Das rechte Säen
Robert Syring
Viele klagen, daß sie von ihren Mitmenschen nicht
verstanden werden, wenn sie in ihrer großen Begeisterung zu ihnen kommen und
die Lehren der tiefen Weisheit darbieten, die ihnen selbst zum Quell des
Trostes, der Kraft und des Glückes geworden sind. Statt des Verständnisses
finden sie bei anderen oft ein kaltes Herz, das mit Geringschätzung, ja
manchmal mit Spott die Gaben abweist, die der begeisterte Geber ihnen mit
offener Hand und offenem Herzen darbietet. Das entmutigt oftmals, und die Erde
ist wieder um ein Menschenkind reicher, das sich unverstanden wähnt und allen
fröhlichen Mut zum Mitteilen verloren hat und sich voll Trauer und Mutlosigkeit
von seinen Mitmenschen zurückzieht.
Ja, Geben ist eine Kunst, und das rechte Mitteilen
entspringt dem großen Herzen eines Menschen. Zu dieser Kunst gehört als erste
Bedingung ein starkes Feingefühl für die Natur desjenigen, dem man helfen will.
Ein echter Sämann streut seine Samen nur auf einen gut durchgearbeiteten Acker,
da er aus Erfahrung weiß, daß nur dort der kostbare Same aufgehen und gedeihen
kann.
Unsere abstrakten Wahrheiten sind solche köstlichen
Samenkörner, die aber einen gut vorbereiteten Boden erfordern. Freud und Leid
sind die Pflugscharen, die den Boden des menschlichen Herzens durchgraben und
es aufnahmefähig machen für geistige Saat. Ehe nicht die große Enttäuschung des
Lebens durchlitten ist und ehe nicht oftmals die Flügel der Freude das
Menschenherz zu himmlischen Höhen erhoben haben, eher ist der Ackerboden des
menschlichen Gemüts nicht reif für die Samenkörner, aus denen der Baum des
Lebens sich entfalten soll.
Wer aber die Abgründe des Leides und die Höhen der Seligkeiten kennt, der
schaut auch das Innere der menschlichen Herzen. Sie liegen vor ihm wie ein
offenes Buch, und er weiß jetzt in der Kraft seiner Sehergabe, ob er mitteilsam
sein kann oder ob ihm das Gesetz des Gebens es verbietet. Dann schweigt er und
läßt jeden seinen Weg wandeln; denn
handelt er gegen diese innere Einsicht, gegen seine Intuition, so wird er die
Wahrheit des Ausspruches erfahren: "Gebet das Heilige nicht den Hunden
und werfet eure Perlen nicht den Schweinen vor, damit sie dieselben nicht
zertreten mit ihren Füßen und sich umkehren und euch zerreißen."
Das Säen zu unrechter Zeit und am unrechten Orte
erweckt nur Vorurteile, Widerspruch, Spott und Haß. Ja, wir verhindern geradezu
die Entwicklung desjenigen, den wir beglücken wollen; denn das Vorurteil ist
ein Hindernis, über das er oft lange Zeit nicht wegkommt.
Wenn die Zeit reif war, dann kam einer der großen
Lehrer der Menschheit und säte den Samen göttlichen Wissens aus, so lehrt es
die Geschichte der Vergangenheit.
Darum, ihr Menschen, denen das Herz zum Überfließen
voll ist, prüft zuvor, ob der Ackerboden beackert ist, und dann gebt so viel,
wie der andere vertragen kann. Das ist wichtig, und wiederum muß das seelische
Feingefühl, die Intuition hier Ratgeber und Prüfer sein. Jeder verträgt nur ein
bestimmtes Quantum der geistigen Speise. Wird es zu viel, so läuft er mit
verdorbenem Magen umher, und leicht können hieraus Krankheiten entstehen, die
unheilbar sind.
Auch hier lehrt die Geschichte der Vergangenheit, daß
selbst große Lehrer der Menschheit nicht immer das richtige Maß beim Geben
ihrer Lehren getroffen haben und die Völker dadurch manche schweren Krankheiten
und Krisen durchzumachen hatten. Darum wurde auch früher die Geheimlehre nur in
den streng abgeschlossenen Kreisen der Mysterienschulen mitgeteilt; denn
geistige Wahrheiten sind zweischneidige Schwerter, die manchem Tod und Verderben bringen.
Goethe
drückt diese Wahrheit in den Worten aus:
So wandle du — der Lohn ist nicht gering —nicht schwankend hin, wie jener Sämann ging,daß bald ein Korn, des Zufalls leichtes Spiel,hier auf den Weg, dort zwischen Dornen fiel.Nein, streue klug und reich, mit männlich steter Handden Segen aus auf ein geackert Land,dann laß es ruhn, die Ernte wird erscheinenund dich beglücken und die Deinen.
Und an
anderer Stelle:
Vergänglich sind der Erde reichste Gaben,nur was wir außer dem Gebiet der Zeitgewirkt als Geister auf die Geister haben,das währt und bleibt in alle Ewigkeit.
Autor: Robert Syring