„...gewöhnlich ist es nicht das Glück, was uns fehlt, sondern das Wissen um das Glück. Wozu dient es, so glücklich wie möglich zu sein, wenn man nicht weiß, dass man glücklich ist? Das Bewusstsein des kleinsten Glückes trägt viel mehr zu unserer Glückseligkeit bei als das größte Glück, das unsere Seele achtlos übersieht." 12

Maurice Maeterlinck: Der Blaue Vogel

Ein Interpretationsansatz (Teil 1)


 Biographische Notizen zu Maurice Maeterlinck

Maurice Maeterlinck wird am 29. August 1862 als Sohn französischsprachiger Eltern im flämischen Gent geboren. Er studiert Jura und verfasst bereits während seiner Studienzeit erste Gedichte und Erzählungen.13 Als Rechtsanwalt ist er nur kurze Zeit tätig, wendet sich dann mehr und mehr der Literatur und dem Schreiben zu. 1889 veröffentlicht er seinen ersten Gedichtband Les Serres chaudes (Im Treibhaus). Sein literarischer Durchbruch gelingt ihm im gleichen Jahr mit dem phantastischen Drama La Princesse Maleine (Prinzessin Maleine), das nach einem Märchen der Brüder Grimm verfasst ist. Im Jahre 1896 geht Maeterlinck für einige Monate nach Paris, wo er Mitglieder der neuen literarischen Bewegung des Symbolismus kennenlernt.

1906 erscheint sein bekanntestes Werk L'Oiseau Bleu (Der Blaue Vogel).14 Maeterlinck arbeitet Zeit seines Lebens sowohl als Lyriker als auch als Dramatiker und wird insbesondere durch seine Theaterstücke weltberühmt. Im Jahre 1911 erhält er den Nobelpreis für Literatur.

Maeterlinck unternimmt ausgedehnte Reisen durch weite Teile Europas und Nordamerikas und lässt sich schließlich an der französischen Riviera nieder. In Nizza erwirbt er 1930 ein Schloss, dem er den Namen „Orlamonde" aus seinen Quinze Chansons gab. Es wird heute als Hotel „Palais Maeterlinck" geführt. Für seine literarischen Verdienste wird er 1932 vom belgischen König Albert in den Grafenstand erhoben. 1939 flieht Maeterlinck in die USA, wo er bis1947 bleibt.15 Er stirbt am 6. Mai 1949 auf seinem Schloss in Nizza.

Die geistige und innere Dimension des Schriftstellers

Maurice Maeterlinck gilt neben Charles Baudelaire, Stephane Mallarme und Arthur Rimbaud als einer der wichtigsten Vertreter des literarischen Symbolismus, einer Strömung gegen Ende des 19. Jahrhunderts in Frankreich, die im Gegensatz zum Naturalismus durch die Verwendung von Symbolen und das Streben nach Musikalität in der Sprache gekennzeichnet ist. Vertreter dieser Richtung in Deutschland sind R. M. Rilke und St. George.

Gemeinsam war ihnen (den Symbolisten) das Unbehagen an der vom positivistisch-materialistischen Denken geprägten Zeit ... Ihre Dichtung will die Zusammenhänge zwischen den äußeren Erscheinungen und den verborgenen Seins- undBewusstseinsschichten evozieren.16

Eine Vereinigung der inneren und äußeren Welt wird angestrebt. In diesem metaphysischen Sinne des Symbols besteht auch ein Zusammenhang zwischen der idealistischen Philosophie Immanuel Kants, dessen Unterscheidung zwischen Phänomen und Noumenon sich deutlich auf den Symbolismus auswirkt.17(Red.)

Neben einer großen Anzahl von Bühnenwerken hat Maeterlinck aber auch zahlreiche philosophische Abhandlungen verfasst, u. a. Der Schatz der Armen (1896), Weisheit und Schicksal (1898), Der "begrabene Tempel (1902; gemeint ist der Tempel in der Menschenbrust) und Von der inneren Schönheit.

Seine geistige Nähe zur Mystik drückt sich in seinen Essays über den flämischen Mystiker Jan van Ruysbroeck18, über Ralph Waldo Emerson19 und Novalis20 aus.

Aus seinen früheren Jahren (Studienzeit) stammen einige lyrische Werke, die aber nicht mehr alle erhalten sind.

Als Imker in Oostakker bei Gent hat er sich später eingehend mit dem Leben verschiedener Insekten befasst. So zählen Sachbücher wie Das Leben der Bienen (1901), Das Leben der Termiten (1927) und Das Leben der Ameisen (1931) zu seinen naturwissenschaftlichen Werken. Ebenfalls in diese Richtung zielen Arbeiten wie Die Intelligenz der Blumen (1907) und Die vierte Dimension.

Unter seinen vielen Bühnenwerken sei das noch immer häufig inszenierte Schauspiel Pelléas und Mélisande (Uraufführung1893 in Paris) erwähnt, das mehrfach vertont wurde, u. a. als Oper durch Claude Debussy. Seine Bühnenwerke haben ihm den Titel „Der belgische Shakespeare" eingetragen.

Keines seiner Theaterstücke spiegelt jedoch den symbolischen wie auch den surrealistischen Charakter seines Denkens so deutlich wider wie das Märchenspiel Der Blaue Vogel. Es entstand 1906 und wurde 1908 am Akademischen Künstlertheater in Moskau uraufgeführt. Spätere Inszenierungen gab es in London, New York, Wien, Paris und Berlin.

Dieses Märchenspiel hat zahlreiche Vertonungen, u. a. durch Engelbert Humperdinck, erfahren und wurde 5-mal verfilmt. Es gilt als ein Höhepunkt in Maeterlincks dramatischem Schaffen. Es spielt in einer Zauberwelt, ist Lebensweisheit im dichterischen Gewande und hat wesentlich zur Verleihung des Literatur-Nobelpreises an den Autor im Jahre 1911 beigetragen.21

Maeterlincks Gedankenwelt und Botschaft kann wohl kaum besser ausgedrückt werden, als es ein ehemaliges Mitglied der Académie Francaise22, Francois Albert-Buisson, getan hat:

„In der Stunde, da sich die Wissenschaft, berauscht von ihren Erfolgen, anheischig macht, das Geheimnis der Dinge des Lebens zu entschleiern, ist er gekommen, die Rechte des Unsichtbaren und des Geheimnisses zu vertreten. Der im Guten wie im Bösen triumphierenden Technik setzt er die lächelnden Vorbehalte des Philosophen entgegen."

Wie zeitlos und darum stets verblüffend aktuell!

Der Blaue Vogel - Kurze inhaltliche Zusammenfassung des Schauspiels

Es ist Heiligabend, aber für die zwei Kinder Tyltyl und Mytyl, die in einer ärmlichen Holzfällerhütte in ihren Betten liegen, gibt es keine Bescherung wie bei den reichen Kindern, die sie im gegenüberliegenden Haus beobachten.

Plötzlich tritt eine alte Frau ein, die mit ihrer Kleidung einer Fee gleicht. Sie ist auf der Suche nach dem Blauen Vogel als Heilmittel für ihre kranke und unglückliche kleine Tochter. Zunächst meinen die Kinder in ihr die Nachbarin zu erkennen, die sich aber beharrlich als Fee Berylune ausgibt und die Kinder auffordert, sich mit ihr auf die Suche nach dem Blauen Vogel zu begeben. Dazu soll ihnen ein auf einer Kappe befestigter Diamant behilflich sein, der sehend macht und ungeahnte Einblicke in das Innerste der Lebewesen und Dinge ermöglicht, so dass die Seelen dieser Erscheinungen mit den Menschen kommunizieren können. Als der Knabe Tyltyl diese Kappe aufsetzt und den Diamanten dreht, sieht er, dass die Fee tatsächlich wunderschön ist, und er kann mit der Katze, seinem Hund Tylo, aber auch mit dem Zucker und dem Brot wie mit Menschen reden.

Die erste Station der nun beginnenden Reise ist der prunkvolle Palast der Fee Berylune. Bevor die Fee und die Kinder diesen Palast betreten, warnt die Katze, die zusammen mit dem Hund die Kinder auf ihrer Reise begleitet, stellvertretend für die gesamte Natur alle anderen Mitreisenden, wie das Brot oder das Feuer, vor den Folgen, die entstehen könnten, wenn die Kinder den Blauen Vogel fänden. Denn entdecken die Kinder den Vogel, so werden sie - und damit die Menschen - alles wissen und alles sehen und die Natur wäre ihnen dann gänzlich ausgeliefert. Diesen möglichen Machtmissbrauch durch die Menschen, die durch den Blauen Vogel einen tiefen Einblick in die Mysterien der Naturseele bekämen, möchte die Katze, im Gegensatz zum treuen Hund, verhindern: Keinesfalls dürften die Kinder den Blauen Vogel finden.

Auf dem weiteren Weg übernimmt das Licht die Begleitung der Kinder. Eine Nebelwand weicht zurück und sie sehen ihre verstorbenen Großeltern und Geschwister im Land der Erinnerung. Dort finden sie eine blaue Amsel, die sie für den gesuchten Vogel halten und als Geschenk mitnehmen dürfen. Als sie dieses Land aber verlassen, ist die blaue Amsel der Großeltern wieder ganz schwarz geworden.

Wenig später sind sie im Palast der Nacht angelangt. Die Nacht als Symbol für die Mysterien der Welt wird flankiert vom Tod und seinem Bruder, dem Schlaf. Hinter den verschlossenen Türen dieses Palastes, die Tyltyl sich alle öffnen lässt, verbergen sich schreckliche Dinge wie Krankheit und Krieg, aber auch Traumgärten von unglaublicher Schönheit, in denen märchenhafte blaue Vögel hin und her fliegen. Die Kinder fangen so viele davon, wie sie können, müssen aber schon bald enttäuscht feststellen, dass sich die Vögel am hellen Tage als nicht lebensfähig erweisen.

In der anschließenden Waldszene müssen die Kinder vor der wütenden Natur um ihr Leben fürchten. Gewarnt von der Katze, die den Kindern vorausgeeilt ist, halten die Bäume des Waldes Gericht über die Köhlerkinder und beschließen deren Tod als Sühne für die vielen gefällten Brüder und Schwestern. Die alte Eiche ist nach langer Diskussion auch bereit, das Urteil zu vollstrecken. Aber die Kinder werden durch das Licht gerettet, das sie daran erinnert, den Diamanten zu drehen und so die Bäume wieder stumm und unbeweglich zu machen.

Zur mitternächtlichen Stunde auf dem Friedhof  drehen die Kinder ihren Diamanten erneut und hoffen, in einem der Gräber, die sich daraufhin tatsächlich öffnen, den Blauen Vogel zu entdecken. Doch statt der zu erwartenden Toten sehen sie aus den Gräbern einen sich immer üppiger entwickelnden Flor heraufsteigen, der den Friedhof in einen wunderbaren Zaubergarten verwandelt. Den Blauen Vogel finden sie auch hier nicht.

In den Glücksgärten machen die Kinder Bekanntschaft mit den unterschiedlichen Glücksarten. Sie treffen dort auf grobes physisches Glück wie z. B. das Glück-reich-zu-sein, das Glück-befriedigter-Eitelkeit oder das Glück-zu-faulenzen, danach auf die feineren Freuden, z. B. der Freude-am-blauen-Himmel, am Sonnenuntergang oder der häuslichen Glückseligkeiten. Zuletzt aber treffen sie auf die großen Freuden, die in hohen ethischen Werten gründen wie z. B. die Freude-gerecht-zu-sein oder die Freude-zu-lieben. Unter diesen ist die höchste die Freude-der-Mutterliebe als Sinnbild der reinsten Freude. Diese öffnet den Kindern auch die Augen für die verborgene wahre Schönheit ihrer eigenen Mutter.

Im Land der Zukunft, einem blauen Palast mit riesigen Sälen, tummeln sich viele ungeborene, blaue Kinder, die noch auf ihre irdische Geburt warten. Tyltyl und Mytyl spielen mit diesen Kindern, können sich jedoch nicht richtig mit ihnen verständigen, da vieles von dem, was sie sagen, von den blauen Kindern nicht verstanden wird. Einige dieser Kinder erläutern Tyltyl und seiner Schwester ihre Bestimmung auf der Welt, so wird eines eine große Entdeckung machen und ein blindes Kind soll sogar den Tod besiegen. Die meisten der blauen Kinder freuen sich auf ihre Geburt und können es kaum erwarten, andere aber wollen um keinen Preis geboren werden. Durch die Zeit, Herrscher über diesen Palast in der Gestalt eines Greises, werden die Geschwister schließlich entdeckt und müssen fliehen. Wie in der Waldszene werden sie auch hier durch die Hilfe des Lichtes gerettet.

Nachdem die Kinder (ihre Seelen) ein Jahr lang auf ihrer Suche nach dem Blauen Vogel waren, sind sie wieder in ihrem Elternhaus angelangt, ohne ihn jedoch gefunden zu haben. Sie sind enttäuscht und müssen zu ihrer Verwunderung feststellen, dass sie ihr Haus anscheinend gar nicht verlassen haben. Es scheint nur eine Nacht seit dem Beginn ihrer Reise vergangen zu sein und ihre Eltern nennen ihre erlebten Abenteuer einen Traum.

Als die Nachbarin zu Besuch kommt, ist die zuvor nicht blau genug erschienene Turteltaube Tyltyls plötzlich ganz blau geworden und der Junge schenkt sie der kranken Nachbarstochter. Als diese den Vogel in Händen hält, kann sie plötzlich wieder gehen, ja sogar tanzen und fliegen. Aber während der Fütterung entweicht der Vogel und fliegt davon. Aber Tyltyl tröstet sie mit der Zuversicht, dass man den Vogel bestimmt wieder einfangen könne.

12 Maurice Maeterlinck: Weisheit und Schicksal. In das Deutsche übertragen von Friedrich von Oppel-Bronikowski, Diederichs, Jena 1908, S. 97.

13 Vgl. www.felix-bloch-erben.deunter dem Eintrag „Maurice Maeterlinck (Stand: 25.08.2008). Einen Überblick über Maeterlincks Leben und Werk gibt Heinrich Meyer-Benfeys Maeterlinck-Buch, Dresden 1923.

14Vgl. www.nobelpreis.org unter dem Eintrag „Maurice Maeterlinck" (Stand: 25.08.2008).

15 Vgl. Wikipedia: Maurice Maeterlinck.

16 Vgl. Meyers Lexikon online.

17Vgl. Wikipedia: Symbolismus.

18 Jan van Ruysbroeck (1293-1381) ist der bedeutendste Mystiker des niederländischen Raumes.

19 Ralph Waldo Emerson (1803-1882) war ein US-amerikanischer Philosoph, Geistlicher und Schriftsteller.

20 Novalis(1772-1801), eigentlich Friedrich von Hardenberg, war einer der bedeutendsten Vertreter der Romantik. Er verfasste Gedichte, Kirchenlieder, Romanfragmente und Essays.

21 Die diesem Essayzugrunde gelegte Fassung ist die Ausgabe des Sachon Verlages, die sechs Akte aufweist. Die Übertragung durch Stephan Epstein, Erich ReißVerlag, Berlin 1910, enthält demgegenüber nur 5 Aufzüge oder Akte. Obwohl die Zahl der sog. Bilder der jeweiligen Akte in beiden Fassungen übereinstimmt (insgesamt 12), ist ihre Anordnung jedoch z. T. verschieden.

22 Älteste und prestigereichste Institution im geistigen Leben Frankreichs.

Redaktionell überarbeitet und mit Ergänzungen versehen (CW).



Autor: Werner Bernadowitz