Ein Ideal ist eine feststehende, begeisternde Mentalvorstellung, die als Vorbild der Verhaltensweise dient. Es gehört zu den wirksamsten Mitteln, seine Wünsche und Begierden zu beeinflussen. Das Ideal kann sich, dem jeweiligen Temperament des Menschen entsprechend, in einem Individuum verkörpern. Sein Wert beruht hauptsächlich auf seiner Anziehungskraft. Was auf das eine Temperament anziehend wirkt, mag für ein anderes nicht zutreffen.
Ganz allgemein betrachtet, halten sich ein abstraktes und das in einer bestimmten Persönlichkeit (z. B. Mahatma Gandhi, die Red.) verkörperte Ideal in ihrem Wert die Waage. Jeder Mensch sollte dasjenige wählen, das die größte Anziehungskraft und den stärksten Einfluss auf ihn ausübt. Ein intellektuell geprägter Charakter wird meistens ein abstraktes Ideal bevorzugen, während ein emotionales Temperament nach einer bestimmten Verkörperung seines Ideals Ausschau hält. Der Nachteil des abstrakten Ideals besteht darin, dass es häufig nicht inspirierend wirkt; der Nachteil des konkreten Ideals liegt oft in der Tatsache, dass die Verkörperung dem Ideal hinterherhinkt.
Es ist der Intellekt, Manas, der das Ideal erschafft und es als Abstraktion bestehen oder in einer Person konkrete Form annehmen lässt. Die Schaffung eines Ideals geschieht am besten in einer Zeit, in welcher der Geist ruhig und klar ist und die Wunschnatur schläft. Der Denker sollte den Sinn des Lebens betrachten, das Ziel, das er anstrebt, und sich der erforderlichen Eigenschaften bewusst werden, die er besitzen muss, um dieses Ziel zu erreichen. Die gegebenen Eigenschaften fasst er in ein einziges Bild zusammen und führt sich die notwendigen Ergänzungen möglichst klar vor Augen. Diesen Ergänzungsprozess sollte er täglich wiederholen, bis ihm das Ideal klar im Geist vorschwebt, mit der ganzen Schönheit hohen Denkens und edler Handlungsweise, eine Gestalt von zwingender Anziehungskraft.
Für den intellektuellen Menschen wird dieses Ideal reine Vorstellung bleiben. Der Gemütsmensch wird es in eine Person legen - in Krishna, , in den Buddha, den Christus oder einen anderen göttlichen Lehrer. Vielleicht wird er Leben, Wirken und Wandel seines Ideals studieren. Das Ideal gewinnt so an Kraft und Lebendigkeit und wird für den Denker immer mehr zur Wirklichkeit. Die innige Liebe wird zu diesem verkörperten Ideal im Herzen aufblühen, und das Verlangen sehnsüchtig die Arme nach ihm ausstrecken. Naht die Versuchung, und die niederen Begierden verlangen nach Befriedigung, wird die Anziehungskraft des Ideals aktiv. Das höhere Verlangen besiegt das niedere, und der Denker fühlt sich bestärkt. Die mahnende Stimme, die fordert: „Lass ab vom Bösen!“, wird durch die positive Wirkung des Ideals mit dem Ansporn untermauert: „Vollbringe die edle Tat!“
Der Mensch, der gewohnheitsmäßig sein Leben im Gefühl der Gegenwart eines großen Ideals führt, ist durch die Liebe zu diesem Ideal gegen unrechtes Verlangen gewappnet. Er schämt sich, vor seinen Augen niedrig zu handeln. Er sehnt sich danach, dem ähnlich zu werden, was er verehrt. Er neigt zu edlem Denken. Unrechtes Verlangen verträgt sich immer weniger mit seinem Charakter. Es stirbt ab, da es in dieser reinen klaren Atmosphäre nicht existieren kann.
Da in den Augen vieler Menschen die historische Kritik viel zerstört hat, soll an dieser Stelle bemerkt werden, dass der Wert des idealen Christus, des idealen Buddha, des idealen Krishna in keiner Weise durch den Mangel an historischen Daten oder durch irgendwelche fehlenden Beweise für die Authentizität einer Schrift beeinträchtigt wird.
Viele der überlieferten Berichte mögen historisch nicht zutreffen, aber sie sind ethisch und dem innersten Wesen nach wahr. Ob dieses oder jenes Ereignis im irdischen Leben der großen Religionsgründer stattgefunden hat, besitzt keine weitere Bedeutung. Die Wirkung eines solchen idealen Charakters auf seine Umgebung entspricht immer der vollkommenen Wahrheit. Die heiligen Schriften der Welt repräsentieren geistige Tatsachen, ungeachtet der getreuen oder nicht getreuen Wiedergaben irdischer Umstände.
Das Denken kann das Verlangen gestalten, ihm die Richtung weisen und so aus einem Feind einen Verbündeten machen. Die Richtungsänderung des Verlangens verwandelt eine behindernde in eine erhebende und beschleunigende Kraft. Während uns das Verlangen nach irdischen Dingen an den Staub der Erde Fesselt, zieht uns das Verlangen nach dem Ideal empor.
J. W. v. Goethe
Faust I, Vor dem Tor
Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust,
Die eine will sich von der andern trennen:
Die eine hält, in derber Liebeslust,
Sich an die Welt mit klammernden Organen;
Die andre hebt gewaltsam sich vom Dust
Zu den Gefilden hoher Ahnen.
Oh gibt es Geister in der Luft,
Die zwischen Erd‘ und Himmel herrschend weben,
So steiget nieder aus dem goldnen Duft
Und führt mich weg zu neuem, buntem Leben!
Autor: Annie Besant, Eine Studie über das Bewusstsein, Aquamarin Verlag 2004