Das Wesen aller Religionen

 

Leo Tolstoi

Das vergleichende Studium verschiedener Religionssysteme, die eine große Bedeutung für ganze Völkergruppen gewonnen haben, ergibt, daß gewisse Grundgesetze allen gemeinschaftlich sind. Die Grundlehren des Buddhismus, des Taoismus, des Alten und des Neuen Testamentes, des Korans sind deshalb dem Wesen nach gleich, weil sie Widerspiegelungen von unwandelbaren Gesetzen im Reiche des Geistes sind, die von Zeit und Raum nicht berührt werden. Gott spricht heute noch ebenso zum Menschenherzen wie vor Jahrtausenden, zu den Europäern ebenso wie zu den Asiaten; er ist auch heute noch der gütige Vater aller, die sich mit kindlichem Herzen zu ihm wenden.
 
Das göttliche Licht, Erkenntnis und Liebe, durchstrahlt — der Sonne gleich — das Universum und erfüllt alles mit Leben. Um die Einheit des Wesens in allen Religionssystemen zu erkennen, ist nichts weiter nötig als die wahre Selbsterkenntnis. Was aber ist dieses Selbst, das erkannt werden soll? Es gibt im Kosmos nur ein wahres Selbst, nur ein wahres Bewußtsein, nur eine Liebe, und das ist Gott. Diese Zentralkraft, das Prinzip des Lebens im Kosmos, die Grundursache alles Daseins, ist durch sich selbst existierend, ewig und unwandelbar. Das wahre Selbst ist der Weltenmeister, die Erscheinungen im Kosmos sind die Zeugen seiner Macht, die Verkünder seiner Herrlichkeit. Es ist die reine Vernunft, die sich selber in allem erkennt; es ist die Liebe, die sich selber in allem liebt. Das wahre Selbst ist das Leben der Welt, gleichgültig, ob wir es Buddha, Christus oder Allah nennen. Dieses Selbst lebt, liebt und erkennt sich im ganzen Weltall, also auch in mir. Je mehr mein Wille, meine Erkenntnis mit dem göttlichen Willen, mit der göttlichen Erkenntnis sich verbindet, um so mehr offenbart sich in mir Gott. Ist aber mein Wille, meine Erkenntnis eins geworden mit dem göttlichen Zentrum, dann ist die Seele zu ihrem Ursprunge gelangt und erkennt sich als Gott in Gott.
 


Autor: Leo Tolstoi