschen das Nichts. Er bedarf der materiellen Form, um mit der Körperwelt in Verbindung zu treten. Er hat einen geistigen Organismus nötig, um zu denken, seine intellektuellen Fähigkeiten zu entwickeln, Ideen zu erfassen, sie zu analysieren und in neue Formen zu fassen. Wenn er die in ihm schlummernden göttlichen Kräfte entfalten soll, so bedarf er hierzu jenes himmlischen und unverweslichen „Leibes der Auferstehung", der durch die geistige Wiedergeburt erlangt wird und von dem in den Schriften der indischen Weisen wie auch in der Bibel die Rede ist1. Und wie für irdische Formen irdische Nahrung, Luft, Licht und Wärme nötig ist, so braucht der himmlische Körper geistige Nahrung: Freiheit des Willens, das Licht der wahren Erkenntnis und die Wärme der göttlichen Liebe, welche alle Wesen umfasst.
 

Wahres Ich und seine Widerspiegelungen

Das Ich-Bewusstsein ist grenzenlos; das Bewusstsein des „Ich bin" ist an keinen Ort und keine Zeit gebunden und hat nichts mit etwas außer sich selbst zu schaffen; es kennt nichts außer sich; denn es ist „Gott" und in ihm sind alle Dinge enthalten.
 
„Am Dinge zweifeln kannst du, was und ob es sei;
An deinem Ich fällt dir gewiß kein Zweifel bei.
Das der Ausgangspunkt; sei deiner nur gewiss!
Zu allem Wissen kommst du so ohn' Hindernis."
 
„Das Ding ist außer dir, weil du dich von ihm trennst;
Doch ist es auch in dir, weil du's in dir erkennst.
Ein Spiegel bist du nicht allein der Welt; sie ist
Ein Spiegel auch, darin du selbst dich schauend bist."
 
(F. Rückert, Die Weisheit des Brahmanen)
 
Das große „Ich" des Weltalls und das wahre Ich jedes einzelnen ist nur eines, unsterblich und unteilbar, ist die Gottheit (der Logos) selbst. Das Wort Brahma bedeutet im Grunde genommen das sich selbst aussprechende Wort: „Ich bin," Satchit-anandam: Daseins-Erkenntnis-Seligkeit, Allselbstbewusst-sein. Das „All-Ich" ist auch das wahre Ich jedes einzelnen, aber nicht jeder ist sich dessen bewusst. Das Gottesbewusstsein ist das Licht der Welt, das in die Finsternis des Materiellen leuchtet; aber die Finsternis fasst es nicht (Johannes I. 5.) Wir sind alle in unserm Innersten Gott; aber wir erkennen es nicht, weil das göttliche Licht verschiedene Hüllen durchdringen muss, ehe es zu unserm persönlichen Bewusstsein gelangen kann. Diese Hüllen sind:

1. die Seele (der „Kausalkörper" oder Karana-sarira)
2. der Astralkörper (Sukshma-sarira)und
3. der physische Körper (Sthula-sarira).2
Subba Row sagt in seinen Vorträgen über die Bhagavad Gita:
Wenn wir in einem Spiegel die Sonnenstrahlen auffangen und sie auf eine Metallplatte fallen lassen, so dass sie von dieser wieder auf einen anderen Gegenstand, z. B. eine Mauer reflektiert werden, so erhalten wir drei Bilder, von denen das erste leuchtender als das zweite und das zweite heller als das dritte ist ... Die vier Lichtflächen sind nicht von gleicher Stärke. Der Glanz der ersten kann mit der höchsten menschlichen Erkenntnis verglichen wer­den und wird schwächer und schwächer, je öfter das Licht von einem klaren Upadhi (Träger) auf ein weniger klares oder getrübtes übertragen wird. Unser Selbstbewusstsein und unsere Erkenntnis hängen von der Erleuch­tungsfähigkeit unserer Upadhis(Seele und Körper) ab, und wie das Bild der Sonne auf einer Wasserfläche undeutlich werden kann, wenn das Wasser getrübt ist oder bewegt wird, so wird auch das Bild des wahren Ichs in der Seele des Menschen getrübt und verzerrt, wenn er von Leidenschaften hingerissen wird, und diese können das Bild sogar so unklar machen, dass er dessen Licht gar nicht mehr wahrzunehmen fähig ist.
 

All-Bewusstsein und „separate" Ichheit - das Geheimnis der Individualität

In Gott ist keine Getrenntheit, im Allselbstbewusstsein ist alles eins und die göttliche Weisheit umfasst alles in sich. Gott ist die Einheit, aus der alle Zahlen entspringen und die in jeder enthalten ist; und so viele Zahlen auch in ihr ihre Quelle haben, die Eins wird dadurch doch nicht weniger und verliert dabei nichts. Das Licht der Sonne erleuchtet die Welt und gibt allen Dingen ihr Leben und jeder Blume ihre Farbe; es tritt in den Formen gewissermaßen verkörpert und in individualisiertem Zustande auf, ohne deshalb sich selbst zu verändern; denn die Erscheinungen, welche das Licht erzeugt, sind die Produkte seiner Wirksamkeit, nicht aber das Licht. Desgleichen ist jeder Gedanke, den ein Mensch aussendet, nicht der Mensch selbst, wohl aber ein von ihm nicht trennbarer Teil seiner Kraft und folglich auch seines Wesens. Gleicherweise ist das All-Ich ewig unveränderlich, aber indem es ein Kraft­zentrum, eine Seele bildet, tritt es als individuelle Erscheinung auf; d. h. es bildet sich in diesem verkörperten Teil das Gefühl oder der Begriff eines individuellen Daseins, ohne dass derselbe deshalb seine wesentliche Identität oder seinen Zusammenhang mit dem All-Ich verliert. Mit anderen Worten: die Seele ist gleichsam ein Gottesgedanke, der sich mit einer geistigen Hülle (Karana-sarira) umgeben hat, und als solche seine eigene Stellung im Weltall einnimmt; aber das „Ich" (Gott) in ihr ändert sich nicht.
 
Der berühmte Mystiker Meister Eckhart sagt: „Alles was Gott geschaffen, d. h. in dem ewigen Worte gesprochen hat, hat er ohne eigene Veränderung ge­schaffen. Er ist die reine Idealität, in die keinerlei Veränderung hineintritt." Der Mensch aber ist in jedem Augenblick einer Veränderung unterworfen. Er ist gleichsam ein Organismus, in dem sich ein göttlicher Lichtstrahl ver­körpert hat, und nach dem Tode des Körpers zieht sich dieser Lichtstrahl mit seinen während seines irdischen Daseins erworbenen Errungenschaften wieder zu seinem Ursprung zurück. Sein direkter Ursprung aber ist die himmlische Seele, sein „Vater im Himmel".
[...]
Diese individuelle Wesenheit, welche wir als die „menschliche Überseele" bezeichnen wollen, ist es, aus der vermittelst immer wiederholter Wieder­verkörperungen die von ihr erzeugten Persönlichkeiten nacheinander hervor­gehen. So wie sie selbst gleichsam ein verkörperter Gottesgedanke ist, so ist die aus ihr jeweilig hervorgegangene Persönlichkeit des irdischen Menschen gleichsam ein Fühler, den der himmlische Schmetterling ins Reich des Materiellen ausstreckt, um dort Seelennahrung zu suchen. Die himmlische Seele ist gleichsam der Baum; der im Irdischen eingebettete Teil derselben ein Zweig, der, wenn die ihm bestimmte Zeit vorüber ist, sich wieder mit seinem Stamme vereinigt.
[...]
 

Die Persönlichkeit - nur ein schwacher Abglanz der Individualität (Überseele)

Die Überseele eines geistig entwickelten Menschen können wir uns somit als unvergleichlich größer vorstellen als den in der Persönlichkeit verkörperten Teil, obgleich letzterer beständig von ersterem durch Intuition Zufluss erhält. Wir müssen zwischen dem Offenbaren und dem Nichtoffenbaren unterschei­den. Das Nichtoffenbare ist da, wenn wir es auch nicht erkennen, weil es nicht offenbar ist. Jedermann weiß, dass der Inhalt seines Wissens viel größer ist, als der geringe Teil davon, der ihm in einem gegebenen Augen­blick in sein Bewusstsein kommt oder in seine Erinnerung tritt; die Übersee­le ist das, was E. von Hartmann „das Unbewusste" nennt; es ist nicht in sich selbst unbewusst und schläft nicht, aber die Tätigkeit des Gehirns ist be­schränkt. Ein Krug kann nicht auf einmal den Inhalt eines Meeres fassen und der Inhalt einer langen Rede nicht durch ein einziges Wort oder ein Musikstück durch einen einzigen Ton ausgedrückt werden. Sinnbildlich können wir uns den ewigen Geist als den vom Sonnenlicht durchfluteten Himmelsraum und die Überseele als den Mond vorstellen, dessen Licht nur ein Abglanz des Lichtes der Sonne ist, von dessen Widerschein die Nachtseite der Erde (die Persönlichkeit des Menschen) ihr Licht empfängt.
 

Die "Brücke" (Antahkarana) - Gefahren der Trennung

In beigefügter Figur stellen die beiden ineinander verschlungenen Dreiecke die Vereinigung von Geist und Materie dar. Der Kreis bedeutet die himm­lische Seele, das Pentagramm den irdischen Menschen. Beide sind durch die „Brücke" (Antahkarana) miteinander verbunden. Durch diese Brücke dringt das Licht der himmlischen Seele (Buddhi-Manas) in das Reich des irdischen Teiles (Kama-Manas) des Menschen ein, und durch diese Lichtbrücke kehrt der Menschengeist wieder zum himmlischen Geiste, seinem „Vater" zurück.
 
 „Zwei Seelen wohnen, ach, in meiner Brust",
spricht Goethe im „Faust". Tatsächlich sind dies
nicht zwei voneinander wesentlich verschiedene
Seelen, sondern nur gleichsam die beiden Pole
eines Sprösslings der Seele, von denen der eine Pol
„in derber Liebeslust sich an die Welt mit klam­
mernden Organen" hält, während sich der andere
zu den „Gefilden hoher Ahnen" erhebt. Der niedere
Teil ist vom Reich der tierischen Instinkte und Lei-
denschaften umgeben und kann diesem zum Opfer
fallen. Der höhere Teil erhält von oben Erkenntnis
und Kraft.
 
 
 
 
In allen Religionssystemen wird die Wiederherstellung der Harmonie zwi­schen dem himmlischen und dem irdischen Teile der Seele gelehrt, und solange der Mensch ein „Gewissen" hat und das religiöse Gefühl im Herzen trägt, ist eine solche Rückkehr und Wiedervereinigung möglich. Es gibt aber zwei Arten der menschlichen Verkommenheit, die ihm diese Rückkehr unmöglich machen, indem sie ihn des Bewusstseins seiner höheren Natur berauben. Die Ursache der einen ist ein Versinken im Sumpfe des Sinnlichen und der Unmoral, besonders der sexuellen Perversität, wodurch der Mensch seinem höheren Selbst Kräfte entzieht und seine Seele verstümmelt (1. Korinther; 6, 18), denn er versündigt sich an seinem eigenen (geistigen) Leibe, und begeht dadurch die „Sünde gegen den heiligen Geist". Die andere Art seelischer Verkommenheit ist die gänzliche Verstrickung im Reiche des Intellektuellen. Es gibt „Männer der Wissenschaft", in welchen die Seele gestorben ist, die keine Grausamkeit scheuen, um ihre wissenschaftliche Neugierde oder ihren Ehrgeiz zu befriedigen und auch solche, die ganz im Denken aufgehen und zum Empfinden keine Zeit übrig haben. Sie verschwenden die ihnen von Gott gegebenen Kräfte zur Fütterung des Gehirns und das Herz bleibt leer. Nach dem Tode bleibt eine seelenlose Astrallarve, wenn nicht ein Vampyr oder Teufel zurück. Der letztere Fall kann dadurch eintreten, dass sich ein Teil des geistigen Lebens der Seele mit der sterblichen Persönlichkeit innig verbunden und sich vom Göttlichen losgetrennt hat. Dies ist das Resultat der Ausübung von „schwarzer Magie", und deshalb ist der Besitz „okkulter Kräfte" ohne die gegen ihren Missbrauch schützende moralische Reinheit durchaus nicht wünschenswert.
 

„Schein-Ich" und wahres Ich - der Pfad

Das wahre Selbstbewusstsein, wenn es im Menschen erwacht ist, bleibt immer dasselbe; aber das persönliche Bewusstsein, die Täuschung der Eigenheit schwindet, sei es bei oder nach dem Tode des Körpers dahin. Das große Ich ist eine Einheit; aber das kleine „Ich" ist aus vielen „Schein-Ichen", Elementen und Elementalen zusammengesetzt. Die Persönlichkeit ist, wie Goethe sagt, „ ...die kleine Narrenwelt, die sich gewöhnlich für ein Ganzes hält."
 
In ihr tritt bald der Gläubige, bald der Zweifler, der Narr oder der Weise in den Vordergrund, und der Mensch erscheint alsbald als dieser oder jener, je nachdem seine Gemütsstimmung und damit auch sein Bewusstseinszustand sich ändert. Das wahre Ich aber ist „der Herr" und Erlöser in uns; durch unsere Vereinigung mit ihm gelangen wir zur Freiheit; ohne ihn sind wir Gefangene und werden von unseren Begierden und Vorurteilen beherrscht.
 
Wie aber können wir den „Herrn", unser wahres Selbst, unsern „Vater im Himmel" finden? Es gibt dazu keinen andern Weg, als dass wir uns dem Einflusse seines göttlichen Lichtes eröffnen und uns in ihn ergeben.
 
Ein Meister wohnt im Innern der Geschöpfe,
Er hat im Menschenherzen seinen Thron.
Durch Seinen Willen leitet er die Menschen zum Guten an.
Sein Wille ist Gesetz.
In ihm nimm deine Zuflucht, deine Hilfe;
gib dich ihm ganz aus voller Seele hin;
dann wirst durch seine Gnade du den Frieden,
des höchsten Daseins Seligkeit erlangen.
(Bhagavad Gita, 18. Gesang)
[...]
Nicht unser wahres Selbst, die Menschheit in uns, sondern nur jenes Selbst, das wir in Wirklichkeit nicht sind, sollen wir aufgeben und es dem wahren Selbst opfern...
 
Dies ist das richtige Gefühl, und aus dem richtigen Gefühl geht das richtige Denken und richtige Tun hervor.
Neue Lotusblüten, 2. Jahrgang, leicht gekürzt
 
1 Sankaracharya, Tattwa Bodha und St. Paul, I.Korinther 15,40 ff.
2 Anm. d. Redaktion: Die Benennungen und die Nummerierung der “Hüllen”, die Hartmann hier verwendet, entsprechen nicht dem in der theosophischen Literatur üblichen Schema (dem auch Hartmann sonst gewöhnlich folgt). Anscheinend konzentriert er die Aufmerksamkeit des Lesers hier, dem Thema der Betrachtung entsprechend, auf den Gegensatz des „Höheren“ und des „Niederen“, deren Zentren er im „Kausalkörper (Karana sarira)“ und im „Astralkörper (Sukshma sarira)“ sieht. Ersterer dürfte dem „Buddhi-Manas“-Prinzip entsprechen, letzterer dem „Kama-Manas“-Prinzip. (R. U.)


Autor: Dr. Franz Hartmann