Die Geburt der Wahrheit

Dr. Franz Hartmann

Wie wird das Licht der Wahrheit im Menschen geboren? Der Vor­gang ist im „Neuen Testament" symbolisch beschrieben: Nur eine reine, jungfräuliche Seele, die an keine Meinung, Theorie oder Hypo­these gebunden ist, kann den Geist der Wahrheit in sich aufnehmen und zur Reife, zur Selbsterkenntnis bringen; denn die Wahrheit ist eine eifersüchtige Göttin, sie duldet keine Nebenbuhlerinnen. Mei­nungen, Theorien und Hypothesen sind nur ihre Dienerinnen. Wer die Herrin als Braut heimführen will, darf nicht mit der Magd sich verbinden. Die Selbsterkenntnis kennt keinen äußeren Gott; nur in ihrem eigenen Inneren kann die reine Seele den Geist der Wahrheit empfangen; die Erlösung des Menschen findet in ihm und nicht außer ihm statt. Im geheimsten Gemache der Seele, in dem der Welt unbe­kannten Bethlehem, wird der göttliche Funke geboren. Seine Wiege steht in einem Stalle, weil der göttliche Funke im Menschen von tierischen Elementen umgeben ist. Da steht der störrische Ochs, das Symbol des Eigenwillens, und der Esel, das Symbol des Eigensinns. Da steht im Hintergrunde das Lamm, das Symbol der Geduld, und das Pferd, das Bild des Gehorsams. Auch der Stiefvater des kom­menden Erlösers ist da, der Verstand, der sich aufs Häuserbauen und auf Systeme zurechtzuzimmern versteht. Er ist ein richtiger Zimmer­mann und Baumeister im Kleinen, sowie im Großen; denn auch das große Weltall ist mit Verstand nach Gesetz, Zahl, Maß und Gewicht aufgebaut. Die Engel stehen der Wiege zunächst, die Liebe, der Glaube und die Hoffnung, und draußen singen die Hirten, die Men­schenherzen, die den Morgenstern der Erkenntnis am geistigen Himmel aufgehen sehen: „Ehre sei Gott in der Höhe, und Friede den Menschen auf Erden, die eines guten Willens sind."
 
Da nahen sich „die drei weisen Männer des Morgenlandes", denen der Stern der Erkenntnis den Weg zur Wahrheit gezeigt hat. Sie bringen dem neugeborenen Kinde Opfer dar; zunächst das Gold der weltlichen Weisheit mit all seinem Schimmer von Ansichten und Meinungen, das aber vor dem Lichte des Goldes der göttlichen Selbsterkenntnis in Staub zerfällt; dann den Weihrauch, den das Herz dem täuschenden „Ich" gestreut hat, und der nun zur Verehrung des wahren Gottes dienen soll, und schließlich Myrrhen, das Symbol der Bitterkeit und des Leidens, ohne welche es keine Erkenntnis gibt, die aber nicht mehr vorhanden sind, sobald man die Wahrheit erkennt.
 
Kaum ist aber die Erkenntnis geboren, so regt sich „Herodes", die Eitelkeit, der Stolz, dem die Herrschaft seines Menschenverstandes das Höchste ist, und der sie zu verlieren fürchtet. Da muß das neuge­borene Kind in „Ägypten", dem Lande der Weisheit, in Sicherheit gebracht werden, und kann erst dann wieder in das gelobte Land zurückkehren, wenn Herodes seine Herrschaft verloren hat.
 
So wächst das Kind groß, und schon in seinem zwölften Jahre (der Zahl der Vollkommenheit) übertrifft es alle Pharisäer und Gelehrten, alle von den Autoritäten beglaubigten Meinungen und Vernunftschlüs­se an Weisheit und Verstand. Dann kommt die Zeit, wenn der Heiland in der Hauptstadt des Reiches, in „Jerusalem", im menschlichen Ver­stande seinen Einzug hält, um dort als ein der Menge unbekannter König zu herrschen. Auf einer „Eselin", dem Symbol des fruchttra­genden Gehorsams, reitet er durch das Tor und wird von den im Men­schen erwachenden geistigen Kräften mit Jubel empfangen. Er predigt im Tempel des Herzens und treibt sowohl die tierischen Leidenschaf­ten, als auch die „Geldwechsler", die Begierden, welche dem Egois­mus entspringen, mit den Peitschenhieben der Vernunft zum Tempel hinaus.
 
Aber die große Menge der Bevölkerung des menschlichen Inneren, die tierischen Instinkte und Leidenschaften, und vor allem die „Phari­säer", die Verstandeskräfte, welche nicht zur heilbringenden Erkennt­nis gekommen und der Wahrheit nicht nachgefolgt sind, sowie die Schriftgelehrten, d. h. diejenigen Meinungen, welche der Mensch aus Büchern geschöpft oder durch Hörensagen erhalten hat, sträuben sich gegen die Herrschaft der reinen Vernunft, ja sie wollen nicht einmal an die Möglichkeit eines solchen „Königs", der von keiner hohen wissenschaftlichen Autorität beglaubigt wurde, glauben. Unfähig, die Wahrheit durch die Wahrheit zu widerlegen, suchen sie nach Verrat.
 
Durch das Gold der Selbstliebe wird die Logik gewonnen, die Vernunft gefangen und gebunden vor den Richterstuhl des Menschen­verstandes gebracht. Zwar kann auch der vorurteilsfreie Menschen­verstand keinen Fehler an der Erkenntnis entdecken, er kann aber auch die Wahrheit, die vor ihm steht, nicht erkennen, und er fragt sie vergebens, was sie sei. Die Wahrheit hat keine Antwort auf diese Frage, sie ist nichts anderes als sie selbst.
 
Draußen, außerhalb des Reiches der Vernunft, heult das Volk der Begierden, der Lüste, der Leidenschaften, Dogmen und Glaubensar­tikel, und verlangt den Tod der Erkenntnis der Wahrheit. Ihr Selbster­haltungstrieb zwingt sie dazu; denn käme die Wahrheit zur Herr­schaft, so müßten die Lüge, der Wahn, der Selbstbetrug und alle Täu­schungen zu Grunde gehen. Die schwache Vernunft liefert ihren Erlö­ser der sinnlichen Menge aus, welche ihn festnagelt, damit er sie nicht länger belästigen kann. So hängt die Erkenntnis am Kreuze zwischen zwei „Dieben", von denen der eine die falsche Schlußfol­gerung ist, die sich aber noch am Ende bekehren kann und der andere der Wahn, für den keine Umwandlung möglich ist, sondern der ster­ben muß. So stirbt die Wahrheit für den Menschen insofern, als der Mensch für die Erkenntnis der Wahrheit stirbt; sie selber ist aber nicht tot, sondern nur begraben, und steht auf, sobald der Engel des Lichtes den Stein der Unwissenheit von ihrem Grabe wälzt.
 
In der Bhagavad Gita ist dieselbe Wahrheit in einer anderen Form dargestellt. Dort ist Ardschuna (der Mensch), der sich seinen besten Freunden und Verwandten, die seine eigenen Begierden und Meinun­gen sind, gegenübergestellt sieht, um sie zu bekämpfen. Sein Gefühl und Verstand sträuben sich dagegen, sein Körper bebt und sein Bogen entfällt seiner Hand. Er will lieber selbst sterben, als das Blut derje­nigen zu vergießen, die ihm teurer als sein eigenes Leben sind. Aber Krischna, der Gottmensch, spricht ihm Mut zu; er belehrt ihn, daß sein eigenes Selbst, sowie die Freunde desselben, die bekämpft wer­den sollen, nur Täuschungen sind, daß der wahre Mensch ewig gelebt hat, ewig lebt, niemals sterben wird, und daß der Mensch in seinem „Selbst" nicht einmal selber zu kämpfen braucht, sondern nur die Er­kenntnis selber für ihn kämpfen lassen soll. Er selbst ist nichts als der Wagenlenker des Willens; Krischna, der Geist, kämpft für ihn und wird siegen, wenn er nur nicht mit seinen Feinden gegen ihn streitet und dadurch die eigene Selbsterkenntnis erstickt.
 
Ähnliche Allegorien liegen allen großen Religionssystemen zu Grunde, und es sieht aus wie eine Entheiligung, den darin verborgenen Sinn aufzudecken, weil jeder in seinem eigenen Herzen die Erklärung dieser Geheimnisse suchen und in sich selber erfahren sollte, indem ein bloßes Wissen derselben keinen wirklichen Nutzen hat. Da aber der Dogmatismus und die aus demselben entsprungene Verkehrtheit und Irreligiosität täglich mehr überhand nimmt, so daß die meisten nur noch die Form sehen können und den darin enthaltenen Geist zu ignorieren bestrebt sind, so mag es von Nutzen sein, die Aufmerk­samkeit der Wenigen, welche noch nach Wahrheit suchen, auf den In­halt religiöser Symbole zu lenken, und ihnen einen Schlüssel in die Hand zu geben, mit dem sie die Türe des Heiligtums öffnen können. Es gibt keine wahre Erkenntnis, wenn nicht das Wahre im Menschen sich selber erkennt.
 
Aus „Die weiße und die schwarze Magie", S. 150ff
 


Autor: Dr. Franz Hartmann