Die Göttlichkeit des Raumes
 
Shirley Nicholson
 
Die Zahlen in Klammern beziehen sich auf die Literaturhinweise auf S. 34/35
 
Bewegung, Raum und Zeit gehören zu den wenigen universalen Tatsachen, welche alle Grenzen überschreiten und das ganze Dasein berühren. Mystiker und Wissenschaftler haben Dimensionen dieser drei Grundtatsachen gefunden, die von der Art und Weise, in der wir sie gewöhnlich erfahren, drastisch abweichen und so allumfassend sind, dass sie einen göttlichen Aspekt annehmen.
 
Auf den ersten Blick scheinen Raum, Zeit und Bewegung zu den gewöhnlichen Erscheinungen unserer irdischen Welt zu gehören. Sie sind so allgegenwärtig, unveränderlich und vertraut, dass wir sie nicht einmal beachten. Aber wenn wir es recht überlegen, müssen wir zugeben, dass nichts existiert, was sich nicht in Bewegung befindet, für uns wahrnehmbar, wenn eine Katze springt, aber auch unmerklich, wenn etwa ein Berg allmählich erodiert, und ebensowenig können wir den Tanz der Atome oder den Umlauf der Planeten wahrnehmen. Auch der Raum ist überall - in den schachtelartigen Bereichen unserer Zimmer, in der Unermesslichkeit galaktischer Entfernungen und in den ultramikroskopischen Bereichen der subatomaren Partikel. Ebenso ist die Zeit ein wesentlicher Teil allen Seins, wir erleben sie als den Druck des Augenblicks oder als das Vergehen unserer Tage und Jahre, aber wir wissen auch um das Alter unseres Weltalls seit seinen Anfängen und um die nur Augenblicke währenden Nanosekunden subatomarer Partikel.
 
Jeder dieser drei Aspekte der Wirklichkeit kann in vielen Gestalten wahrgenommen werden, in der Tat in so vielen, dass sie kaum miteinander in Beziehung zu stehen scheinen. Wir wissen viel über sie von vielen Gesichtspunkten aus. Aber was immer wir von Bewegung, Raum und Zeit wissen und erfahren, ist nur die äußere Erscheinung des tieferen Geheimnisses, das sie bergen, denn die Theosophie lehrt, dass sie Merkmale und Zeichen der nichtmateriellen Wirklichkeit, des Einen sind. In der Geheimlehre erklärt H. P. Blavatsky, dass sie die drei Aspekte des Absoluten sind, der Urquelle von allem. In den Mahatma-Briefen,die von den Lehrern H. P. Blavatskys geschrieben wurden, werden diese drei Aspekte dahingehend beschrieben, dass sie selbst die Wirklichkeit sind, die alles hervorbringt: „... alle Erscheinungen gehen aus der Unendlichkeit des Raumes, der Dauer und der Bewegung hervor." (1) In ihrer Grenzenlosigkeit sind Bewegung, Raum und Zeit identisch mit jenem Hintergrund, der alle Erscheinungen im Vordergrund unseres Wissens und unserer Erfahrung entstehen lässt. Sie sind universal, ewig, allgegenwärtig, göttlich.
 
Wir werden jeden dieser drei Aspekte der Wirklichkeit daraufhin untersuchen, wie er in unserer Erfahrung erscheint, und wie er im modernen Denken wahrgenommen wird. Auf diese Weise wollen wir versuchen, die unserer weltlichen Wahrnehmung von Bewegung, Raum und Zeit zugrundeliegende metaphysische Wirklichkeit zu erfassen, und ob es möglich ist, bis zu einem gewissen Grade ihren sublimen Aspekt zu erfahren.

Die vielen Gestalten des Raumes

Die östliche Philosophie und die Theosophie vertreten die Auffassung, dass der allumfassende Raum sozusagen seinen Schatten auswirft, um unsere Welt von Zeit und Raum zu formen. Die Mannigfaltigkeit des Raumes, die wir wahrnehmen, ist von diesem universellen Raum abgeleitet und reflektiert ihn. In der Geheimlehre wird er als der dunkle Raum symbolisiert, nicht als der helle Raum der manifestierten Welt, sondern als die geheimnisvolle Tiefe, aus der sich die Manifestation erhebt. Diese dunkle Grundsubstanz ist mit unserem unbewussten Denken verglichen worden, aus dem das Licht unseres Wachbewusstseins zutage tritt.
 
In diesem undifferenzierten, unbegrenzten Raum gibt es keine Dimensionen, keine Richtungen, kein Inneres und kein Äußeres, kein Hier und Dort. Er ist die Tiefe und Weite, aus der die Richtungen des Raumes entstehen, und das dimensionslose Kontinuum, aus dem die räumlichen Dimensionen hervorgehen. Der Raum ist daher in dem metaphysischen Sinn, in dem H. P. Blavatsky das Wort gebraucht, das „eine ewige Ding", das „immer war und sein wird".
 
Wir haben viele Ausdrucksformen dieses Hintergrundes des universalen Raumes kennengelernt. In den letzten Jahrzehnten sind wir von der Erkundung des äußeren Raumes begeistert worden: Menschen, die sich auf dem Mond bewegen können, Sonden, die entfernte Planeten erkunden, Satelliten, die die Erde umkreisen. Weltraumthemen in Filmen, Romanen und sogar Anzeigen stimulieren dieses Interesse. Bilder des Nachthimmels mit zahllosen Galaxien oder Bilder der Erde, wie sie vom Mond aus gesehen wurden, haben sich in unser Unterbewusstsein eingeprägt, so dass unser Blick auf den äußeren Raum unser Denken zu färben beginnt. Wir hören auch von Sternen, die tausendmal größer als unsere Sonne sind, von Milchstraßensystemen, die viele Millionen Lichtjahre entfernt sind, von einem grenzenlosen Raum, der sich um sich selbst krümmt und sich in unvorstellbarer Schnelligkeit ausdehnt, gleich der Außenseite eines kosmischen Ballons, der aufgeblasen wird. Je mehr wir vom Weltraum erfahren, desto geheimnisvoller und faszinierender wird er.
 
Zusätzlich zu der Anziehungskraft des äußeren Raumes birgt auch der bescheidene Raum um uns ein Mysterium, das wir noch erforschen müssen. Der Raum wirkt fortgesetzt auf unterschwellige Weise auf unser Bewusstsein ein, und sein Charakter scheint sich zu verändern, wenn wir ihn von verschiedenen Standpunkten aus erleben. Die Einengung, die wir in einem Lift erleben, steht in scharfem Gegensatz zu der Freiheit, die wir auf dem Land oder auf einem offenen Feld empfinden; die Enge eines Tales wirkt auf uns ganz anders als der freie Ausblick von einem Berggipfel. Manche Menschen werden durch die Furcht vor Höhen oder vor engen geschlossenen Räumen ernstlich krank.
 
Wir haben vom Raum gewöhnlich die Vorstellung einer Leere, die gesonderte Dinge enthält: Stühle, Häuser, Städte. Wir erleben ihn auch als die Umgebung, durch die sich Dinge bewegen; wir durchmessen ihn ständig, wenn wir gehen, fahren oder fliegen. Als Abstand zwischen Standorten ist er ausgebreitet und hat Richtungen. Landkarten stützen sich auf diese Eigenschaften des Raumes. Aber Entfernung und Richtung sind unwesentlich für den Raum innerhalb von Dingen ...
 
Für den Maler, den Künstler oder den Landschaftsarchitekten bedeutet der Raum den Hintergrund für ein Werk, eine Umgrenzung, in die er Elemente in künstlerischer Ausgewogenheit einsetzen kann. Für den Wissenschaftler sind die Vorstellungen vom Raum in differenzierte mathematische Formeln eingekleidet. Der Raum ist anpassungsfähig, wandelbar und hat die Fähigkeit, in vielen Formen zu erscheinen.

[...]

Einstein erweiterte unsere Auffassung noch dahingehend, dass er zeigte, wie Raum und Zeit in einem vierdimensionalen Raum-Zeit-Kontinuum verbunden sind ... John Wheeler, welcher der „große alte Mann der theoretischen Physik" genannt wurde, ging noch weiter und kam zu dem Schluss, dass der Raum eine unbegrenzte Zahl von Dimensionen aufweise. Über die Physik nachdenkend, empfand er, dass es einen „Über-Raum" jenseits des vierdimensionalen Bereiches geben müsse, der eine unbegrenzte Zahl von Dimensionen besitzt. „Die Bühne, auf der sich der Raum des Weltalls bewegt, ist sicherlich nicht der Raum selbst... Die Arena muss etwas Größeres sein: der Über-Raum."(2)

Allumfassender Raum

Die Theosophie lehrt, dass selbst dieser erweiterte Raum von Einstein und Wheeler nur der äußere Ausdruck des Universalen Raumes der Metaphysik ist. Schon vor der Zeit Einsteins deutete H. R Blavatsky an, dass der Raum mehr als vier Dimensionen habe; sie nannte ihn „siebenhäutig", an anderer Stelle aber „ohne alle Dimensionen". Von der Geheimlehre inspiriert, schrieben Prem und Ashish über diesen grenzenlosen Raum: „ ... die vierdimensionale ,gekrümmte' Raum-Zeit ist ein begrenzter Einschluss innerhalb des gänzlich dimensionslosen und zeitlosen Raumes der Matrix ..."(3)
 
Dieser abstrakte Raum, der das Absolute Eine symbolisiert, ist unveränderlich. Alle gewaltigen Explosionen von Sternen, die geboren werden und sterben, das Leben, das entsteht und vergeht, menschliche Leidenschaften, Tragödien und Begeisterungen, beeinflussen in keiner Weise diesen unwandelbaren Urgrund. Anders als der Raum Einsteins ist der universale Raum „in seiner Abstraktheit unbeweglich und unveränderlich und unbeeinflusst von der Gegenwart oder Abwesenheit eines objektiven Weltalls in ihm."(4) Er ist zeitlos. Epochen der Geschichte, individuelles Leben, Planeten, Sterne, Milchstraßensysteme kommen und gehen, während der absolute abstrakte Raum ewig dauert. Er ist die „grenzenlose Leere", die alles enthält, was existiert, sei es offenbar oder nicht. In diesem Sinn ist er grenzenlose ewige Leere.
 
Aber der universale Raum enthält nicht nur die offenbarte Welt, er bringt sie auch hervor. Wir haben gesehen, dass aus einem Bereich im Hintergrund Partikel entstehen können. Die Theosophie lehrt nach den Worten der Upa-nishaden, dass die ganze Offenbarung aus einem scheinbar leeren Raum wie Schaum aus dem Wasser emportaucht. Zahllose Universen kommen und gehen, ohne dieses grenzenlose Potential auszuschöpfen. Dieser Raum ist außerdem bedingte Fülle, ein Pleroma, insoweit in ihm das Potential für alles besteht, was ist, was war und was sein wird. H. P. Blavatsky setzte den Raum mit dem „Absoluten All" gleich. In diesem Sinne kann er mit dem undifferenzierten Bewusstsein gleichgesetzt werden ... Nach der theosophischen Auffassung steht der Raum - der Göttliche Ursprung allen Seins - ewig hinter dem Kommen und Gehen von Welten, er ist die unveränderliche
Grundlage, die alles stützt und trägt, was vergänglich ist. Er ist jene Wirklichkeit an sich, aus der alles entsteht und in die sich schließlich alles zurückzieht. Joseph Campbell, eine Autorität auf dem Gebiet der Mythologie, mag sich auf den theosophischen Begriff des Raumes bezogen haben, als er schrieb:
 
Kurz formuliert besagt die universale Lehre, dass alle sichtbaren Strukturen in der Welt - alle Dinge und alles Sein - die Wirkungen einer allgegenwärtigen Kraft sind, der sie entspringen, die sie während der Periode ihrer Offenbarung trägt und erfüllt, und in die sie sich schließlich wieder auflösen müssen.(5)
 
Trotz der vielen Gestalten, die der Raum uns zeigt, gibt es doch keine gesonderten Räume. Unsere ganze Erfahrung ist von der Dimension des universalen Raumes erfüllt, die der tibetische Lehrer Tarthang den „Großen Raum" nennt. Der gewöhnliche irdische Raum, den wir kennen, ist ein Ausdruck jenes unermesslichen kosmischen Prinzips, das in seinem innersten Wesenskern liegt. Wir sind uns dieser Unendlichkeit gewöhnlich nicht bewusst, weil unsere Einstellung für kleinere Perspektiven geschult ist, aber wir können lernen, unseren Blick zu erweitern.
 
Wir können unser Denken ausdehnen, so dass in gewissem Sinne der Große Raum zu einer Wirklichkeit für uns wird. Die leere Weite des Himmels ist ein natürliches Symbol für den Raum. Wenn wir in einer klaren Nacht zum Himmel blicken, empfinden wir etwas von der Grenzenlosigkeit und Unendlichkeit des Raumes. Die sichtbare Weite des Himmels kündet uns von etwas, das darüber liegt und noch unermesslicher ist - einem grenzenlosen Kontinuum, das sich ständig ausdehnt, über alle sichtbaren Galaxien hinaus. [ ... ] Wenn wir uns dann den uns vertrauten Räumen unserer Umgebung zuwenden - begrenzt auf unsere Gebäude, Räume und Straßen - können wir uns vergegenwärtigen, dass diese, wenn auch nur stückweise, doch von der Unermesslichkeit des Raumes durchdrungen sind. Wenn sie auch begrenzt erscheinen, sind sie doch in keiner Weise von jenem ununterbrochenen, grenzenlosen Kontinuum getrennt. [...] Der große Raum ist dann nicht mehr ein abstrakter Begriff, der nichts mit unserem Leben zu tun hat, sondern wird zu einer Realität, die uns in jedem Augenblick unseres Lebens umgibt und stützt.
 
Literaturhinweise
(1) Die Mahatma-Briefe, Band 2, Brief Nr.72, Hg. N.Lauppert,Graz, 1980
 
(2) Margenau, Henry, Hg., Integrative Principles in Modern Thought, New York, 1972
 
(3) Prem, Sri Krishna and Ashish, Sri Madhava, Man, The Measure of All Things, Wheaton, 1969
 
(4) Blavatsky, H. P, The Secret Doctrine, Adyar, 1978 (dt. Die Geheimlehre)
 
(5) Campbell, Joseph, Hero with a Thousend Faces, Princeton (dt. Der Heros in tausend Gestalten)
 
Shirley Nicholson, Uralte Weisheit - moderne Erkenntnis, S. 58-66
Theosophische Verlagsgesellschaft Adyar, Kassel 1989
 
 


Autor: Shirley Nicholson