Der Sklave der Lampe

Weil ich ein Geschöpf von so vielen Vorstellungen und rasch wechselnden Stimmungen war, erwuchs mir aus all dem schließlich die Zuversicht einer gewissen Wahrheit entgegen, und zwar von allen Wahrheiten die beflügelndste für einen am eisernen Zeitalter Verzweifelnden, der sich im Gestrüpp der Lebensvielfalt verirrt hatte. Ich wurde mir nun eines umgehenden Echos oder einer Antwort auf meine eigenen Seelenzustände bewusst, unter Gegebenheiten, die bis dahin in ihrer Gleichgültigkeit unfähig zur Reaktion erschienen waren. Ich fand jede starke Imagination, jedes neue Abenteuer des Verstandes mit der Magnetkraft begabt, das ihnen Verwandte anzuziehen. Wunsch und Wille waren wie der Zauberstab im Märchen und holten sich das ihnen Gemäße heran. Um ein reines Kristallatom gruppierten sich alle Atome des Elements in der Lösung, und in ähnlicher Weise erschien ein Mensch nach dem andern aus der Menge und verriet seine enge Verwandtschaft mit meinen Stimmungslagen, wie sie so auftraten. Ich traf diese Leute anscheinend zufällig, auf Landstraßen, oder ich ließ mich auf ein Gespräch mit Fremden ein, wobei ich feststellte, dass es Geistesverwandte waren. Aus dem Aufsteigen neuer Seelenzustände in mir konnte ich voraussagen, dass ich, ohne Suche, bald Leute einer gewissen Wesensart kennenler­nen würde, und so traf ich sie denn auch. Sogar leblose Dinge standen im Banne dieser Affinitäten. Sie gaben an mich ab, was sie an Besonderem für meine Augen bereithielten. Ich habe schon im Vorbeigehen einen Blick auf ein Buch geworfen, das jemand in einer Bücherei aufgeschlagen liegenließ, und die Worte, die ich zuerst sah, durchfuhren mich freudig, denn sie bestätigten eine Erkenntnis, die ich vor kurzem in einer Vision gewonnen hatte. Ein andermal öffnete sich ein Buch, das ich schmökernd von einem Büchergestell heruntergelangt hatte, bei einem Zitat aus den Upanischaden[1], einer mir damals unbekannten Schrift, was mein Herz gen Osten fliegen ließ, denn jenes enthielt die Lösung eines spirituellen Problems, worüber ich eine Stunde vorher gebrütet hatte. Kaum eine Woche nach meiner ersten Erweckung begann ich mit jenen zusammenzutreffen, die meine lebenslänglichen Gefährten auf der Suche werden sollten, und wie auch ich in einem vom Geist bewegten jugendlichen Alter waren. Eben hatte ich versucht, Gedichte zu schreiben, als ich einen jungen Mann kennenlernte, dessen Stimme bald die schönste in der irischen Literatur werden sollte. Ich suchte keinen von diesen auf, weil ich von ihnen gehört hatte und eine Verwandtschaft zwischen uns annahm. Die Übereinstimmung unserer Persönlichkeiten schien geheimnisvoll, gesteuert von einem Gesetz der spirituellen Schwerkraft, wie dasjenige, das im Kräf­tespiel der Natur ein Molekül auf ein anderes zufliegen lässt. Ich erinnere mich an das Hochgefühl, womit ich den Grundsatz über das Leben begriff, dass, wie sich Heraklit ausdrückt, alles fließt und dass dem Fließen Bedeutung und Gesetzmäßigkeit innewohnt; dass ich nicht verlieren konnte, was mir angehörte; dass ich nicht zu suchen brauchte, denn was mir gehörte, würde zu mir kommen; entging mir etwas, so deshalb, weil ich keinen Anteil mehr daran hatte. Ein für viele Jahre im Kerker Begrabe­ner hätte den Sonnenschein, die süß duftende Erde und die lang verborgene unendliche Wei­te der Himmel nicht freudiger begrüßen können, als ich das Sichauflösen von dem, was unveränderlich erschienen war. Es sind jene, die schnell leben und heranwachsen und unablässig ver­gleichen, – das, was sich außen, mit dem, was sich innen abspielt, – denen dies zur Gewissheit wird. Jene, die sich nicht ändern, sehen keine Veränderung und erkennen keine Gesetzmäßigkeit. Wer, wenn auch nur im Verbor­genen, vielen Leuchten des Geistes nachgefolgt ist, kann die Fackeln zur Antwort eine nach der andern aufglühen sehen. Als ich darüber Gewissheit erlangt hatte, nahm ich, was mir widerfuhr, mit Ergebung an. Ich verstand, dass alles, was mir entgegentrat, Teil meiner selbst war und dass mir Unverständliches, durch Affinität, in Beziehung zu noch unbekannten Kräften in meinem Wesen stand. Wir tragen die Lampe der Welt in uns, und die Natur, der dienstbare Geist, ist der Sklave der Lampe und muss das Leben um uns so gestalten, wie wir es in uns gestalten. Nur was wir sind, hat Durchschlagskraft. Wir können ebenso gut den äußerlichen, persönlichen Daseinskampf und den Ehrgeiz aufgeben – wenn wir alles dem Gesetz überlassen, wird uns alles, was uns gebührt, ausgezahlt. Der Mensch wird wahrhaftig zum Übermenschen, wenn er dieses stolze Bewusstsein besitzt. Gleichgültig, wo er sein mag, in welch scheinbar unbedeutender Stellung, er ist noch immer der König, noch immer der Herr über sein Schicksal, und die äußeren Umstände wirbeln um ihn herum oder sind so bewegungslos wie er in der Abgeschiedenheit seines Geistes, sind mächtig oder bescheiden. Wir sind in der Tat am unglücklichsten, wenn wir uns einbilden, wir hätten keine Macht über die Gegebenheiten um uns, und ich halte das Wissen, dass es im lebendigen Universum kein anderes Schicksal gibt, als was wir selbst zum unsrigen machen, für die höchste Weisheit. Wie entflammt der Geist, wie spürt er seine Macht, wenn er, äußerlich ruhig, das Kommen und Gehen des Lebens beobachten kann, wie es sich in sich selbst bewegt oder stillsteht! Dann bewegen wir uns wirklich im Bereich des Wunderbaren. Dann erscheint uns das Universum, wie es dem indischen Weisen erschien, der verlauten ließ, dass ihm, der sich in der Meditation vervollkommnet hatte, alle Flüsse so heilig seien wie der Ganges und jedes gesprochene Wort vom Heiligen durchdrungen.

 

[1]   Upanischaden: altindische theologisch‑philosophische Texte.



Autor: George William Russell