Meditation

Mir ist keine besondere Tugend eigen, außer der, dass ich einem Pfad folgte, auf dem alle reisen können, den aber wenige beschreiten. Es ist ein Weg in unserem Innern, auf dem die Füße in Schatten und Dunkelheit anfangs strau­cheln, den später jedoch das himmlische Licht mit frohen Farben erhellt. Wenn ich als einer, der ein Stückchen diesen Weg gewandert ist und einige Male das Land der Vielen Farben erblickte, erzähle, was ich weiß und wie ich dazu kam, ganz klar zu sehen, kann ich vielleicht jene ermutigen, die gerne an die Welt, wovon die Seher spre­chen, glauben würden, die aber die Sprache, die jene schrieben, die der Herrlichkeit uralter Zeiten ansichtig geworden waren, nicht verstehen können oder vielleicht die alten Schriften nur für Aufzeichnungen ausgefallener Wünsche gehalten haben. Keiner braucht besondere Ga­ben oder Genialität. Gaben! Es gibt keine Gaben. Für alles, was wir besitzen, haben wir den Preis bezahlt. Es ist nichts, wonach wir streben, wofür wir nicht etwas von unseren eigenen spirituellen Gütern eintauschen können. Genialität! Damit geizt der Wächter der Schatzkammer nicht. Allerdings wird sie einem nicht verliehen, sondern man erwirbt sie. jener Mensch dort, mit der bedrückten Seele, könnte, wenn er nur die Willenskräfte nützte, Apollos Leier spielen, der Säufer da vom Göttlichen berauscht sein. Kräfte werden an niemanden nach Lust und Laune vergeben. Die Formeln, die der Chemiker erläutert, indem er sie vor seinen Studenten kommen­tiert, sind nicht sicherer nachprüfbar als die Formeln der Alchemie, wodurch das, was grobstofflich in uns ist, zu ätherischem Feuer gewandelt werden kann. Unsere Reli­gionen versprechen uns Erfüllung jenseits des Grabes, weil sie heutzutage kein Wissen besitzen, das sich testen lässt, aber die Alten sprachen von einem göttlichen Ge­sicht, das sich erwerben ließ, während wir noch im Kör­per weilen. Die Religion, die nicht ausruft: »Ich bin heute so beweisbar, wie das Wasser netzt und Feuer brennt; prüft mich, auf daß ihr werdet wie die Götter«, der misstraue man. Ihre Emissäre sind Propheten der Dun­kelheit. Indem wir immer tiefer ins Eiserne Zeitalter ab­sinken, begegnen uns die im Abgrund lauernden mächti­gen Teufel von Staat und Reich, die Anspruch auf die Seele erheben und sie nach ihrem Bilde formen, auf dass sie wahrlich ihr Geschöpf sei und nicht dasjenige des Himmels. Wir benötigen in uns selbst eine Kraft, die diesen mächtigen Kräften gegenüberzutreten vermag.

Obwohl ich blind bin, waren mir Augenblicke des Se­hens beschieden. Obwohl ich sündigte, beschritt ich den Pfad. Obwohl ich schwach bin, habe ich den Weg zur Kraft entdeckt. Ich erforschte Methoden, um die magi­schen Lichter, die in mir aufgingen und verblassten, siche­rer in Besitz zu nehmen. Ich wollte sie nach Belieben hervorrufen können und Herr über meine Vision sein, und mir wurde gelehrt, was so alt wie die Menschheit ist. Tag für Tag, zu Zeiten, in denen mich niemand stören würde und mich niemand weder aus Zuneigung noch einem andern Grund besuchen durfte, machte ich mich daran, die Beherrschung über meinen Willen zu erlangen. Ich nahm mir jeweils geistig einen Gegenstand vor, eine abstrahierte Form, und bemühte mich, meine Gedanken in beharrlicher Konzentration darauf gerichtet zu halten, so dass keinen Moment, keinen Augenblick, die Anspannung nachließ. Eine Übung ist dies, eine Schulung für höhere Abenteuer der Seele. Es ist keine leichte Arbeit. Das Ziehen der Furche ist weitaus weniger schwierig für den Pflüger. Fünf Minuten dieser Anstrengung lassen uns anfangs zitternd zurück wie am Ende eines mühseli­gen Tages. Dann merken wir erst, wie wenig vom Leben uns wirklich gehört hat und wieviel eine Reaktion auf Sinneseindrücke, ein Dahintreiben auf den Gezeiten des Verlangens gewesen ist. Das Gerücht einer Revolte – der Geist wolle der Knechtschaft entfliehen – verbreitet sich im Körper. Weltreiche senden ihre Armeen nicht so rasch aus, um Aufstände niederzuschlagen, wie alles, was in uns sterblich ist, die Nerven, Arterien und jeden Trans­portweg des Körpers entlanghastet, um die Seele zu bela­gern. Das schöne Angesicht von jemandem, den wir lie­ben, erstrahlt vor uns noch verlockender als das Leben, um uns, uns bezaubernd, von unserer Aufgabe abzubrin­gen. Alte Sünden, Feindschaften, Eitelkeiten und Begeh­ren belagern und bedrängen uns. Schenken wir ihnen kein Gehör, schlagen sie sich zum Schein auf unsere Seite, indem sie uns Perspektiven eröffnen von all dem, was wir und sie tun werden, wenn wir diese neue Kraft, die wir erstreben, erlangt haben. Lassen wir uns verleiten, eine dieser Möglichkeiten weiterzuverfolgen, merken wir nach einer Stunde nutzlosen Grübelns beschämt, dass wir abseits gelockt worden sind, dass wir unsere Aufgabe im Stich ließen und das strenge Ausrichten unseres Willens, das wir uns zum Ziel setzten, vergaßen. Halten wir unser tägliches Ritual durch, wird der Aufruhr umso größer; unser ganzes Wesen belebt sich, das Schlechte ebenso wie das Gute. Die Hitze dieser inbrünstigen Konzentration wirkt wie Feuer unter einem Kochtopf, und alles in uns kocht wild auf. Wir lernen unseren eigenen, bis dahin unbekannten Charakter kennen. Wir wussten ja gar nicht, dass wir solch heftiger Begehren fähig seien, stellten uns niemals solch leidenschaftliche Feindschaften vor, als jetzt erwachen. Wir haben ein Kraftzentrum in uns ge­schaffen und verwirklichen uns nun selbst. Es ist auch gefährlich, haben wir uns doch in den ewigen Konflikt zwischen Geist und Materie hineingeworfen und finden uns in der Schlacht, wo es am höchsten hergeht, wo die Feinde im tödlichen Kampf verstrickt sind. Wir setzen uns mit größeren Mächten auseinander, als wir uns vorher überhaupt ausdenken konnten. Ist einer, der glaubt, er besitze Selbstbeherrschung? Der steht im seichten Was­ser und hat sich weder auf hohe See hinausgewagt, noch ist er je auf Gedeih und Verderb den Wellen ausgeliefert gewesen. Er soll nur die verborgenen Kräfte in sich er­wecken, und er wird sich vorkommen wie einer, der die Lawine ausgelöst hat. Niemand vermöchte dieses Chaos lebend durchzustehen, wenn der Wille die einzige Kraft in uns wäre, auf die wir uns berufen können, denn der Wille ist weder gut noch schlecht, sondern schiere Kraft, und er belebt Gut und Böse ganz unparteiisch. Wäre dies alles, brächte uns unsere Anstrengung dem Göttlichen nicht näher, sondern nur einer Erweiterung unserer Per­sönlichkeit.

Aber die Alten, die uns diese Intensität zu erreichen lehr­ten, lehrten dies nur als Vorstufe zu einer Meditation, die nicht verschwimmen, sondern kraftvoll sein würde. Die Meditation, die sie uns so sehr ans Herz legten, ist als »das unsagbare Sehnen des inneren Menschen, sich im Unendlichen zu verströmen« definiert worden. Das Un­endliche jedoch, wohinein wir uns begeben möchten, ist lebendig. Es ist unser Wesen in letzter Vollendung. Meditation bedeutet inbrünstiges Brüten über diesem erhabenen Ich. Wir projizieren uns in seine ungeheuren Ausmaße. Wir denken uns selbst als Spiegelbild seiner Unendlichkeiten, als Bewegung in allen Dingen, in Erde, Wasser, Luft, Feuer und Äther. Wir versuchen, so zu wissen, wie es weiß, zu leben, wie es lebt, mitzufühlen, wie es mitfühlt. Wir gleichen uns ihm an, damit wir es verstehen und es werden können. Wir knien nicht als Sklaven vor ihm, sondern als Kinder des Königs erheben wir uns zu dieser Herrlichkeit und bestätigen uns selbst, dass wir sind, was wir uns vorstellen. »Was ein Mensch denkt, ist er; das ist das alte Geheimnis«, spricht der Weise. Wir haben uns in diesen jämmerlichen Traum vom Leben hineingedacht. Durch Vorstellungskraft und Willen gehen wir wieder in unser wahres Wesen ein, werden zu dem, was wir uns vorstellen.

Auf diese Bahn des inbrünstigen Brütens begab ich mich. Zuerst fand ich mich in einem Zustand gänzlicher Betäubung. Mir war wie einem, der aus dem Tageslicht in die farblose Nacht einer Höhle eintritt, was davon herrührte, daß ich plötzlich den gewohnten Gang des Lebens umgekehrt hatte. Normalerweise leben wir, indem wir mit den Augen sehen, mit den Ohren hören, uns von den Sinnen in Tätigkeit versetzen lassen, von Körperkräften bewegt, und fangen nur solch spirituelles Wissen auf, als eine momentane Klarheit unseres Wesens durchlassen kann. Auf dem mystischen Pfad erzeugen wir unser eigenes Licht und mühen uns anfangs blind und benommen, sehen nichts, hören nichts, unfähig zu denken, unfähig, uns etwas vorzustellen. Es scheint, als hätten uns Traum, Vision oder Eingebung verlassen, als sei unsere Meditation gänzlich fruchtlos. Lasst uns jedoch fest bleiben, tage‑ oder wochenlang, und über kurz oder lang verfliegt die Betäubung. Unsere Fähigkeiten passen sich an und verrichten die Arbeit, die ihnen unser Wille aufträgt. Niemals haben sie besser funktioniert. Die dunklen Höhlen im Gehirn leuchten auf. Wir erzeugen unser eigenes Licht. Unter dem Druck unseres Willens und unserer hohen Zielsetzung verwandeln wir das Grobe in den zarten Äther, worin unsere Geisteskräfte wirken. So wie der stumpfe Metallbarren zu glühen beginnt, erst rötlich, dann weiß, oder wie Eis schmilzt und nacheinander flüssig, dampf‑ oder gasförmig wird und schließlich zu strahlender Energie, so werden diese Äther geläutert und alchemistisch in Leuchtextrakte verwandelt, wobei sie ein neues Gewand für die Seele ergeben und uns mit der Mittelwelt oder dem Himmelwärtigen verbinden, wo auch ihre wahre Heimat liegt. Wie beweglich sind die Gedankenkräfte jetzt! Wie lebendig die Vorstellungskraft! Wir sind aus dem Durcheinander des Körpers hinausgehoben. Die Hitze des Blutes verflüchtig sich unter uns. Wir kommen unserem wirklichen Ich näher. Unser Herz sehnt sich nach der Stunde der Meditation und drängt ihr entgegen; und wenn sie da ist, kommen wir in uns selbst hoch, wie ein Taucher, der zu lange unter Wasser weilte, hochkommt, um Atem zu holen und das Licht zu sehen. Wir haben den Gott angerufen und erhalten Antwort nach altem Versprechen. Wie unser hohes Ziel, so ist auch unsere Eingebung. Wir erfahren sie als Liebe – und was für Liebe umfängt uns da! Wir erfassen sie als Macht und leiten aus dieser Erhabenheit unsere Vollmacht ab. Wir erträumen sie als Schönheit,  und der Magier des Schönen erscheint überall bei ihrer wundersamen Kunst, und die Scharen der herrlichen, ihren Gedanken entsprungenen Geschöpfe sind eifrig damit beschäftigt, die Natur und das Leben nach ihrem Bild zu formen, und alle eilen, eilen der goldenen Welt zu. Diese Vision birgt den Beweis für den Geist in sich, Worte jedoch kön­nen sie weder fassen noch erklären. Wir müssen uns auf tiefere Ebenen begeben und uns vom Körperlosen dem­jenigen zuwenden, das Form besitzt.



Autor: George William Russell