Der kosmische Herzschlag

Shirley Nicholson
 
H. P. Blavatsky sagt in der Geheimlehre:
" Das wesentliche Merkmal (des Einen Lebens), das selbst unaufhörliche Bewegung ist, wird in der esoterischen Ausdrucksweise der „Große Atem" genannt; er ist die unaufhörliche Bewegung des Weltalls im Sinne von unbegrenztem, allgegenwärtigem Raum. Etwas, das bewegungslos ist, kann nicht göttlich sein. Aber es gibt auch in Wirklichkeit nichts absolut Unbewegliches in der Allseele."
 
Bewegung ist unvermeidlich. Wohin wir auch blicken, auf welche Seinsebene auch immer, nichts befindet sich in völliger Ruhe oder Bewegungslosigkeit. In der Natur sind das unwahrnehmbare Wachstum der Bäume und die allmähliche Verwitterung der Felsen ebenso gewiss Bewegungen wie das Zittern der Pappelblätter im Wind, das Fallen des Schnees oder das Klatschen von Kinderhänden. Auch unsere eigenen inneren Vorgänge befinden sich ständig im Fluss. Das Herz pumpt unaufhörlich Blut zu unseren Zellen, die sich in ständiger Tätigkeit befinden, um Nährstoffe zu absorbieren und Abfallstoffe auszuscheiden, sich zu teilen und zu regenerieren. Das Material aller unserer Gewebe verändert sich ständig, manches davon mit erstaunlicher Geschwindigkeit des Wachstums und der Erneuerung. Auch unsere Gedanken und Gefühle befinden sich in ständiger Bewegung und Veränderung, wie uns lebhaft bewusst wird, wenn wir versuchen, unser Denken in der Meditation zur Ruhe zu bringen.
 
Die astronomische Welt ist in ihrer unaufhörlichen und oft heftigen Aktivität sogar noch dramatischer. So wie unser Planet um die Sonne kreist und die Sonne sich um das Zentrum unserer Milchstraße bewegt, rasen alle astronomischen Körper mit unfassbarer Geschwindigkeit durch den Weltraum. [... ] Ob wir es nun merken oder nicht, die Welt rund um uns und wir selbst befinden uns in einem Zustand ständiger heftiger oder gedämpfter Bewegung, die unaufhörlich weitergeht.
 
Unaufhörliche Veränderung ist auch ein Axiom der Geheimlehre. H. P. Blavatsky lehrt, dass „Bewegung ewig ist" und dass es in den grenzenlosen Bereichen der Unendlichkeit ständig Bewegung gibt. Sie macht allerdings einen Unterschied - und stellt gleichzeitig eine Verbindung her - zwischen der abstrakten Bewegung als einem ewigen Prinzip und den Bewegungen, die wir in der Natur kennen. Die „metaphysische Eine Absolute Seinheit" und Wirklichkeit wird auf zweifache Weise symbolisiert, als absoluter abstrakter Raum und als absolute abstrakte Bewegung, die der „Große Atem" genannt wird. Abstrakte Bewegung ist transzendent, ein Aspekt des Einen, nicht verschieden von der transzendenten Quelle hinter allem, was ist. „Innerkosmische Bewegung", die ewig und unendlich ist, wird der „kosmischen Bewegung gegenübergestellt ... dem, was der Wahrnehmung unterliegt (und daher) begrenzt und periodisch ist. Als eine ewige Abstraktion ist Bewegung ewig gegenwärtig; als Manifestation ist sie begrenzt und endlich."(1) Aber sowohl die Wissenschaft als auch die Theosophie haben viel über die unaufhörliche Bewegung im Weltall zu sagen, und in einigen wesentlichen Punkten befinden sie sich in Übereinstimmung.
 

Physische und metaphysische Bewegung

Zu Bewegung in der vertrauten materiellen Welt erklärt H. P. Blavatsky, dass „es ein grundlegendes Gesetz des Okkultismus ist, dass es keine Ruhe oder ein Aufhören von Bewegung in der Natur gibt."(1) Vom Standpunkt der modernen Physik stellt Fritjof Capra fest, dass „Materie niemals ruht, sondern sich immer in einem Bewegungszustand befindet ."(2) Die Physik hat gezeigt, dass die Materie ohne Bewegung unvorstellbar ist. In Vorwegnahme dieser Auffassung erklären die Mahatma-Briefe, obwohl sie schon gegen Ende des 19. Jahrhunderts geschrieben wurden, in einer Zeit, in der die Materie als tot und träge betrachtet wurde und es einer Kraft bedurfte, um sie in Bewegung zu setzen: „Kein Atom befindet sich jemals in absolutem Ruhezustand ."(3) Auch Einstein erkannte, dass wir in einem dynamischen Weltall leben, in dem sich alles in ständiger Bewegung befindet. Der Schriftsteller Serviss beschreibt Einsteins Auffassung wie folgt:
... ein Weltall, in dem alles eine Tendenz hätte, seine eigene Bewegung anzuhalten, würde bald zu einem toten Weltall werden, bar jeden Lebens und jeder wie immer gearteten Aktivität. Aber die wissenschaftlichen Forschungen zeigen uns, dass sowohl in unendlich kleinen als auch in unendlich großen Dingen alles in Bewegung ist ... wir finden nichts in einem Ruhezustand.
 
„Da dies so ist", sagt Einstein diesbezüglich, „muss Bewegung sowohl als der natürliche als auch der tatsächliche Zustand der Materie betrachtet werden, ein Zustand der Dinge, der keiner Erläuterung durch uns bedarf, denn er ergibt sich aus der Struktur des Weltalls selbst. Er ist die Essenz des Daseins."(4)
Die Theosophie stimmt mit der Physik darin überein, dass Bewegung nicht von irgendeiner äußeren Kraft auferlegt wird, wie es in der Newtonschen Physik angenommen wurde, sondern dass sie ein charakteristisches Merkmal der Materie selbst ist. Während Capra sagt, dass „die Kräfte, welche die Bewegung verursachen, sich nicht außerhalb des Gegenstandes befinden, sondern eine innere Eigenschaft der Materie sind",(5) heißt es in den Mahatma-Briefen,dass „Bewegung eine Existenzform ist, die zwangsläufig der Substanz der Materie entströmt."(3) Physik und Theosophie stimmen darin überein, dass Bewegung in das eigentliche Fundament des Weltalls eingebaut ist, in die Atome, die seine Grundlage bilden. Es kann keine materielle Welt ohne Bewegung geben.
 
Vom Gesichtspunkt der theosophischen Metaphysik aus ist Bewegung nicht nur ein wesentliches Merkmal aller materiellen Dinge, sondern sie ist auch die Grundlage für viele Energieformen in der Welt. Bewegung kann als die wichtigste Quelle betrachtet werden, aus der verschiedene Energieformen entstehen, so wie das weiße Licht die Quelle der Farben des Regenbogens ist. Die Mahatma-Briefelegen die theosophische Auffassung von der Beziehung zwischen Bewegung und den verschiedenen Arten von Energie dar:
... so wie die Bewegung alldurchdringend und absolute Ruhe unvorstellbar ist, unter welcher Form oder Maske auch immer Bewegung auftreten mag, ob sie Licht, Wärme, Magnetismus, chemische Affinität oder Elektrizität sind - alle diese können nur Erscheinungsformen ein und derselben allmächtigen Kraft sein, ... die wir einfach das „Eine Leben", das „Eine Gesetz" und das „Eine Element" nennen.(3)
Die Forschung in der modernen Physik nach einem einheitlichen Feld, das die Schwerkraft, alle elektro-magnetischen Kräfte und die Kernkraft verbindet, tendiert dahin, dass die Wissenschaftler seit Einstein diesem Begriff einer vereinheitlichten Kraft glauben schenken, wie sie in der esoterischen Philosophie postuliert wird.
 
Wie schon besprochen, befindet sich nicht nur die Welt der Atome und der subatomaren Partikel in ständiger Bewegung. Sowohl Gegenstände als auch Lebewesen sind auf jeder Ebene in ständiger Bewegung und verändern sich auch ständig.
 
Capra sagt: „Der Kosmos wird als eine einheitliche Wirklichkeit betrachtet, die sich ohne Unterlass in Bewegung befindet..." (5)
 
Die Mahatma-Briefe weisen auf die weitreichenden Wirkungen der Bewegung bei der Gestaltung der Welt hin, wie wir sie kennen: „Es ist die Bewegung mit ihren Wirkungen - Konflikt, Neutralisation, Gleichgewicht, Wechselbeziehung - welche die unendliche Vielfalt verursacht." (3)
 

Rhythmus und der Große Atem

H. P. Blavatsky beschreibt die unzähligen Zyklen in der ganzen Natur als auf der pulsierenden, rhythmischen Bewegung beruhend, die allem zugrunde liegt. Ihr Symbol für die unaufhörliche Bewegung, die den Zyklen zugrunde liegt, ist der Große Atem, „der Atem des Einen Seins", während Bewegung „sein Äquivalent auf der materiellen Ebene ist." (1) In der Natur sind die Rhythmen und Zyklen periodisch; sie kommen und gehen, aber die numenale „Bewegung besteht ewig im Bereich des Nichtoffenbarten".(l) So zeigt sich das Bild eines stetigen ewigen Pulsierens in dem nicht materiellen Hintergrund, mit dem eine Myriade von Rhythmen und Schwingungen in der Welt in Resonanz vibrieren - „der ewige Pulsschlag, die Urform aller Rhythmen im Weltall ."(6)
 
[...]
 
Die Bewegung, die von diesem inneren kosmischen Puls widergespiegelt wird, kann zu verschiedenen Zeiten ihre Intensität verändern, wenn Universen und Zyklen ihre verschiedenen Phasen durchlaufen. Prem und Ashish formulierten:
Dieses Leben pulsiert ohne Unterlass im Herzen von allem, was existiert. Sein zeitloser, unermüdlicher Rhythmus ist manchmal stark und manchmal schwach, je nachdem, wie die Zyklen ihren bestimmten Lauf nehmen, aber er hört niemals ganz auf.(6)
 So kommen und gehen nach Auffassung der Theosophie Universen, aber die pulsierende Bewegung des Einen kommt niemals zum Stillstand, selbst während der Zwischenzeiten, wenn nichts manifestiert ist und es weder Einzeldinge noch ein materielles Weltall gibt, sondern nur das Eine homogene Leben in Dunkelheit und Stille. Die Stanzen des Dzyan in der Geheimlehre beschreiben einen präkosmischen Zustand, in dem das Leben „unbewusst im universalen Raum pulsiert". Für uns ist es fast unmöglich, uns Bewegung und Rhythmus in einem Zustand vollkommener Ruhe vorzustellen, in dem es nichts zu bewegen gibt. Aber der ewige Atem dauert an. Chatterji vergleicht diesen Zustand mit „einem wellenlosen Fließen, wie es im Meer vorkommen kann". Wenn die mannigfaltigen Universen entstehen, dauert dieses Fließen und Strömen an, aber es bricht in Form von Strömungen hervor, „die alle Arten von Wellen, Wirbeln und Wögen zum Entstehen bringen, welche die vielgestaltigen Gegenstände sind".(7)
 
Literaturhinweise:
(1) Blavatsky, H.P., The Secret Doctrine, Adyar, 1978 (dt. Die Geheimlehre)
(2) Capra, Fritjof, „Holistic Word Views of Physicists and Mystics", The American Theosophist, Mai, 1979
(3) Die Mahatma-Briefe, Band 2, Brief Nr. 72, Hg. N. Lauppert, Graz, 1980
(4) Serviss, Garrett, The Einstein Theory of Relativity, New York, 1923
(5) Capra, Fritjof, The Tao of Physics, Berkeley, 1975 (dt. Das Tao der Physik)
(6) Prem, Sri Krishna and Ashish, Sri Madhava, Man, The Measure of All Things, Wheaton, 1969
(7) Chatterji,J.C.,The Wisdom of the Vedas, Wheaton, 1973
 
Shirley Nicholson, Uralte Weisheit - moderne Erkenntnis, S. 67-72
Theosophische Verlagsgesellschaft Adyar, Kassel 1989 (vergr.)
 


Autor: Shirley Nicholson