Der Tempel der Menschheit

und die Loge der Meister

Dr. Franz Hartmann

„Ich glaube an die Gemeinschaft der Heiligen"
(Christlicher Katechismus)
 
Jeder nach Wahrheit strebende Mensch fängt damit an, dieselbe in äußer­lichen Dingen zu suchen. Deshalb stellen viele die Frage: „Welche Kirche ist die richtige? - In welchem Vereine soll ich mich als Mitglied aufnehmen las­sen? - Welcher Gesellschaft soll ich beitreten?" usw. Aber „Christus ist we­der hier noch dort", kein Verein hat ein Monopol auf den Besitz der Wahr­heit. Die Wahrheit ist überall, und ihr Licht dringt überall ein, wo man ihm Einlass gewährt. An wichtigen Lehren ist in allen großen Religionssystemen kein Mangel; es kommt nur darauf an, dass man sie richtig versteht und befolgt. Viele suchen nach „Meistern" und können sie nicht finden; aber der Meister ist stets, wenn auch unsichtbar, da und bereit, den Schüler zu unter­richten, sobald derselbe dem Lichte der Wahrheit sein Herz öffnet und bereit ist, den Unterricht zu empfangen, während eine gewaltsame und verfrühte Eröffnung der inneren Sinne für den Unreifen ein großes Unglück wäre und nicht dazu dienen würde, seine moralische Verantwortlichkeit zu vermehren; denn das Erwachen der geistig-göttlichen Kräfte im Menschen bringt mit sich den Besitz magischer Fähigkeiten, und zwischen der weißen Magie und dem teuflischen Wirken liegt der Unterschied nur in der Weise, in der diese Kräfte verwendet werden. Wer diese Kräfte nicht hat, kann sie auch nicht missbrauchen und läuft somit nicht Gefahr, sich dadurch zu verderben.
 
Der Tempel der Wahrheit ist überall, wo diese empfunden wird; denn die Empfindung entspringt aus der Berührung, und die Liebe zur Wahrheit aus dem Gefühl. Wo nicht nur eitle Wissbegierde, sondern echte Liebe zur Wahr­heit vorhanden ist, da ist auch das echte religiöse Gefühl, da ist die Wahrheit bereit, sich zu offenbaren.
 
Die „Heiden" sind nicht notwendigerweise diejenigen, welche keiner speziellen Konfession oder äußeren Kirche angehören, sondern diejenigen, welche kein religiöses Gefühl und keine Liebe zur Wahrheit haben. Sie woh­nen draußen auf der öden „Heide" und nicht innerhalb der Mauern des Tem­pels, d. h. nicht im Reiche der Wahrheit, und wenn sie selbst Päpste oder Bischöfe wären und alle Gebräuche der Kirche befolgen würden, so können sie doch ohne Liebe zur Wahrheit den Eingang zum Tempel nicht finden.
 
Der große Tempel der Menschheit, über welche die Loge der heiligen Meister unsichtbar wacht, umfasst somit alle Menschen, in denen der Drang zum Guten herrscht, und je mehr in ihnen die Liebe zur Wahrheit und deren Erkenntnis erwacht, umso höher sind die Grade, die sie in dieser Gesell­schaft naturgemäß einnehmen und die durch keine äußeren Zeremonien oder Diplome verliehen werden können. Das Licht der Wahrheit ist der große Initiator, der den Schüler dadurch einweiht, dass er in ihm offenbar wird und ihn zu einer höheren Stufe des Daseins erweckt.
 
Was sind diese Grade?
 
Die ganze menschliche Evolution in unserem Manvantara stellt eine Ent­wicklung in sieben Stufen dar, wobei auf jeder derselben wieder sieben Schritte unterschieden werden, so dass es naturgemäß neunundvierzig sol­cher Grade gibt, die der Einrichtung des geistigen Tempels und der Loge der Meister entsprechen.
 
Auf der ersten Stufe befinden sich alle diejenigen, in deren Herzen ein aufrichtiges Gefühl der Liebe zur Wahrheit herrscht, selbst wenn ihr Ver­stand wenig ausgebildet ist und sie intellektuell unwissend sind. Ihr Wahr­heitsgefühl ist ein Beweis, dass sie der Loge der Meister nahe gekommen sind.
 
Auf der zweiten Stufe befinden sich alle diejenigen Menschen, welche nicht nur Liebe zum Guten, sondern auch Intuition und Verständnis besitzen und sich bemühen, zum Besten der Menschheit zu wirken. Hierzu gehören auch Personen, welche im Leben eine hervorragende Stellung einnehmen, Staatsmänner, Lehrer und dergl., und die, selbst wenn sie nie von okkulten Dingen gehört haben, dennoch von den Meistern, je nachdem es die Umstän­de gestatten, mehr oder weniger inspiriert und geleitet werden, soweit sie aufgeschlossen sind für die Belehrungen der Meister.
 
Den dritten Grad haben diejenigen erreicht, in denen das innerliche Leben zum Erwachen gekommen ist, die sich deshalb einer höheren unsicht­baren Führung bewusst und fähig sind, zwischen niedrigen und höheren gei­stigen Einflüssen zu unterscheiden und durch die Kraft des höheren Bewusst­seins sich selbst zu beherrschen.
 
Dem vierten Grade gehören diejenigen an, deren innerliche Sinne geöff­net sind und die deshalb fähig sind, mit vollem Bewusstsein in geistige Be­rührung mit der Gemeinschaft der Heiligen und Erleuchteten, der Meister der Weisheit zu kommen und von ihnen Unterricht zu empfangen.
 
Die drei höchsten Grade gehören dem Heiligtum des Tempels, der „Loge der Meister" an, und es ziemt sich nicht für uns, über dieselben zu sprechen.
 
In verschiedenen Teilen der Welt gibt es äußere Organisationen, Kirchen, Vereine und Schulen, welche unter der speziellen Obhut von einem oder mehreren dieser Erleuchteten stehen können, wenn auch diese Überwachung und Führung eine Unsichtbare ist, die Mitglieder einer solchen Vereinigung den inneren Wert ihrer Führer nicht kennen und die Außenwelt nichts davon weiß.
 
Gerade in dieser Unwissenheit liegt der Schutz solcher Vereinigungen gegen das Eindringen unreifer und zersetzender Elemente. Am besten ge­deiht, was im Verborgenen blüht. Was an die große Glocke gehängt wird, zieht die Öffentlichkeit an, und öffnet sich das Tor, so stürzt die Herde der Herrschsüchtigen, Habsüchtigen und eitlen Schwätzer herein. Dann beginnt der Streit der Meinungen und der Intoleranz, der Geist verschwindet, und die leere Form zerfällt zuletzt in sich selbst.
 
Nun steht der auf rasche Förderung Wartende ratlos da und fragt wieder: „Welcher Gesellschaft soll ich mich anschließen? - Sagt mir gefälligst im Vertrauen, welche von den vielen die richtige ist."
 
Es ist ein Gesetz des Geistes in der Natur, dass jeder, wenn er auch eine Zeitlang irre geht, zur rechten Zeit an den richtigen Ort gelangt. Ist er ein Schwätzer, so zieht ihn die Gesellschaft der Schwätzer an; ist er weise, so zeigt ihm der Stern der Weisheit den richtigen Weg. Den Meistern ist jeder, der den Tempel betritt, willkommen; sie brauchen ihn nicht lange zu suchen, und er bedarf keiner Empfehlungsschreiben an sie. Jeder Mensch, in dem das Licht der Wahrheit leuchtet, ist eine Leuchte desselben und scheint wie ein glänzender Stern im Dunkel der Unwissenheit, welche den Vorhof des Tempels umgibt. Dort findet ihn das Auge des Meisters und er führt ihn, wenn er sich führen lässt.
 
Was aber sollen diejenigen, welche noch außen im Dunkel sind, anfan­gen, um in den Tempel zu kommen? Angelus Silesius hat uns schon längst den richtigen Rat gegeben, indem er sagt:
 
„Der nächste Weg geht durch der Liebe Tür;
Der Weg der Wissenschaft bringt dich nur langsam für."
 
Dies wird aber von sehr vielen nicht beachtet. Viele glauben, der Eintritt in den Tempel der Weisheit hänge von äußerlichen Dingen, Diplomen und Zeremonien ab; andere wollen für große Theosophen angesehen werden, wenn sie gelehrt über Dinge reden, von denen sie nichts wissen, als was sie darüber von anderen gehört haben, aber die Theosophie ist keine Gedächt­nissache, keine Sache der Geschäftskonkurrenz und keine intellektuelle Spekulation, sondern die Offenbarung des geistig-göttlichen Lebens in uns selbst, das über alle menschlichen Begriffe und Vorstellungen erhaben ist. Die Weisheit erlangt nur derjenige, der sie liebt und sich ihr zum Opfer bringt. Das Reich der Weisheit ist das Reich Gottes, und das Reich Gottes ist, wie die Bibel sagt, in uns selbst.
 


Autor: Dr. Franz Hartmann