Der Strahl der göttlichen Natur in jedem von uns drängt nach Selbstausdruck in einem größeren Leben, als wir es je erträumt haben. Wir sind weder zufällig in die Welt gekommen, noch in das Erdenleben geraten wie ein Wrack, das ans Ufer geworfen wird, sondern wir sind hier für unendlich edle Zwecke.

Die gesamte Menschheit sollte ihr Erbe kennen und immerfort danach streben, zu werden und zu überwinden, dabei aber auch niemals von Kräften außerhalb des Selbst abhängen. Beim Aufstehen am Morgen sollten wir uns unserer inneren Göttlichkeit bewusst sein; beim Zubettgehen am Abend sollten wir vom Schutz des Gesetzes behütet sein. Denn im Plan des Lebens, an dessen überwältigendem Wohlwollen jeder Anteil hat, wird keiner übersehen, ausgelassen oder vergessen. In allen Situationen, von der trivialsten bis zur wichtigsten, bei allen Versuchungen, von der kleinsten bis zur größten, kann ein Mensch in seiner eigenen Reflexion und seinem eigenen inneren Bewusstsein das finden, was ihn überzeugen wird, dass er mehr ist als er zu sein scheint - ein Wissen, das nicht zu Egoismus und Selbstüberheblichkeit führt, sondern zu großer Schlichtheit, Unpersönlichkeit und Ausgeglichenheit.

Denn der Mensch ist die Seele, und keine Weisheit ist so göttlich, dass er sie nicht erlangen kann: die Seele gehört zu den schönen Ewigkeiten, und wir sind hier, um alles, was lebt, schön zu machen. Für mich hätte das Leben keinen Sinn, ich könnte nicht einen einzigen Tag durchstehen, gäbe es da nicht das innere Bewusstsein, das dieses sich rechtfertigende, kleine Selbst von mir der Tempel der Seele ist, der Schrein eines Gottes, der unentwegt nach erhabeneren Ausdrucksformen des Lebens drängt. Die Seele kann auf dieser Seite der Unendlichkeit nirgendwo ausruhen: sie verliert ihre Vitalität, wenn sie das versucht. Die ganze Ewigkeit erwartet sie; wie sollte sie mit dem halben Leben zufrieden sein, das wir leben, und mit den vielen Unvollkommenheiten, die uns beeinträchtigen? Es liegt in der Natur der Seele, immerfort dem Unbegrenzten entgegen zu fliegen, zu arbeiten, zu hoffen, zu erobern, immer und immer vorwärts zu gehen.

Deshalb ist es keine Frage unserer Vorlieben und Abneigungen: wir müssen vorwärtsstreben, in uns das Geheimnis unseres göttlichen Selbstes suchen, das immerwährend zu uns durch die Stille singt. Wenn der Sinn und die Musik des Gesangs verloren gehen, bevor sie unser Gehör erreichen, dann deshalb, weil unsere Gedanken von den Dingen des Todes zu sehr erfüllt sind, und weil wir von unnötigen Lasten niedergedrückt werden und in unserer Jugend durch falsches Denken alt werden, indem wir unser Gemüt mit falschen Wünschen füllen, die der Selbstsucht entspringen und denen wir erlauben, anzuwachsen, bis sie, und nicht wir, die lebendige Kraft hinter unseren Handlungen werden.

Nicht nur das Gemüt, sondern das ganze Wesen muss für die Suche nach Wahrheit vorbereitet werden. Dafür gibt es weder Regeln, die gegeben werden können, noch präzise Anweisungen oder maßgefertigte Rezepte. Aber begreife, wenn auch nur für einen Tag, dass du größer bist, als du dir träumen lässt, dass du in der Essenz deiner Natur göttlich bist und nicht für ewig verdammt werden kannst; und erinnere dich, dass du niemals hättest gehen können, wenn du es nicht versucht hättest, dass du niemals hättest sprechen können, wenn du nicht einen Versuch zu sprechen unternommen hättest, dass du niemals hättest singen können, wenn du nicht in deinem Inneren den Drang des lebendigen Gottes dort verspürt hättest.

Theosophie ist so alt wie die Berge, und alle Weltreligionen basieren auf ihren Lehren, obwohl jetzt nur eine Minderheit mit ihnen vertraut ist. Sie ist weder Aberglaube noch Spekulation, weder Dogmatismus noch blinder Glaube, noch das Produkt des Gehirnverstandes irgendeines Menschen, und auch in keiner Weise übernatürlich. Sie kommt zu den Menschen wie ein alter Wanderer, der alle Wege der Erfahrung durchmessen hat, und der, wenn er nach langen Reisen volles Verständnis für das Leben erlangt hat, an den Platz zurückkehrt, von dem er aufgebrochen war, damit er denjenigen, die dort wohnen, das rettende Wissen bringen kann, das er angesammelt hat. Und das ist das Wissen über den Gott im Menschen und die Kraft des Menschen vorwärts zu schreiten und zu überwinden; das bedeutet Evolution.

Eine oberflächliche Prüfung der theosophischen Lehren wird nichts nützen. So wie niemand durch das bloße Studium der Musiktheorie ein Musiker werden kann, so kann keiner durch Lesen zu einem Verständnis der Theosophie gelangen. In beiden Fällen ist Übung notwendig: man muss das Leben leben, wenn man das Gesetz kennenlernen möchte. Ein Künstler würde niemals Hervorragendes in seiner Kunst oder ein Musiker in seiner Musik erreichen, wenn er nicht mit den grundlegenden Prinzipien begonnen hätte.

Die Götter warten (engl. Originaltitel: The GodsAwait) deutsche Ausg.: Theos. Verlag, Eberdingen 1995, S.131ff