DER URSPRUNG DER CHRISTLICHEN RELIGION
Unter den Religionen ist das Christentum für uns von besonderer Bedeutung, weil es die Grundlage für die Entwicklung der europäischen Kultur bildete, die ihrerseits wieder Amerika und weite andere Teile der Welt beeinflusst hat. Gerade das von den Kirchen vertretene und gelehrte Christentum ist aber eine Religion, die auf einigen Illusionen aufgebaut ist. (Die nachfolgenden Ausführungen betreffen nicht eine von kirchlichen Dogmen befreite christliche Ethik, wie sie auch in den heute verfügbaren Evangelien recht verschlüsselt und tiefgründig noch enthalten ist. Bitte auch die Literaturhinweise des Autors am Ende beachten. Die Red.)
Schon die Übernahme der jüdischen Mythologie des Alten Testaments als Tatsachenbericht war eine solche Illusion. Denn diese Mythologie ist weder ein Bericht historischen Tatsachen noch die Überlieferung einer eigenständigen Uroffenbarung, sondern ein Konglomerat aus den religiösen Traditionen verschiedener Völker, in deren Kulturbereich die jüdischen Stämme sich zeitweilig befanden, insbesondere der Ägypter und Babylonier. Der kern der Schriften des Alten Testamentes, die fünf Bücher Mose sowie einige weitere ältere Schriften, wurde von dem persischen Statthalter Nehemia und dem Priester Esra erst im 5. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung nach der Rückführung der Juden aus der babylonischen Gefangenschaft zusammengestellt. Demgemäß ist das Alte Testament stark von babylonischen Anschauungen durchsetzt. Die sogenannten „Zehn Gebote Gottes“ sind größtenteils ein Auszug aus dem Gesetzeswerk des babylonischen Königs Hammurabi. Die Erhebung der jüdischen Stammesgottheit Jahwe zum Weltengott entsprach den politischen Tendenzen der damaligen Priesterklasse.
Aber auch mit dem Neuen Testament ist es nicht besser. Die meisten christlichen Kirchen führen ihre Existenz und ihren Auftrag auf Jesus Christus zurück, den sie zugleich als historische Persönlichkeit und als göttliche Inkarnation betrachten. Sie sind der Auffassung, dass die Evangelien ein Augenzeugenbericht seines Lebens sind. Hiervon machen nur einige kleinere Gruppen gnostischer Tendenz eine Ausnahme.
Tatsächlich sind die Evangelien aber erst an der Wende zum 2. Jahrhundert unserer Zeitrechnung, also mehrere Generationen nach der vermeintlichen Lebenszeit Jesu, niedergeschrieben worden. Frühere Dokumente kennen die Lebensgeschichte Jesu in der in den Evangelien niedergelegten Form nicht. Dies gilt insbesondere für die Briefe des Apostels Paulus, die nicht von einer irdischen Persönlichkeit, sondern - ganz im Sinne der Mysterienkulte - von einem gottmenschlichen Wesen sprechen, das um des Heiles der Menschheit willen gekreuzigt wurde und auferstanden ist. Wir haben es hier offenbar mit zwei ganz verschiedenen Traditionen zu tun.
Die Evangelien des Markus, Matthäus und Lukas, die sogenannten „synoptischen“ Evangelien, beziehen sich auf den gekreuzigten Anführer einer sozialrevolutionären Bewegung unter den ärmeren Klassen in Palästina, die in Verbindung mit der religiösen Sekte der Essener stand. Die Briefe des Paulus und das Evangelium des Johannes aber stammen aus einer den Mysterienkulten verwandten religiös-philosophischen Richtung unter den griechisch sprechenden wohlhabenderen Juden der Diaspora. Ihr Gottesbegriff war der des Logos, des verkörperten „göttlichen Wortes“, dessen Eingeweihte von den Übeln der Welt erlöst werden konnten.
Nach dem jüdischen Aufstand und der Zerstörung Jerusalems im Jahre 70 bemühten sich die paulinischen Führer, die revolutionäre Bewegung zu mäßigen, um weitere Zusammenstöße mit Rom zu vermeiden, was ihnen auch teilweise gelang, da die ärmeren Gruppen auf ihre materielle Hilfe angewiesen waren.
Das Ergebnis war eine Neufassung der mündlich überlieferten Berichte über das Leben des revolutionären Führers, wie wir sie nun in der heutigen Gestalt der Evangelien vorfinden. Die Hinweise auf die politische Zielsetzung der Tätigkeit Jesu wurden weitgehend beseitigt, die Gestalt dieses Sozialrevolutionärs mit der des paulinischen Mysteriengottes verschmolzen. Erhalten blieben darin aber verschiedene religiöse Traditionen und Bräuche der revolutionären Gruppen, die auf ihre Verbindung mit den Essern zurückgingen.
Aus den 1949 in Qumran entdeckten „Schriftrollen vom Toten Meer“ in Verbindung mit dem 1896 in Kairo gefundenen sogenannten „Damaskus-Dokument“ kann man schließen, dass der geistige Gehalt der sozialrevolutionären Bewegung, deren Führer unter Pontius Pilatus gekreuzigt wurde, von den in der Klostersiedlung am Toten Meer ansässigen Essenern herzuleiten ist, unter denen etwas hundert Jahre vorher ein „Lehrer der Gerechten“ gewirkt hatte und die schon vor der Lebenszeit Jesu die meisten späteren christlichen Bräuche, wie z.B. die Taufe und die gemeinsame kultische Mahlzeit, pflegten.
Der „Christus“ der Christenheit ist daher eine künstlich geschaffene Gestalt, eine Romanfigur, deren Lebensgeschichte aus drei ganz verschiedenen Quellen zusammengestellt wurde – zwei historischen, dem essenschen Lehrer der Gerechtigkeit und dem Sozialrevolutionär Jesus, und einer allegorischen, dem Mysteriengott des Paulus.
Würde man nach heutigen Denkgewohnheiten urteilen, so müsste man daher sagen, dass das Christentum auf einer gewaltigen bewussten Täuschung aufgebaut ist. Aber dieses Wort wäre ungerecht. Im zweiten Jahrhundert kannte man noch kein exakt-wissenschaftliches Denken im modernen Sinn. Zwischen Geschichte und Mythos wurde noch nicht streng unterschieden. Schwerer wiegt, dass man diesen künstlich geschaffenen Mythos heute noch für geschichtliche Wahrheit ausgeben will. Wenn sich auch die christlichen Kirchen in letzter Zeit mehr und mehr bemühen, die ethischen Lehren ihrer Tradition in ihrem vollen Gehalt zu erfassen und in die Tat umzusetzen, z.B. in der Entwicklungshilfe, so dürfen sie sich doch nicht wundern, wenn ein immer größer werdender Teil wacher Menschen ihnen in dieser Gleichsetzung von Mythos und historischer Wirklichkeit nicht mehr zu folgen vermag. Dies gilt auch von den christlichen Symbolen. Das Abendmahl z.B. - katholisch das „Sakrament des Altares“ - ist ein wunderbares Symbol: Brot und Wein - nicht wertvolles Gold und Edelsteine, nein das „tägliche“ Brot und die Trauben in Vertretung der allenthalben wachsenden Früchte - als Symbol der göttlichen Inkarnation, der allgegenwärtigen göttlichen Immanenz. An ein historisches sakramentales Einsetzungsgeschehen geknüpft und als Erinnerung an eine historische Hinrichtung, verbunden mit dem Glauben an eine tatsächliche „Verwandlung“, aber sind sie eine Vergewaltigung der menschlichen Vernunft.
Für viele Menschen allerdings wird die mythische Gestalt des Christus der Kirchen in Verbindung mit den traditionellen Bräuchen trotz der von konfessionell nicht gebundenen Forschern gewonnenen Erkenntnisse unangetastet bestehen bleiben. Zweitausend Jahre religiösen Denkens und religiöser Hingabe haben in der psychischen Welt nämlich eine gewaltige künstliche Gedankenform des kirchlichen Christusbildes geschaffen. Und da Gedanken Kräfte sind, die kumulativ wirken, und da das geschaffene künstliche Gedankenbild außerdem einem kosmischen Archetypus entspricht, der auf das Unterbewusstsein der Menschen einwirkt, ist die irrationale Wirkung des von der Religion der Kirchen vermittelten Christusbildes auf die Psyche eines großen Teils der abendländischen Menschheit immer noch stärker als die intellektuelle Erkenntnis der Haltlosigkeit der traditionellen Lehren.
Es folgt Kap. 9: „Die Rolle der Wissenschaft“
Autor: Norbert Lauppert