Der Zweck aller Religionssysteme ist, aus diesem fortwährenden Wechsel zwischen „Leben" und „Tod", zwischen himmlischem (geistigem) und irdischem (materiellem) Dasein loszukommen12, und dies geschieht durch den mystischen Tod, welcher die Auferstehung zum wirklichen Leben ist. Wird durch den Engel der Tugend der Egoismus, welcher der Fels ist, der den Eingang zum Grabe verschließt, hinweg gerollt, so dringt das Licht der Weisheit ein, und der Mensch erwacht zur Erkenntnis seines wahren Wesens, in dem es keinen Tod, keine Veränderung, kein Sondersein gibt.

Dieser mystische Tod ist nicht das Resultat des so genannten Asketentums, der „Weltverachtung", Selbstquälereien des Märtyrertums, Pessimismus und ähnlicher Torheiten, wie überhaupt nichts, das der Mensch aus seinem eigenen tierischen Willen tut oder tun kann, ihn der Vollkommenheit näher bringt. Er ist auch nicht das Resultat der Gunstbezeugung irgendeines höheren Wesens außerhalb des Menschen selbst, sondern er ist das Resultat des Gehorsams gegen das Gesetz des Geistes in der Natur. Er kann weder durch die gewaltsame Unterdrückung des Ausflusses einer Leidenschaft noch durch eine Förderung desselben erlangt werden; weder „Gebete" noch Geschenke, weder Bitten noch Wehklagen führt zu ihm, wohl aber die Ergebung; nicht die Willenlosigkeit, der „Quietismus" oder die Gleichgültigkeit, sondern das Eingehen und Aufgehen des menschlichen Willens im göttlichen Willen, was seinerseits wieder das Resultat der geistigen Erkenntnis ist.

Dies ist der schwierige Punkt, um den sich die ganze Mystik und Religion dreht, und über den schon unzählige Bücher geschrieben wurden, der aber stets nur von den Wenigen verstanden wird, welche bereits die Kraft des Gehorsams besitzen. Die Bhagavad Gita handelt davon; denn die „Schlacht", welche sie beschreibt, ist der Kampf zwischen dem menschlich-tierischen und dem menschlich-göttlichen Wollen; das Neue Testament ist eine sinnbildliche Darstellung des im Menschen „gekreuzigten" Himmelsbewohners und der Erlösung der Menschheit, die damit verbunden ist. Böhme, Eckhart, Paracelsus, Molinos, Thomas von Kempen und tausend andere predigen dieselbe Lehre vom Selbst, das sich verleugnen muss und sich doch nicht verleugnen kann, wenn nicht das höhere Selbst, der Gottmensch im Menschen, ihm den Weg dazu zeigt.

Aus der Zweiheit der Menschennatur und der Unerfassbarkeit des höheren Ichs, solange es nicht im Menschen offenbar geworden ist, ergeben sich die endlosen anscheinenden Widersprüche in der Bibel sowohl als in aller okkulten Literatur. „Kämpfe", sagt Krishna zu Arjuna, „gib dich nicht unwürdiger Schwäche hin", und doch lehrt er ihn bald darauf, dass alles eigene Tun und Lassen nur eine Torheit sei.

„Alles, was du aus eigener Machtvollkommenheit tun kannst, ist viel weniger wert als die Ergebung in den göttlichen Geist. Suche deshalb deine Zuflucht in der Kraft des Gehorsams. (II, 29)

Unsere innerliche Erleuchtung hängt nicht von unserem eigenen Wollen, noch von unseren persönlichen Tugenden ab, sondern von der Wirkung der oberen, geistigen Kräfte. Selbst der größte Tugendheld ist keiner Erleuchtung fähig, solange er im Wahne der Selbstheit befangen ist, während auch der größte Sünder zur Selbsterkenntnis kommen kann, wenn ihn der Selbstwahn verlässt. Dem irdischen Menschen, der im Besitze seiner sieben Prinzipien ist, stehen alle Tore des Himmels offen; er kann in alle Daseinsebenen eindringen, vorausgesetzt, dass er durch Geisteskraft seine Eigenheit überwindet. Er kann auf diese Weise bis zum Throne Gottes empor dringen, selbst wenn er dann wieder fällt; aber um im Himmel zu bleiben, dazu bedarf es des Absterbens aller niederen Anziehungen durch den mystischen Tod.

Das Geheimnis des mystischen Todes besteht darin, das illusorische „Selbst" mit allen seinen Begierden und Leidenschaften sterben zu lassen und ihm keine Nahrung durch Befriedigung seiner Lüste zu geben. „Hoffe auf den Krieger und lass ihn in dir kämpfen", heißt es in Licht auf den Weg. „Du brauchst selbst nichts zu tun, hüte dich nur, für die Feinde Partei zu ergreifen, und ich will für dich kämpfen", spricht Krishna (die Gottheit) zu Arjuna (dem Menschen).

M. de Molinos sagt:

„Du sollst wissen, dass deine Seele der Mittelpunkt, die Wohnung und das Reich Gottes ist, und damit der höchste Herr sich auf diesem Throne deiner Seele niederlassen kann, solltest du dir Mühe geben, dieselbe rein, ruhig, friedlich zu erhalten, rein von Schuld und Fehlern, nicht beunruhigt von Sorgen, frei von persönlichen Neigungen, Begierden und Gedanken, friedevoll in Versuchungen und Trübsalen." (Der geistige Führer)

Mancher Asket bildet sich ein, dass er Gott bewegen könne, ihn für seine Entbehrungen zu belohnen; der missverstandene Quietismus will die ganze Arbeit Gott auf den Hals laden, während er selbst seinen Neigungen folgt. Wer aber die obigen Lehren im richtigen Lichte betrachtet, der findet bald, dass die Ergebung in den göttlichen Willen nicht im Nichtstun besteht, sondern einen fortwährenden Kampf bedingt mit jenen Elementen, welche dieser Ergebung hinderlich sind, dass aber dieser Kampf nicht aus egoistischen Rücksichten geführt werden soll, sondern dass wir selbst das selbstlose Gute sein sollen, das in uns kämpfend das Böse besiegt. Das „Selbst" kann sich nicht selbst besiegen; der Mensch ist nicht frei, so lange seine Eigenheit seinen Willen beherrscht. Er wird erst dann frei, wenn er für sich selbst nichts mehr will und der Wille seines Gottes (seines unpersönlichen Ichs) sein Wille geworden ist.

„Wisse, dass das Ich (Atma) der Herr des Streitwagens ist, der Körper (Sharira) ist der Wagen. Wisse, dass die Seele (Buddhi) der Wagenführer ist, und die Zügel sind das Gemüt (Manas). Die körperlichen Kräfte sind die Pferde und die Außenwelt die Strasse. Das Gemüt, wenn es durch das „Selbst" beherrscht wird, ist dasjenige, was die Seligkeit genießt." (Katha Upanishad)

Es findet da nicht, wie so viele meinen, eine Veredlung des „Selbstes", eine Vergrößerung des Menschen in seiner Eigenheit statt, so dass er zuletzt ein „Übermensch" wird, sondern der Wahn der Eigenheit muss vergehen,

dass falsche Selbst im wahren Selbst sterben, damit das wahre Selbst im Menschen auferstehen und offenbar werden kann. Das ist es, was die alten Rosenkreuzer meinten, wenn sie sagten:

"Ex Deo nascimur, in Jesu morimur, reviviscimus in Spiritu sancto."

Aus Gott (dem Unbewussten) werden wir geboren; in der Erkenntnis des Gottmenschen erstirbt der Wahn unserer Selbstheit, und in dem Geiste der Selbsterkenntnis gelangen wir zum Bewusstsein unseres unsterblichen, göttlichen Ichs.

Der Wille des Menschen ist ein Nichts ohne den Willen Gottes, und der Wille Gottes ist machtlos ohne den Willen des Menschen. Diese Lehre ist uralt, und dennoch versteht sie niemand, als wer sie befolgt.

Aus einem Briefe eines Rosenkreuzers entnehmen wir folgendes:

„Als es mir gelang, mein persönliches Ich zu vergessen, da war es auch nicht mehr da; alles, meine Umgebung, meine Seele, mein Körper wurden licht, und es kam eine Ruhe in mich, die man sich nicht erdenken kann. Das persönliche Herz geht ins Nichtsein über, und stattdessen entfaltet sich die Seele zu unsagbarer Seligkeit, Ruhe und Gewissheit; eine unwillkürliche, reine und lichte Liebe zur Gottheit ergießt sich in die Seele, die jedoch nicht mehr eine Liebe von Subjekt und Objekt, sondern ein Wesen ist, das man nur als „göttliche Liebe" bezeichnen kann.

„Nun wusste ich aus Erfahrung, wie widersinnig es ist, wenn ein Mensch in seiner Persönlichkeit sagt: „Ich liebe Gott (mit meinem persönlichen Herzen)". Er kann höchstens seine Gottesvorstellung lieben, die ein Spiegel seiner eigenen Person ist; die Liebe Gottes oder die göttliche Liebe kann der Mensch niemals erlangen in seiner Person. Erst wenn er als Person nicht mehr ist, wird ihm diese Liebe gegeben, die über alle Herzensvorstellungen erhaben ist, und gar nichts mit diesen zu tun hat.

„Nach diesen Erfahrungen kann man eigentlich gar nicht sagen, dass es einen Weg zur Gottheit gäbe; man taucht unter in das Nichtsein, überlässt alles der Gottheit, ohne sich jedoch seiner Ergebung bewusst zu sein, und die Gottheit waltet in allem, alles ist in ihr, und das, was für uns undenkbar ist, ist für den Glauben, der nun lebt, Selbsterkenntnis, Selbstbewusstsein. So erwächst aus dem Tode, dem Nichtsein, in demselben Augenblicke ein neues Leben.

„Eins kann ich gar nicht genug betonen, dass es mir ein ganz neues Reich erschlossen, dass der Mensch zu diesem Glauben und dieser Liebe niemals fähig ist, und wenn er sich zu Tode abmühte, der Glaube und die Liebe ist ein ganz übermenschliches Sein und Wesen, das in einer ganz anderen Sphäre, oder richtiger gesagt, nur in sich selbst lebt, sich selbst weiß und sich selbst genügt. Der göttliche Glaube und die Liebe werden nicht durch Mühe erzeugt, sie bestehen unentstanden in sich selbst und sind für unser Bewusstsein da, wenn dasselbe vom persönlichen Menschen nichts mehr weiß."

Der physische Tod ist das Anhalten auf einer Station während der Reise zur Quelle des ewigen Lebens; durch den mystischen Tod wird diese Quelle erreicht.

Die weiße und schwarze Magie oder Das Gesetz des Geistes in der Natur, Schatzkammer Verlag, Calw, o. J., Kap. VIII (Auszug)
 
12Auch das Christentum, wenn es richtig verstanden wird, lehrt die Reinkarnation unter dem Titel der „Auferstehung des Fleisches": denn das „Fleisch", von dem hier die Rede ist, ist nicht der tote Kadaver, sondern sind die dem Geiste noch anhängenden Neigungen (Skandhas), durch die er wieder zum Erdenleben angezogen wird.
 


Autor: Franz Hartmann