Er ist sein Baumeister oder Schöpfer, sein potentieller Vernichter, er ist sein Erneuerer und auch sein Erretter. Der Pfad liegt vor ihm - er hat die Wahl.

Niederschrift eines Vortrags während der Sommertagung 2007 der Theosophischen Gesellschaft

Die Eingangsmusik - den meisten hier Anwesenden sicher bekannt -, war der „Gefangenen-Chor" aus Nabucco: „Flieg, Gedanke ..."

Lassen wir doch unsere Gedanken einmal fliegen.

Schon seit frühester Jugend an war dieses Musikstück etwas Wunderbares und auch Trauriges für mich. Ich hatte immer das Gefühl, im Gesang das Leiden der Gefangenen zu spüren, eingesperrt, zusammengepfercht vielleicht hungernd und frierend, doch eins blieb ihnen und war frei, die Gedanken, sie konnten fliegen. Sie konnten nach Hause eilen, die Lieben in Gedanken erstehen lassen, sie konnten wie Vögel fliegen, sich zur Sonne erheben und die Sehnsucht nach zu Hause lebendig erhalten. Sie konnten Kraft geben, durchzuhalten, vielleicht anderen Kameraden kraft dieser Gedanken Mut machen, die Gefangenschaft zu ertragen, um einmal heimzukehren.

Sind wir Menschen nicht alle Gefangene unserer Gedanken und damit unseres Handelns? Ein Gedanke wird zu einer Tat, diese zu einer Gewohnheit, diese wiederum zu einem Charakter, dieser zu einem Schicksal. Bedeutet nicht schon die uns liebgewordene Gewohnheit Gefangenschaft, die man überhaupt nicht erkennt? Weil sie ja liebgeworden ist? Diese und einen Charakter zu ändern, dazu braucht es Einsicht, Erkennen, Unterscheidungsvermögen und den Willen, sich dieser Gefangenschaft zu stellen, sie loszulassen, sie ändern zu wollen, sowie eine klare Vorstellung, was man an dieser Gewohnheit ändern will und wohin der Weg dann geht, ohne gleich wieder in neue Gewohnheiten und Charaktereigenschaften, in neue Gefangenschaft zu geraten - in eine neue Gefangenschaft, die die alte nur ablöst, und das ist gar nicht so einfach. Welche Möglichkeiten hätte ein Mensch, eine Gefangenschaft in etwas anderes umzuwandeln? Loslassen können wäre ein gutes Motiv, wäre eine Überlegung wert, wäre eine Hilfe.

Doch genügt einfach „Loslassen" immer? Verliert man dann vielleicht den Halt, den man sich mühselig durch Gewohnheiten aufgebaut hat? Eine vertrackte Situation.

Unsere diesjährige Sommertagung steht unter dem Motto: „Reinkarnation und Karma - Die Schlüssel zu den Rätseln unseres Lebens". Sind sie es wirklich? Helfen sie den Menschen wirklich, aus der oben geschilderten vertrackten Lage herauszukommen?

Wenn wir in die Geheimlehre schauen, finden wir darin fundamentale Sätze, die allen uns gegebenen Lehren zu Grunde liegen. Sie sollen die Schlüssel, ja das Fundament der ganzen Theosophie sein. Diese Sätze mögen hier in kürzester Form nur zur Erinnerung vorgetragen werden.

Der erste fundamentale Satz weist darauf hin, dass es ein allgegenwärtiges, ewiges, grenzenloses und unveränderliches Prinzip gibt, das jede menschliche Vorstellungskraft übersteigt.

Ist es nicht Leben an sich? Das LEBEN, nach dem wir immer forschen, welches wir nie so recht erklären können, wie sehr wir es auch versuchen? LEBEN an sich kann man nicht erklären, man kann es nur immer zu umschreiben versuchen. Doch darüber zu spekulieren hat noch nie jemandem geholfen, es zu ergründen. Stimmt damit der erste Satz der Geheimlehre, allgegenwärtig, ewig, grenzenlos, unveränderlich und unerfassbar für jeden Menschen?

Der zweite fundamentale Satz weist hin auf die Ewigkeit des Weltalls in toto als einer grenzenlosen ,Ebene", die periodisch „der Spielplatz ist von zahllosen unaufhörlich erscheinenden und verschwindenden Universen ", den so genannten „manifestierenden Sternen" und „den Funken der Ewigkeit". Die Ewigkeit des Pilgers (der Monade) ist wie „ein Augenblinzeln von Selbstexistenz ", wie das Buch des Dzyan sich ausdrückt. "Das Erscheinen und Verschwinden von Welten ist wie regelmäßige Gezeiten von Ebbe und Flut".

Darin steckt das Gesetz der Reinkarnation: das Verschwinden und Wiedererscheinen von ganzen Universen, von Sonnen, Planeten und mit ihnen von allem, was darauf lebt und sein Dasein hat. So auch der Mensch, der erscheint, sich entwickelt - lebt - stirbt - und wiedererscheint, reinkarniert, was ,wieder ins Fleisch fallen' bedeutet.

Wo war dieses stets Hoffnung vermittelnde Wissen bisher? War es verschollen? War es in Vergessenheit geraten?

In der Vergangenheit gab es Institutionen, die Macht über das Denken der Menschen ausüben wollten und ihnen unter Androhung von Strafe, Folter, Hinrichtung und Tod dieses Hoffnung vermittelnde Wissen genommen hatten. So verlor sich das Wissen aus dem Gedächtnis der Menschen, Angst nistete sich in ihren Herzen ein und zwang sie zu Gehorsam; doch dank der Großen, - der Universalen Bruderschaft - der Weißen Loge und ihrer Botin H. P. Blavatsky, ist uns dieses Wissen wieder gegeben worden, um Leid und Kummer der in Unwissenheit versunkenen Menschen zu lindern und sie an ihre Verantwortung für all ihr Tun und Handeln zu erinnern, und dass die Aussage Jesu: ,Was du säest, das wirst du ernten' wieder ihren rechten Platz in des Menschen Bewusstsein einnimmt.

Der dritte fundamentale Satz lehrt die fundamentale Identität aller Seelen mit der universalen Oberseele, welch letztere selbst ein Aspekt der unbekannten Wurzel - des ewigen, unveränderlichen, grenzenlosen und allgegenwärtigen Prinzips - ist; und damit die Verpflichtung für jede Seele, den Zyklus von Inkarnationen oder der "Notwendigkeit" in Übereinstimmung mit dem zyklischen und karmischen Gesetz während der ganzen DAUER zu durchwandern. Mit anderen Worten, keine rein geistige Buddhi - göttliche Seele - kann eine unabhängige, bewusste Existenz haben, ehe der Funke, welcher aus der reinen Essenz des universalen Prinzips - oder der Oberseele - entsprang, jede elementare Form der phänomenalen Welt dieses Manvantaras durchlaufen und Individualität erlangt hat, anfangs durch natürlichen Trieb, später durch selbstherbeigeführte und selbsterdachte Anstrengungen, dabei von seinem Karma in Schach gehalten, und so durch alle Grade der Intelligenz, vom niedersten bis zum höchsten Mânas, von Mineral und Pflanze bis hinauf zum heiligsten Erzengel ^(Dhyâni-Buddha) emporgestiegen ist. (Geheimlehre I, S. 42 - 45)

Hiermit liegt uns die ganze Entwicklung vor Augen, denn Individualität ist zu erreichen, die im Göttlichen liegt.

Drei Grundlagen oder doch nur eine? Sie gehören zusammen, denn nicht eine kann ohne die anderen beiden etwas bewirken auf den Ebenen des Stoffes, des geoffenbarten Seins und in den niedrigeren Reichen der Materie. Das im ersten Grundsatz genannte Prinzip braucht das dritte, die Seele, als sein erstes Gewand, um durch das zweite, den ständigen Wechsel, allen Formen der Materie zu helfen, zu lernen, zu wachsen durch immerwährende Veränderungen zu Bewusstsein zu gelangen, oder anders betrachtet, der Geist braucht den Stoff, um auf Ebenen, die weniger göttlich, also mehr stofflich sind, etwas zu bewirken. Ist der Stoff, das stoffliche Gewand, abgetragen, wird es abgelegt; bei einer neuen Wiederverkörperung wird ein neues Gewand angelegt, um weiteres Wachstum zu ermöglichen, zu Erkenntnis und zu Bewusstsein zu gelangen.

Und damit sind wir bei der Entwicklung des Menschen, der anfangs, wie wir hörten, durch den natürlichen Trieb, natürlich immer unter dem Schutz und mit der Hilfe seiner Monade, sich über die unter ihm liegenden Reiche bis hin zum Menschenreich entwickelte und damit sein eigener Baumeister oder auch „Schöpfer" oder „Gestalter" wurde. Dann in der dritten Wurzelrasse wurde laut Geheimlehre vor Millionen von Jahren die Menschheit mit Mânas begabt, d.h. sein latent vorhandenes Denkvermögen wurde dank der Mânasaputras aktiv, d. h. in Tätigkeit gesetzt. Nun begann die Zeit der selbst herbeigeführten, selbst erdachten und selbst geleiteten Anstrengungen, und so wurde der Mensch sein eigener „Schöpfer". Warum „Schöpfer"? Ganz einfach nach dem Motto: Was du säest, wirst du ernten. Das, was der Mensch in jedem Augenblick seines Daseins denkt und wie er handelt, wird zu seinem Geschick, zu gutem oder zu schlechtem oder gar bösem; obwohl ich dieses Wort nicht gern benutze, ist es vielleicht manchmal vonnöten.

Wie Sie sehen, haben wir einen Bogen geschlagen zu der anfangs erwähnten Gefangenschaft, die - wie auch immer - zu des Menschen Entwicklung beiträgt.

Wie ist es möglich, zu Schlechtem oder Bösem zu kommen, man lebt doch einfach nur sein Leben? Oder vielleicht nicht? Sind es die menschlichen Schwächen oder ist es etwas anderes, das einen Menschen zum Schlechten oder Bösen führt?

Katherine Tingley stellt im Pfad des Mystikers eine ähnliche Frage: „Wie schleichen sich die menschlichen Schwächen ein? Zuallererst drehen wir den Schlüssel der Selbstsucht in einem gewissen verschlossenen Tor der Natur herum; dann, ehe wir es noch merken, ist das Tor offen und ein Fremdling tritt ein, eine hartnäckige, mächtige Kraft des Bösen, häufig machtvoll genug, um sogar das ganze Sein zu vernichten. Noch keine Linse ist hergestellt worden, die Euch zeigen könnte, wie dies vor sich geht; aber die Tatsache besteht nichtsdestoweniger. Und wenn erst einmal ein Spalt des Tores der selbstischen Wünsche offen ist, wird der eintretende Fremdling willkommen geheißen, bewirtet, wird ihm gestattet, die Freigiebigkeit des intellektuellen Lebens zu genießen, wird ihm erlaubt, sich gerade in dem Gemach des menschlichen Lebens niederzulassen, wo nur höhere Dinge sein sollten."8

Ein sehr anschauliches Bild, das Katherine Tingley hier beschreibt. Es sind also Wünsche, die das eigene Ich scheinbar bereichern sollen - es ist Selbstsucht -. und diese Selbstsucht kann ausufern, wie Gottfried von Purucker es in seinen Goldenen Regeln der Esoterik in sehr anschaulicher Form darlegt. In dem Kapitel „Die große Ketzerei des Sonderseins" sagt er:

„Ein auf die persönliche Selbstheit gerichtetes Denken, das Suchen von persönlicher anstelle von spiritueller Freiheit, ist der Pfad, der abwärts führt. Der Pfad des Ichs ist der Pfad zu immer tieferen Reichen und Sphären des Stoffes, bis schließlich am Ende des kosmischen Zyklus die Vernichtung kommt, wenn sich der Stoff selbst auflöst: Mâyâ, Stoff, ist Täuschung.

Dieses Gefühl des Getrenntseins ist die Ursache und Wurzel allen Übels. Es erzeugt die Leidenschaft des persönlichen Habenwollens: Ich will für mich, ich bin mein eigen. Und der Wahn des persönlichen Sonderseins, der Glaube, dass wir alle von allem anderen völlig getrennt, völlig verschieden seien, verhindert uns, zu jenem inneren Gott zu werden. ... ... Selbstsucht macht engherzig.

Sie ist die Grundlage aller Entartung, jedes moralischen Verfalls, aller geistigen und körperlichen Schwäche; sie lässt uns keinen Raum zu Entfaltung und Wachstum. Die Selbstsucht ist die Wurzel allen Übels und deshalb die Wurzel geistigen Unvermögens, von Unzulänglichkeit, Kraftlosigkeit, von Mangel an Urteil und Unterscheidungskraft, von Herzlosigkeit. Die Selbstsucht ist deshalb der fruchtbare Boden, dem alles Unglück und alle Leiden entstammen. Alles, was die eingeborenen Fähigkeiten des Menschen verkümmern lässt, entspringt der Selbstsucht. Sie ruft in uns beklagenswerte und schädliche Anschauungen wach, die uns an unseren beschränkten kleinen Gedankenkreis binden. Dann sind wir Gefangene im Kerker unserer eigenen Selbstsucht und deshalb in des Lebens edelsten Kämpfen schrecklich gehemmt. Die Selbstsucht macht aus uns Gefangene, und unser Gefängnis ist unser niederes Selbst."

„Die große Ketzerei und wahrhaft die einzige Ketzerei ist der Gedanke, dass irgendetwas getrennt, gesondert und im Wesen verschieden sei von anderen Dingen. Dies ist eine Abirrung von natürlicher Tatsache und Gesetz, denn die Natur ist nichts als Zusammengliederung, Zusammenwirken und gegenseitige Hilfeleistung; und die Regel der fundamentalen Einheit ist vollkommen universal: jedes Ding im Universum lebt für alle anderen Dinge."9

Wenn ein Mensch nur diese Selbstsucht lebt, Freude an ihr findet und dann schließlich noch daraus etwas geboren wird, nämlich mit seinen Errungenschaften zu prahlen, andere Menschen dadurch zu erniedrigen, ihnen seelischen Schmerz zuzufügen oder sie vielleicht dadurch gar bewusst auf die Schiene der Selbstsucht zu führen, dann „Gnade ihm Gott". Er versinkt mehr und mehr in die Stofflichkeit und vollzieht langsam seine Auflösung. Der Stoff vergeht, wird aufgelöst und die Monade muss einen neuen Weg beschreiten und sich neue Gewänder suchen und ganz von vorn anfangen.

Dies geschieht natürlich nicht nur in einem einzigen Leben, denn der Mensch hat jedes Mal, wenn er wiederkommt eine neue Chance, doch wenn er wieder und wieder versagt......

Wie grausam ist das, wie furchtbar für den Pilgrim!

Der Mensch, der sich in dieser bewussten Bösartigkeit verliert, ist sein eigener potentieller Vernichter.

Doch zum Glück geschieht diese totale Auflösung nur in ganz seltenen Fällen, wie es heißt, denn solange der Mensch die Möglichkeit einer selbstlosen Tat hat, und diese auch vollbringt, kann er zu seinem eigenen Erneuerer werden. Wird er sich seiner guten Tat - einer kleinen Hilfsbereitschaft aus Mitleid ausgeführt - bewusst, spürt er in sich selbst ein gutes Gefühl, das man wirklich nicht beschreiben kann, von dem man nicht weiß, woher es kommt, aber es ist da. Wenn das geschieht, hat er zum ersten Mal den Eindringling, den Fremdling, wie Katherine Tingley es beschrieb, der sich bei ihm häuslich niedergelassen hatte, in seine Schranken verwiesen. Der Mensch beginnt dann, seine Gedanken zu reinigen und seine Handlungen zu überdenken. Verfällt er wieder in den alten Trott, bleibt das wundersame Gefühl aus, doch die Sehnsucht nach diesem Gefühl, ist sie erst einmal erweckt, bleibt ganz lebendig in des Menschen Seele.
 

Sicher ist es sehr schwer, von dem Egoismus, der Selbstsucht zu der Selbstvergessenheit zu gelangen, doch in uns gibt es etwas, was uns immer zur Seite steht, unser „Schutzengel". Er sagt nicht, „Tu dies oder tu das," nein, das geschieht nicht, aber wenn der Mensch etwas begehen will, was ihn herunterziehen würde, bekommt er einen Impuls - eine Warnung. Dieser Impuls ist ganz schwach, aber er ist da. Hört der Mensch auf diesen Impuls, wird dieser im Laufe der Zeit stärker und dann ein ständiger Wegbegleiter. Doch geht das niemals so schnell, wie sich der Mensch das wünschen würde.

Wünschen würde? Muss man hier nicht gleich die Frage stellen: War dieser Wunsch auch selbstlos? War es ein Wunsch für sich selbst oder gehörte er zu der Selbstvergessenheit?

Das, liebe Freunde der Theosophie, kann, wenn ein Wunsch in Ihnen erwacht, nur jeder für sich selbst beantworten, denn es ist uns gesagt: es kommt auf den Beweggrund an.

Jeder Suchende kann anfangs dabei sehr unsicher werden, denn wer weiß schon so genau, wo das Persönliche aufhört und das Unpersönliche anfängt? Wie soll man vorgehen, was soll man tun, was ist richtig, wenn man etwas tut? Fragen über Fragen stellen sich dabei ein.

Doch dazu etwas sehr Tröstliches aus der Stimme der Stille:

„Wisse, o Schüler, das ist der geheime Pfad, den die Buddhas der Vollkommenheit gewählt haben, die ihr ICH [oder ihr SELBST] den schwächeren „Ichen" [oder den schwächeren Selbsten] opferten.

Wenn die „Lehre" des Herzens dir unerreichbar scheint, wenn du selbst Hilfe verlangst und dich nicht getraust, anderen Hilfe anzubieten, - dann, o du mit dem schüchternen Herzen, lass dich bei Zeiten warnen: Sei zufrieden mit der „Augenlehre" des Gesetzes. Hoffe immerhin. Denn wenn du den geheimen Pfad nicht an diesem ,Tage' erreichen kannst, so wird er dir ,morgen' erreichbar sein. Wisse, dass keine Bemühung, auch nicht die kleinste, sei es zum Guten oder zum Bösen, von der Welt der Ursachen verschwinden kann. Selbst der vergeudete Rauch verschwindet nicht spurlos. Ein bitteres Wort, im vergangenen Leben gesprochen, wird nicht vernichtet, sondern kehrt wieder. Die Pfefferstaude trägt keine Rosen, und die Silbersterne des lieblichen Jasmins verwandeln sich nicht in Dornen und Disteln.

Du kannst an diesem heutigen ,Tage' dein Glück für das ,Morgen' schaffen. Auf der großen Reise trägt von allen den Ursachen, die stündlich gesät werden, jede ihre Ernte von Wirkungen, denn strenge Gerechtigkeit regiert die Welt. Der weit ausgreifende Arm ihrer niemals irrenden Tätigkeit führt den Sterblichen Glück oder Unglück zu, die karmischen Erzeugnisse von allen ihren vorhergehenden Gedanken und Taten.

Nimm denn, soviel als dein Verdienst für dich aufgespeichert hat, o du mit dem geduldigen Herzen. Freue dich und sei zufrieden mit deinem Schicksal. Es ist dein Karma, das Karma des Zyklus deiner Geburten, die Bestimmung derer, die in Schmerz und Trübsal zugleich mit dir vom Zeitenstrome getragen werden, die lachen und weinen von Leben zu Leben, gekettet an deine früheren Taten.

Wirke heute für sie, und sie werden morgen für dich wirken.

Aus der Knospe der Selbstverleugnung entspringt die süße Frucht der gänzlichen Erlösung."10

Ist das nicht eine Antwort auf alle Fragen, die scheinbar unbeantwortet sind, tröstlich für jede aufkeimende Unsicherheit, beruhigend für jede suchende Seele? Geduld!

Alles ist mit allem verbunden und karmisch aneinander gekettet, wovon es kein Ausweichen gibt.

In diesen Zeilen aus der Stimme der Stille finden wir den ganzen Weg unserer ewigen Pilgerschaft, den Trost und einen Hinweis auf die Geschehnisse, die sich stets zur rechten Zeit einstellen, und auf den langen Weg, oder auf die Zeit, die wir benötigen, um als Menschen unsere eigenen Erbauer, unsere Schöpfer zu werden, unsere potentiellem Vernichter zu sein und auch mit Geduld unsere eigenen Erneuerer zu werden. Die „Augenlehre" ist es, die den Anfang dazu bildet, doch ist auch die „Lehre des Herzens" erwähnt, sie ist der geheime Pfad, und sie ist es, die aus einem Menschen einen Gott werden lässt, wenn er nur will, sich seiner inneren Beschaffenheit bewusst wird, sich klar wird, dass er diesen Göttlichen Funken in sich trägt, ja sogar dieser Göttliche Funke ist und diesen nur hervorzubringen braucht, um im großen Orchester des Universums seinen eigenen Ton mit diesem in Einklang zu bringen, als einem integralen Teil des Ganzen.

Mit dieser in der Stimme der Stille erwähnten "Herzenslehre" liegt vor dem Menschen, vor uns, der Pfad, den es zu betreten gilt, um des Menschen und um unser eigener Erretter zu werden. Wenn sich jeder Mensch in jedem Augenblick seines Daseins bewusst macht, dass er im Innersten ein Göttlicher Funke ist, dass er ein Teil des ganzen Universums ist, dass er bereit ist zu Mitleid und Hilfsbereitschaft jedem geschundenen Wesen gegenüber und, wenn er fällt, die helfende Hand annimmt, die sich ihm anbietet, dann ist er gerüstet, das Himmelreich zu erobern, denn die Natur ist nichts als Zusammengliederung, Zusammenwirken und gegenseitige Hilfeleistung; und die Regel der fundamentalen Einheit ist vollkommen universal: jedes Ding im Universum lebt für alle anderen Dinge, wie Gottfried von Purucker es vorhin beschrieb, so wie auch wir für alle anderen leben müssen.

Diese „Herzenslehre ist der geheime Pfad", sagte uns die Stimme der Stille. Wie aber können suchende Menschen etwas finden, wenn es geheim ist? Es ist nur für die äußeren Dinge, für das äußere Leben unsichtbar, aber für die Herzen aller Menschen ist es sichtbar. Der suchende Mensch muss nur in die Stille gehen, um seine ,Stimme der Stille', das Wispern seines Herzens zu hören.

„Die Stille ist das offene Tor", lässt uns Katherine Tingley wissen und spricht von der „Macht der Stille! In der Stille geschieht es, dass wir den Schlüssel finden, der die Bücher der Offenbarung unserer Natur öffnen wird, wenn wir die Wahl treffen, danach zu suchen. Wir werden darin eine Kraft finden, die uns niemals vorher zu eigen war und auch nicht unser sein könnte, wenn wir nicht diesen Pfad aufsuchten ... Wir werden einen Frieden darin finden, der höher ist als alle Vernunft. Dies mag nicht augenblicklich geschehen, auch nicht in Übereinstimmung mit kleinlichen Wünschen und Begehrnissen, aber, wenn das Motiv selbstlos ist, wird es eintreten.

Dieser Friede stiehlt sich in das Leben, in das Herz und in das Gemüt ein wie die erhabensten Symphonien der Musik. Er führt Euch über, aus und jenseits Eurer Schwierigkeiten und Versuchungen und bereitet Euch vor für das wirkliche Leben.

Die Stille! Der eine Hauch des stillen Gebets.

In der Stille, wenn der Mensch sich seiner göttlichen Natur bewusst wird, begreift er, wenn auch nur für einen Augenblick, dass er etwas ganz anderes ist als das, was er zu sein scheint; er beginnt zu fühlen, dass er ein Gott ist, wie dies auch die Theosophie erklärt, er fängt an, die Imagination durch sein Herz pulsieren zu lassen, die ihm von mächtigen Dingen erzählt, von Dingen, erhaben über die gewöhnliche Auffassung; er beginnt etwas von seiner Pflicht der Menschheit gegenüber zu fühlen, und dies ist Disziplin.

Disziplin stellt sich auf mancherlei Weise ein; aber Theosophie zeigt, wie ein Mensch ohne Hilfe eines Buches oder eines anderen Menschen dennoch seine eigene innere Kraft auffinden kann, die nicht mehr eine bloße Möglichkeit zu sein braucht. Er wird in sich eine neue Art von Intuition entdecken und schließlich, wenn er von dem „Gefühl" dieses göttlichen Lebens berührt wird, wird ihm die Macht der Selbstdisziplin werden und er kann feststellen und sagen: Ich weiß!

Je mehr wir in der Stille und in der Vornahme der Selbstläuterung zur engeren Vereinigung gelangt sind, desto näher sind wir dem Lichte . . . "11

Disziplin - ein Wort, das manchen Menschen abschreckt; aber geht es im Leben ohne Disziplin? Das morgendliche Aufstehen, seinen täglichen Pflichten nachgehen, sind das nicht alles Dinge, zu denen Disziplin gehört, ja deren Grundlage sind? Warum also sollte dann das Einhalten der Disziplin so schwer sein, regelmäßig in die Stille einzutauchen, wenn der Mensch doch dadurch Frieden in sich spürt, Verantwortungsbewusstsein gegenüber allem Lebenden sich in ihm zeigt, seine Selbstlosigkeit in ihm stark wird, eine Intuition von erhabenen Dingen Besitz von ihm ergreift, die Imagination durch sein Herz pulsiert und durch all diese wunderbaren Dinge das Wispern seines Herzens ganz deutlich hörbar wird.

Wenn der Mensch all diese kleinen Dinge in sein Leben integriert, die Großes bewirken, wenn er sich seiner inneren Göttlichkeit in jedem Augenblick seines Daseins bewusst wird, dann ist er auf dem Pfad, ein Mystiker zu werden. Er wird so zu seinem Erretter. Die Arbeit, die Mühe, die Liebe seiner göttlich-spirituellen Monade hat ihm, dem sterblichen Menschen geholfen, den unsterblichen bewusst zu machen und damit den sterblichen Kastor mit dem unsterblichen Pollux zu vereinigen.

Außerdem kann er zu einem willigen Diener und Werkzeug der Meister der Weisheit werden, damit diese durch ihn arbeiten können, um der Menschheit zu helfen, in ihrer Evolution voranzuschreiten, um sie, soweit es Karma erlaubt, vor großen Übeln zu schützen und um Gutes in ihren Herzen erblühen zu lassen wie Selbstlosigkeit und Liebe, denn Liebe ist das Bindemittel des Universums und die Liebe ist das Schönste, Größte und das Heiligste, was der Mensch in sich trägt, und was als ein immer sprudelnder Quell seines Herzens niemals versiegt.

Seid Euer eigener Erretter, Weggefährten, lauscht auf das Wispern Eures Herzens, macht es Euch hörbar und lebt in seinem Rhythmus, dann, wenn das geschieht, dann können wir alle sagen:

... Wir haben den ersten Schritt im wahren Geist der Brüderlichkeit getan, und alle weiteren Schritte werden ganz selbstverständlich folgen, und der dornige Weg wird ganz leicht zu gehen sein, wenn wir jedem Pilger die Hand reichen, ihm den Weg weisen und auch den letzten Schwerbeladenen an uns vorbei lassen, indem wir ihm seine Last tragen helfen.

Dann sind wir frei von jeder Gefangenschaft. Und die Zukunft wird es zeigen.
 
 
8K. Tingley, Der Pfad des Mystikers, Hannover 1978, S. 23 f.
 
9 G. v. Purucker, Goldene Regeln der Esoterik, (Theosophischer Arbeitskreis Unterlengenharth ) S.97, 99, 100, 99.
 
10 H. P. Blavatsky, Die Stimme der Stille, übers. v. Franz Hartmann, Theos. Verlagshaus Leipzig, o. J., S.47- 49.
 
11 K. Tingley, Der Pfad des Mystikers, a. a. O., S. 43 f.
 


Autor: Eva Jahn