Die drei großen Wahrheiten

In einem unserer ältesten theosophischen Bücher steht, dass es drei große Wahrheiten gibt, die unumstößlich sind und nicht verloren gehen können, dass sie aber verschwiegen bleiben müssen, weil die menschliche Sprache sie nicht auszudrücken vermag. Sie sind so groß wie das Leben selbst und doch so einfach wie der einfältigste Menschengeist. Ich kann kaum mehr tun als diese, die größten meiner allgemeinen Grundprinzipien zu umschreiben. Dann möchte ich einige Zusätze geben, die naturnotwendig aus ihnen folgen, und endlich drittens einige besonders vorteilhafte Ergebnisse besprechen, die die notwendige Folge dieser bestimmten Erkenntnis bilden. Nachdem ich so eine Übersicht über das ganze Lehrgebäude gegeben habe, werde ich auf jeden der einzelnen Punkte näher eingehen und mich bemühen, ihre Erklärungen so gründlich zu gestalten, als es der beschränkte Raum dieses kleinen Elementarbuches irgendwie gestattet.

I. Gott existiert und er ist gut. Er ist der große Schöpfer des Lebens, der in uns und außer uns wohnt, unsterblich und ewig wohltätig. Er ist nicht sichtbar, noch hör- oder fühlbar, und doch kann er von jedem empfunden werden, der ihn empfinden will.

II. Der Mensch ist unsterblich, und seine Zukunft wird von unbegrenzter Seligkeit und Herrlichkeit sein.

III. Ein göttliches Gesetz absoluter Gerechtigkeit beherrscht die Welt, so dass jeder Mensch in Wahrheit sein eigener Richter ist, sich selbst Heil oder Unheil bereitet und über sein Leben, seinen Lohn und seine Strafe frei bestimmt.

Z u s ä t z e

Mit jeder dieser großen Wahrheiten hängen wiederum andere untergeordnete und erklärende Wahrheiten zusammen.

Aus dem ersten Satz folgt:

1. Dass allem äußeren Anschein zum Trotz alle Dinge bestimmt und weislich gemeinsam auf das Gute gerichtet sind; dass alle Umstände, so widrig sie auch erscheinen mögen, in Wirklichkeit genau das sind, was not tut; dass alles, was uns umgibt, danach strebt, nicht uns zu hindern, sondern uns zu helfen, wenn wir es nur richtig verstehen.

2. Dass, da der ganze Plan in dieser Weise dem Wohle des Menschen dient, dieser natürlich auch die Pflicht hat, diesen Plan verstehen zu lernen.

3. Dass, wenn er ihn so verstehen gelernt hat, es seine Pflicht ist, einsichtsvoll mit diesem Plan zusammen zu arbeiten.

Aus der zweiten großen Wahrheit folgt:

1. Dass der wahre Mensch nur eine Seele ist und der Körper nur eine Mitgabe.

2. Dass er deshalb alles vom Gesichtspunkt der Seele aus betrachten und sich bei allen inneren Kämpfen darüber klar werden sollte, dass er mit dem höheren und nicht mit dem niederen Prinzip identisch ist.

3. Dass das, was wir gewöhnlich sein Leben nennen, nur ein Tag in seinem wahren und größerem Leben ist.

4. Dass der Tod von sehr viel geringerer Bedeutung ist, als gewöhnlich angenommen wird, weil er durchaus nicht das Ende des Lebens, sondern nur der Übergang von einer Stufe zu einer anderen ist.

5. Dass der Mensch einen unendlich großen Entwicklungsgang hinter sich hat, dessen Studium außerordentlich fesselnd, interessant und lehrreich ist.

6. Dass er ebenso eine herrliche Entwicklung vor sich hat, deren Studium noch weit fesselnder und lehrreicher ist.

7. Dass es eine absolute Gewissheit für jede menschliche Seele gibt, das Ziel endlich zu erreichen, gleichviel, wie weit sie auch vom geraden Wege der Entwicklung abgewichen zu sein scheint.

Aus der dritten großen Wahrheit folgt:

1. Dass jeder Gedanke, jedes Wort und jede Handlung einen ganz bestimmten Erfolg hat. Nicht den einer Belohnung oder Strafe, die von etwas Außenstehendem erteilt wird, sondern einen Erfolg, der der Handlung selbst innewohnt und mit ihr in der festen Verbindung von Ursache und Wirkung steht, die ja nur die beiden unzertrennbaren Teile eines Ganzen sind.

2. Dass der Mensch nicht nur seine Pflicht erfüllt, sondern auch in seinem eigenen Interesse handelt, wenn er dieses göttliche Gesetz genau studiert, damit er fähig wird, sich ihm anzupassen und es ebenso zu benutzen, wie wir andere große Naturgesetze benutzen.

3. Dass es für den Menschen notwendig ist, vollständige Kontrolle über sich selbst zu erlangen, damit er seine Lebensführung in verständige Übereinstimmung mit diesem Gesetz bringen kann.

Die Vorteile, die aus dieser Erkenntnis entspringen Haben wir uns diese Erkenntnis einmal vollständig zu eigen gemacht, dann ändert sie die ganze Richtung unseres Lebens so vollständig, dass es unmöglich ist, alle die Vorteile einzeln aufzuzählen, die daraus entspringen. Ich kann nur einige der Hauptrichtungen angeben, nach denen sich die Veränderung vollzieht, und der Leser wird dann wohl durch eigenes Nachdenken die endlosen Verzweigungen ergänzen, welche die notwendige Folge dieser Veränderung bilden.

Allerdings muss man sich darüber klar sein, dass eine oberflächliche und ungenaue Kenntnis dieser Dinge nicht genügt. Ein Glaube, wie ihn die meisten Menschen ihrer Religion entgegenbringen, wird vollkommen nutzlos bleiben, weil er für ihr Leben ohne praktische Wirkung ist. Wenn wir dagegen an diese Wahrheiten glauben, wie wir an andere Naturgesetze glauben – wie wir glauben, dass man sich am Feuer verbrennt oder im Wasser ertrinken kann -, dann wird der Einfluss, den sie auf unser Leben ausüben, ein außerordentlich großer sein. Ist unser Glaube an das Walten fester Naturgesetze doch stark genug, um uns zu veranlassen, unser Leben mit ihnen in Einklang zu setzen. Weil wir überzeugt sind, dass wir uns am Feuer verbrennen, suchen wir das Feuer mit aller Vorsicht zu meiden; weil wir überzeugt sind, dass wir im Wasser ertrinken, hüten wir uns, in zu tiefes Wasser zu gehen, wenn wir nicht schwimmen können.

Diese Überzeugung ist für uns so bestimmt und maßgebend, weil sie auf Wissen begründet ist und durch tägliche Erfahrung bewiesen wird. Und die Überzeugungen des Theosophen sind für ihn genau ebenso bestimmt und maßgebend, und zwar aus ganz demselben Grunde. Und darum gelangen wir jetzt zu folgenden Ergebnissen:

1. Wir lernen das Leben vernunftgemäß verstehen; wir wissen, wie wir leben sollten und warum, und wir erkennen endlich, dass das Leben lebenswert ist, wenn man es nur recht versteht.

2. Wir lernen, uns selbst zu beherrschen und dadurch auch uns selbst zu entwickeln.

3. Wir lernen, wie wir denen, die wir lieben, am besten helfen und uns allen, mit denen wir in Berührung kommen, und schließlich der ganzen Menschheit nützlich machen können.

4. Wir lernen alles von einem weiteren philosophischen Standpunkt und nie von kleinlichen und persönlichen Gesichtspunkten aus betrachten.

Folglich:

5. Sind die Kümmernisse des Lebens nicht mehr so groß für uns.

6. Haben wir in Bezug auf unser Schicksal und unsere äußeren Lebensumstände nicht das Gefühl, es geschähe aus Unrecht.

7. Sind wir frei von jeglicher Todesfurcht.

8. Wird unsere Trauer um den Tod derer, die wir lieben, sehr wesentlich gemildert.

9. Gewinnen wir eine völlig andere Anschauung von dem Leben nach dem Tode und erkennen und verstehen seinen Platz in unserer Entwicklung.

10. Sind wir durchaus frei von religiösen Ängsten und Besorgnissen, sowohl für uns selbst wie für unsere Freunde; z.B. von der Sorge um unser zukünftiges Seelenheil.

11. Werden wir nicht mehr von der Sorge um unser künftiges Schicksal bekümmert, sondern leben in vollkommener Ruhe und Furchtlosigkeit.

Wir wollen nun alle diese Punkte einzeln vornehmen und sie kurz zu erklären versuchen. (…)



Autor: Charles Webster Leadbeater(1847-1934),