Mystische Vision gepaart mit vorbehaltlosem Einsatz für das Gemeinwohl auf geistigem, künstlerischem und sozial-politischem Gebiet – das ist das Lebensbild George W. Russells, das sich vor den Augen des Lesers entfaltet. Sylvia Botheroyd führt eindrucksvoll und sachkundig in das Leben und Schaffen dieses herausragenden Iren ein, bevor sie den Leser in die autobiographischen Aufzeichnungen des Autors entlässt.
 
Es ist wohl kein Zufall, dass dies Werk, bereits 1918 in London erschienen, in neuerer Zeit eine Übersetzung ins Deutsche und, nachdem vergriffen, jetzt wieder eine Neuauflage erfährt – geht es hier doch um Reichweiten menschlichen Bewusstseins und die Möglichkeiten seiner Entfaltung, ein Thema, das zunehmend Interesse findet.
 
Wie der Titel andeutet, wird hier nicht der äußere Lebensweg beschrieben, sondern eine innere Entdeckungsreise. Feinerstoffliche Welten aus der Erlebnisperspektive – andernorts oft nur in abstrakten Begriffen umrissen – das ist es, was die Faszination dieses Werkes ausmacht.
 
Je mehr sich der Leser darin vertieft, desto mehr ahnt er die verborgenen Dimensionen seines eigenen Seins und die Komplexität der Welt, die ihn umgibt. In zumeist unbewusster Resonanz mit dem Leben um ihn herum, von Russel in Beispielen geschildert, mag ihm eine Idee von der wechselseitigen Verbundenheit der Lebewesen aufdämmern. Eine angeborene Sehergabe befähigte Russell, tiefer in das Herz der Natur zu schauen, hinter ihrem physischen Schleier eine Vielfalt von Leben, ein "Vielfarbenes Land" zu erblicken, den "Atem" und das "Gedächtnis der Erde" zu erspüren, die für ihn ein lebendes Wesen ist.

Es ist eine Besonderheit des Buches, die dem "nicht sehenden" Leser entgegenkommt, dass Russell seine Vision reflektierend kommentiert, Themen wie Imagination und Intuition in eigenen Kapiteln beleuchtet, dabei auch die Erklärungen der Psychologen in Betracht zieht. Nicht uninteressant seine diesbezügliche Feststellung: Sie kämen ihm vor wie Versuche von Blinden, "die gern zeichneten, allerdings ohne zu sehen, was." Eigene Erfahrungen leiten ihn zu der Annahme, die übrigens in die Richtung neuerer Bewusstseinsforschung weist, "dass Vision und Ekstase von Gesetzmäßigkeiten abhängen, und allen offen stehen und dass dies von größerer Wichtigkeit sei als die eigentliche Botschaft der Seher."

Wohltuend ist die Weite von Russells Vision und die Universalität seiner Perspektive, frei von jeglicher dogmatischen Einengung. Der Bogen reicht von der keltisch-mythischen Vergangenheit seines eigenen Volkes bis zu den spirituellen Traditionen des fernen Ostens. Nicht Relikt eines einstigen goldenen Zeitalters sind sie ihm, sondern zeitlose Gegenwart, Wirklichkeit, die dem inneren Auge in oft überwältigender Weise offenbar wird. So ist es nicht verwunderlich, dass Russells Sprache zuweilen verhalten wirkt, an einigen Stellen in ehrfürchtiger Scheu zu verstummen scheint, wohl wissend, dass Worte die Mysterien des Lebens nicht zu fassen vermögen.

Russells wacher zielgerichteter Geist, die Fähigkeit zur Selbstkritik und die Lauterkeit seines Charakters bewahren ihn davor, in Niederungen verschwommener Medialität abzusinken. Im Gegenteil, strenge Selbstdisziplin und Meditation, die er in einem eigenen Kapitel beschreibt, scheinen ihm ein Tor in die höheren Dimensionen seines Geistes geöffnet zu haben, in denen er das "Licht der Erleuchtung" erfährt.
 
Gewisse Anzeichen deuten darauf hin, dass dem Mystiker Russell hier tatsächlich ein Blick aus der "Höhle" vergönnt war, in der wir uns nach Plato bewusstseinsmäßig auf Erden befinden. Russell sieht in dieser Erfahrung eine Möglichkeit, die in jedem Menschen schlummert, und die zu bezeugen das eigentliche Motiv seiner Autobiographie ist. Nicht um der Selbstdarstellung willen hat er sie geschrieben, sondern um seinen Mitmenschen die Gewissheit zu geben, dass sie höhergeistige Dimensionen in sich bergen, in denen ihre eigentliche göttliche Natur wurzelt und die zu entfalten das langfristige Ziel spiritueller Evolution ist.
 
Wer nicht glauben kann, dass der Mensch nur ein denkendes Tier ist, Geist und Wille bloße Schwingungsmuster im Gehirn sind, wie heutzutage manchmal zu hören, mag in diesem Buch Bestätigung und Ermutigung finden, den verborgenen Schätzen im eigenen Inneren nachzuspüren.
Den Herausgebern sei Dank, dass durch ihre Initiative dies Kleinod authentischer spiritueller Erfahrung jetzt wieder in deutscher Sprache erschienen ist. Besondere Anerkennung gebührt Sylvia Botheroyd für die gleichermaßen einfühlsame wie kompetente Übersetzung.
 
 (Charlotte Wegner)
Das Licht der Erleuchtung. Visionen eines modernen keltischen Sehers.