Die Âkâsha-Chronik

Arthur E. Powell

Die Beschreibung der Mentalebene wäre unvollständig ohne einen Bericht über
die so genannte Âkâsha-Chronik. Sie ist die einzig verlässliche Geschichte der
Welt und wird oft als das Gedächtnis der Natur bezeichnet, auch als die wahren
karmischen Aufzeichnungen oder das „Buch der Lipika".
 
Das Wort Âkâsha ist in gewisser Weise eine Fehlbezeichnung; denn die Chronik 
wird zwar aus der Ákásha, also der Materie der Mentalebene, gelesen, gehört
aber nicht eigentlich zu dieser Ebene ... Das Wort Âkâsha passt nur deshalb,
weil wir auf der Mentalebene zum ersten Mal eindeutig mit der Chronik in 
Berührung kommen und verlässlich mit ihr arbeiten können.
 
Dem Leser ist die Tatsache bereits bekannt13, dass der Kausalkörper eines
Menschen, der die Grenzen seiner Aura bestimmt, mit zunehmender Entwicklung an Größe, aber auch an Leuchtkraft und Reinheit der Farben zunimmt. Wenn wir dieses Verständnis bis zu einer sehr viel höheren Ebene weiterführen, kommen wir zu der Vorstellung, dass der Solare Logos in sich unser gesamtes Sonnen - System enthält. Deshalb spielt sich alles, was innerhalb unseres Systems geschieht, innerhalb des Bewusstseins des Logos ab. So erkennen wir, dass die wahre Chronik Sein Gedächtnis ist.
 
Außerdem wird deutlich, dass dieses Gedächtnis, ganz gleich auf welcher Ebene es existiert, weit über allem liegen muss, was wir kennen. Deshalb können alle Aufzeichnungen, die wir zu lesen in der Lage sein sollten, nur eine Spiegelung des großen Originals in den dichteren Medien der niederen Ebenen sein.
 
Wir wissen, dass es eine solche Chronik auf der Buddhi-, der Mental- und der
Astralebene gibt und werden sie in umgekehrter Reihenfolge beschreiben. Auf 
der Astral­ebene ist die Spiegelung außerordentlich unvollkommen. Die Chronik, 
die dort sichtbar ist, ist äußerst bruchstückhaft und häufig grob verzerrt. Die Analogie des Wassers, die so häufig für die Astralwelt gebraucht wird, erweist sich in diesem Fall als bemerkenswert zutreffend. Eine deutliche Spiegelung in ruhigem Wasser ist bestenfalls nur eine Spiegelung, die in zwei Dimensionen dreidimensionale Gegenstände
wiedergibt und deshalb nur ihre Gestalt und Farbe zeigt; außerdem sind die
Objekte seitenverkehrt wiedergegeben.
 
Kräuselt sich die Wasseroberfläche, wird die Spiegelung bis fast zur Unbrauchbarkeit
gebrochen und verzerrt und ein irreführendes Abbild der wahren Gestalt und
Erscheinung der gespiegelten Gegenstände.
 
Auf der Astralebene kann es nie etwas geben, was einer ruhigen Oberfläche auch
nur nahe käme; ganz im Gegenteil, wir haben es mit einer Oberfläche inrascher,
wilder Bewegung zu tun. Wir dürfen also nicht darauf hoffen, ein klares,
scharfes Bild zu erhalten. Deshalb kann ein Hellsichtiger, der lediglich die Fähigkeit zum astralen Sehen besitzt, sich nie darauf verlassen, dass ein Bild aus der Vergangenheit, das vor ihm auftaucht, zutreffend und fehlerlos ist. Hier und da mag es ein Teil tatsächlich sein, aber er kann keinesfalls wissen, welcher dies ist. Durch lange und sorgfältige Übung kann er lernen, zwischen verlässlichen und unzuverlässigen Eindrücken zu unterscheiden und aus den gebrochenen Spiegelungen ein gewisses Abbild des gespiegelten Gegenstandes zu konstruieren. Gewöhnlich aber hat er die
mentale Sicht schonlange entwickelt, bevor es ihm gelingt, diese Schwierigkeiten zu
meistern, was derlei Mühen überflüssig macht.

Auf der Mentalebene sind die Verhältnisse ganz anders. Dort ist die Chronik vollständig und genau; auch kann einem beim Lesen kein Fehler mehr unterlaufen. Das heißt, bei einer beliebigen Zahl von Hellsichtigen, die unter Anwendung der mentalen Sicht eine Chronik studierten, würde jeder dieselbe Spiegelung sehen und aus dem Lesen den richtigen Eindruck gewinnen.

Mit den Möglichkeiten des Kausalkörpers wird es noch leichter, die Chronik zu lesen. Tatsächlich scheint es, dass zum fehlerfreien Lesen (soweit das auf der Mentalebene möglich ist) das Ego vollständig erwacht sein muss, so dass es von der atomaren Materie der Mentalebene Gebrauch machen kann.

Es ist eine bekannte Tatsache, dass, wenn mehrere Menschen auf der physischen
Ebene einen beliebigen Vorfall beobachten, ihre Berichte davon häufig
erheblich voneinander abweichen. Dies liegt an der fehlerhaften Beobachtung,
durch die jeder oft nur die Aspekte des Vorfalls sieht, die ihn oder sie besonders
ansprechen. Dieser persönliche Faktor berührt die Eindrücke, die man auf der
Mentalebene erhält, dankenswerterweise nicht. Denn jeder Beobachter erfasst
sorgfältig die gesamte Situation, weshalb es ihm unmöglich wird, Teile davon in
einem unzutreffenden Verhältnis wahrzunehmen.

Leicht können jedoch Fehler bei der Übermittlung der erhaltenen Eindrücke auf die niederen Ebenen unterlaufen. Die Gründe dafür lassen sich grob einteilen in die, die dem Beobachter selbst zuzuschreiben sind und jene, die an der Schwierigkeit oder eher Unmöglichkeit liegen, diese Aufgabe fehlerlos auszuführen.

Nach der Natur der Sache lässt sich nur ein kleiner Bruchteil eines Erlebnisses auf
der Mentalebene über­haupt mit physischen Worten ausdrücken. Da also jeder
Ausdruck unvollständig sein muss, muss es offensichtlich eine Wahlmöglichkeit
geben, welchen Teil man aus­drücken will. Deshalb werden hellsichtige
Forschungen führender Theosophen vor ihrer Veröffentlichung ständig durch
mehr als einen weiteren Forscher überprüft und verifiziert.
 
Außer dem persönlichen Faktor gibt es jedoch auch noch die Schwierigkeiten,
die entstehen, wenn man Eindrücke von einer höheren auf eine niedrigere
Ebene bringen will. Dies wird am besten durch eine Analogie zur Malerei
verständlich. Der Maler muss versuchen, einen dreidimensionalen Gegenstand auf einer ebenen Fläche darzustellen, die natürlich nur zwei Dimensionen hat. Selbst das vollkommenste Bild ist in Wirklichkeit nahezu unendlich von einer Reproduktion des
dargestellten Motivs entfernt. Denn kaum eine Linie oder ein Winkel darauf kann je
mit dem abgebildeten Objekt übereinstimmen. Es ist schlicht der hochgeniale Versuch,
durch Linien und Farben auf einer ebenen Fläche einen Eindruck zu schaffen, der
dem ähnlich ist, den das abgebildete Motiv in der Realität auf uns machen würde.
Es kann uns nichts vermitteln, außer durch Andeutungen, die von unseren eigenen
Vorerfahrungen abhängig sind, zum Beispiel vom Donnern der See, vom Duft der
Blumen, dem Geschmack von Früchten, von der Härte oder Weichheit verschiedener
Materialien. Weitaus größer noch sind die Schwierigkeiten, vor denen ein Hellsichtiger
steht, der versuchen will, mentale Phänomene in der physischen Sprache auszudrücken;
denn ... die Mentalwelt ist fünfdimensional.

Das Aussehen der Chronik variiert bis zu einem gewissen Grad, abhängig von den Bedingungen, unter denen sie eingesehen wird. Auf der Astralebene ist die Spiegelung meist ein einfaches Bild, wenngleich die wahrgenommenen Gestalten gelegentlich mit Bewegung begabt sind. In diesem Fall ist statt eines bloßen Schnappschusses eine längere und vollkommenere Spiegelung entstanden.

Auf der Mentalebene hat die Chronik zwei höchst unterschiedliche Aspekte.
Erstens: Wenn der Beobachter nicht speziell an sie denkt, bildet die Chronik
einfach den Hintergrund des Geschehens. Unter solchen Bedingungen ist sie
tatsächlich eine bloße Reflexion der unaufhörlichen Aktivität des großen
Bewusstseins auf einer weit höheren Ebene und ähnelt stark einem Kinofilm. 
Die gespiegelten Gestalten agieren kontinuierlich, so als beobachte man Schauspieler auf einer fernen Bühne.
 
Zweitens: Richtet der geschulte Beobachter seine Aufmerksamkeit auf eine
beliebige Szene, so erscheint diese - weil dies ja die Ebene des ungehinderten
Denkens ist - unmittelbar vor ihm. Wünscht er also zum Beispiel die Landung von
Julius Cäsar in Britannien zu sehen, so wird er augenblicklich nicht bloß Betrachter
des Bildes sein, sondern tatsächlich mitten unter den Legionären am Ufer stehen,
während sich die ganze Szene um ihn herum abspielt, exakt so, wie er es gesehen hätte, wäre er im Jahre 55 v. Chr. vor Ort gewesen. Die Schauspieler sind sich seiner selbstverständlich völlig unbewusst; denn sie sind ja nur Spiegelungen, und so kann er auch den Hand­lungsablauf unter keinen Umständen verändern.
 
Aber er kann die Geschwindigkeit steuern, mit der sich das Stück vor ihm
abspielt. Er könnte sich so die Ereignisse eines Jahres in einer Stunde vorführen
lassen. Auch könnte er die Bewegungen jederzeit anhalten und sich eine
beliebige Szene so lange ansehen, wie er es wünscht. Er sieht nicht nur alles,
was er auch physisch gesehen hätte, wenn er zur Zeit der Ereignisse an
Ort und Stelle gewesen wäre, sondern er hört und versteht auch, was die
Menschen sagen, und er kennt ihre Gedanken und Motive.
 
Es gibt einen besonderen Fall, in dem sich ein Forscher sogar noch enger mit der Chronik in Einklang bringen kann. Wenn er eine Szene beobachtet, an der er in einem früheren Leben selbst beteiligt war, eröffnen sich ihm zwei Möglichkeiten: (1) Er kann sie auf die übliche Weise als bloßer Zuschauer betrachten, wenngleich (wie oben
bereits angedeutet) als ein Zuschauer, dessen Erkenntnis und Mitgefühl vollkommen
sind; oder (2) er kann sich noch einmal mit jener lange verstorbenen Persönlichkeit
identifizieren und deren Gedanken und Gefühle von damals noch einmal nacherleben.
So birgt er aus dem universalen Bewusstsein jenen Teil, mit dem er selbst verbunden
war [...]
 
Genau können die Aufzeichnungen erst nach sorgfältiger Übung gelesen
werden. Wie wir gesehen haben, ist für ein zuverlässiges Lesen mentales Sehen
erforderlich. Um Fehlerquellen auszuschließen, sollte der Forschende das mentale Sehen sogar bei vollem Bewusstsein im physischen Körper perfekt beherrschen; und dazu sind jahrelange Übung und strenge Selbstdisziplin unerlässlich. Mehr noch, da die wahre Chronik sich auf einer Ebene befindet,die heute noch weit über unseren Horizont hinaus geht, erfordert ihr vollkommenes Verständnis Fähigkeiten weit höherer Art, als sie die Menschheit bis jetzt entwickelt hat. Deshalb muss unsere heutige Sicht
des Themas zwangsläufig unvollkommen sein, weil wir es von unten statt von oben
betrachten.
 
Die Âkâsha-Chronik ist nicht zu verwechseln mit von Menschen erzeugten Gedankenformen, die in Überfülle auf der Mental- wie auf der Astralebene existieren. [Bekanntlich] ... existiert jedes große historische Ereignis, an das eine große Anzahl von Menschen immer wieder denkt und das sie sich lebendig ausmalt, als klare Gedankenform auf der Mentalebene. Dasselbe gilt für Figuren aus Theaterstücken, Romanen etc. Derlei Gedankenprodukte (oft, darauf seihingewiesen, Produkte
eines unwissenden oder unzutreffenden Denkens) sind wesentlich leichter erkennbar
als die Âkâsha-Chronik; denn das Lesen der Chronik braucht, wie bereits gesagt,
Übung, wohingegen das Erkennen von Gedankenformen nichts weiter erfordert als
einen kurzen Einblick in die Mentalebene. Deshalb entstammen viele Visionen von
Heiligen, Sehern usw. nicht der echten Chronik, sondern sind vielmehr bloße
Gedankenformen.
 
Eine Methode, die Chronik zu lesen, besteht in der Psychometrie. Anscheinend gibt es eine Art magnetischer Verbindung oder Affinität zwischen jedem Partikel der Materie und der Chronik, die seine Geschichte enthält. Jedes Partikel trägt in sich dauerhaft den Eindruck von allem, was sich in seiner Umgebung abgespielt hat. Diese Affinität bewirkt, dass es als eine Art Leiter
zwischen der Chronik und den Fähigkeiten derer fungieren kann, die sie zu lesen vermögen.
 
Der unausgebildete Hellsichtige kann die Chronik gewöhnlich nicht ohne eine
physische Verbindung lesen, die ihn in Rapport mit dem gefragten Thema bringt.
Eine solche Methode praktizierter Hellsichtigkeit ist die Psychometrie.

Wenn man deshalb einem Psychometer ein Stückchen Stein gibt, das, sagen wir, zu Stonehenge gehört, kann er die Ruinen und die sie umgebende Landschaft erkennen und beschreiben. Außerdem wird er wahrscheinlich das eine oder andere Ereignis sehen können, mit dem Stonehenge verbunden war, etwa eine Druiden-Zeremonie.

Es ist sehr gut möglich, dass das gewöhnliche Gedächtnis nur eine andere Ausdrucksform desselben Prinzips ist. Die Szenen, an denen wir im Laufe unseres Lebens teilnehmen, scheinen auf die Gehirnzellen so einzuwirken, dass zwischen diesen Zellen und jenem Teil der Chronik, mit dem wir zu tun haben, eine Verbindung entsteht, und auf diese Weise „erinnern" wir, was wir gesehen haben [...]
Die Chronik, oft als „Gedächtnis der Natur" bezeichnet, ist auf der Buddhi-Ebene viel mehr als ein Gedächtnis im üblichen Wortsinn. Auf dieser Ebene stellen Zeit und Raum keine Begrenzungen mehr dar. Der Beobachter muss sich nicht mehr eine Serie von Ereignissen in der Rückschau betrachten; denn Vergangenheit und Gegenwart sowie auch die Zukunft liegen alle miteinander zeitgleich vor ihm. Er befindet sich im so genannten „Ewigen Jetzt" - so sinnlos ein solcher Begriff auf der physischen Ebene auch klingen mag [...]
 
 
13 Anspielung auf frühere Kapitel des Buches.

 
Arthur E. Powell, Der Mentalkörper,
Aquamarin Verlag, Grafing 2003, S. 292 ff.
 


Autor: Arthur E. Powell