Die Kunst der Selbstbeherrschung

Erhard Bäzner

Das Ideal des theosophisch Strebenden ist, Herr über sich selbst zu werden und im inneren Leben fortzuschreiten, um ein fähiges Werkzeug im Dienste der Menschheitsentwicklung, ein Helfer und Mitarbeiter der "älteren Brüder", der Meister der Liebe und Weis­heit zu werden. Seines Daseins Zweck gipfelt in dem Entschluß, seinen leidenden Mitbrüdern den Weg zur wahren Freiheit, zum Lichte, zur Erlösung zu zeigen. Wie aber kann er sie in den Nöten des Daseins aufrichten, wie sie erlösen helfen und sich selbst von allen Hemmnissen der Natur befreien? Ein Apostelwort gibt uns Antwort darauf: "Wenn du dich erlösen willst, so suche dich selbst aufzurichten, um andere zu erlösen. Nur wer sich selbst stark gemacht hat, kann seinen Bruder erlösen, und in seinem Bruder erlöst sich ein jeder von uns allen!"
 
"Nur, wer sich selbst stark gemacht hat", wessen innerstes Wesen und Bestreben, Herr seines Selbst zu werden, zur Tat gereift ist, wer durch Geduld und Ausdauer und eine reine Lebensführung, durch Beherrschung aller Triebe und Leidenschaften in sich selbst eine Burg der Reinheit und Liebe errichtete, die allen anstürmenden Feinden des Lichtes Trotz bieten kann, der vermag in Wahrheit ein Förderer der Entwicklung, ein Erlöser seiner Brüder zu werden. Wer auf dem Felde erfahrungsreicher Erdenleben den Sieg über seine eigene Natur errungen hat, übt geistiges Heldentum; denn in dem Maße, als er sich selbst bezwingt, wird er Herr über alle gleichartigen Kräfte im Kosmos. Er ist Held und Künstler zugleich, er übt die wahre, hohe, himmlische Kunst, die Lebenskunst; denn er tritt aus der festen Burg und dem Heiligtume seines Inneren heraus in den Alltag, versucht die Mißtöne des Erdenlebens in Wohlklang aufzulösen, die innere Welt mit der äußeren zu einer harmonischen Einheit zusammenzufassen, Bruder, Helfer und Erlöser aller Leidenden zu sein.
 
Der Lebenskünstler versucht das reinste, tiefste, erhabenste Leben in sich zu gestalten, in sich den Christusmenschen, unser aller Vorbild, zu verwirklichen. Seine Kunst schafft ein Werk aus einer ewigen Welt, vor dessen leuchtender Schönheit alles Vergäng­liche und Persönliche verweht wie Rauch und Staub. Seine Kunst ist wahrstes, innerlichstes Leben, sie ist eine Offenbarung der Ewigkeit.
 
Es gibt aber keine Lebenskunst ohne die Betätigung der Liebe. Die ganze Welt ist ein einziges Kunstwerk des göttlichen Meisters, dessen die Weisheit, Liebe und Allmacht ist. Und auch die Mensch­heit ist nichts anderes als die Kunstschöpfung des "Einen" großen Meisters. Alle Reiche spiegeln seine Herrlichkeit wider. Und wenn unser Leben eine Offenbarung "Seiner" Größe und Schönheit ist, dann muß es ebenfalls groß, schön und lichtvoll sein, wenn es mit "Ihm" in Einklang gebracht wird. Darum ist es notwendig, daß wir wahr gegen unsere Mitmenschen sind und die Kraft der Liebe in uns und an unseren Mitbrüdern betätigen, auf daß sie zur All-Liebe werde, die alle Wesen umschließt. In Liebe sollen und wollen wir uns dem Dienste der Meister weihen. Dann werden wir zur Flamme im Lichte des ewigen Lichtes und vermögen belebende Wärme zu spenden, die immer neues, schöneres Leben schafft. Wir selbst werden immer reicher, in reiner, strahlender Liebe.
 
Alle Großen, Erleuchteten und Weisen haben in der Kunst der Selbstbeherrschung, verbunden mit dienender Liebe, ihre wahre Menschlichkeit, ihre geistige Höhe erreicht. Für uns sind sie darum ein leuchtendes Beispiel, ein lebendiges Vorbild. Wir wollen uns gegenseitig in Liebe ermutigen und stärken auf dem steilen Pfade, der uns zu ihren Höhen hinaufführt, die uns die Aussicht auf die Ewigkeit eröffnen. Dort werden wir uns ganz von selbst, in be­wußter, freudiger Hingabe die Hand zum Bunde reichen, unsere Einheit erkennend, die heilige Macht der Liebe erleben. Hier im Bunde der dienenden Brüder umschließt uns das Band geistiger Liebe, hier einen sich Vergangenheit und Zukunft; — um uns die Welt reinster Schönheit, in uns Gott voller Herrlichkeit und Seligkeit, sind wir mit Schöpfer und Schöpfung in Ewigkeit verbunden und feiern in nimmer sich lösender Brudervereinigung den Sieg des Geistes und den Triumph göttlicher Liebe.
 
Weisheit, Liebe und Stärke sind die wesentlichsten Eigenschaften und zugleich die einzigen Werkzeuge für den theosophisch Strebenden in der Kunst der Selbstbeherrschung, mit denen er den Tempel des ewigen Lebens errichtet, der die Offenbarung der ewigen Schönheit ist. Dieser wird fortbestehen, solange Weisheit, Liebe und Stärke die erhabensten Eigenschaften des Schülers in der Kunst der Selbstbeherrschung bleiben. Weisheit ist die Frucht der Allwissenheit, Liebe ein Strahl der All-Liebe, und Stärke ist der Widerstrahl der Allmacht; vereinigt erheben sie den Menschen zum Ebenbilde Gottes.
 
Schon seit langen Zeiten bemühen wir uns um die Gestaltung des großen Kunstwerkes einer reinen Seele und eines klaren, erken­nenden Geistes. Dem Wahren, Guten und Schönen mit ganzer Seele und aller Kraft unseres Wesens uns hinzugeben, war und ist unsere Sehnsucht. Wir suchten die innere Schönheit, aller Kräfte Erlöserin. Erfahrungen mannigfacher Art waren uns beschieden. Leid und Freude wechselten miteinander ab, bis wir den Kreis der Gleich­strebenden fanden, der uns den Weg zeigte, uns selbst zu finden und erkennen zu lernen, der uns den Weg zur Lebenskunst wies, zur Quelle aller Glückseligkeit. Da kam die Wende unseres Lebens — und neue Aufgaben standen vor uns.
 
Mit unserem Eintritte in die "Theosophische Gesellschaft" wollten wir die Kraft der Liebe und Bruderschaft stärken. Sie soll und will uns ein Licht- und Friedenshort sein, auf daß jeder einzelne ein Kanal der göttlichen Kraft und Liebe werde, durch den das göttliche Licht und Leben sich widerstandslos in die Menschheit ergießen kann — hinaus in alle Welt, die da noch leidet, damit alle zum Frieden, zur Freiheit und Glückseligkeit gelangen können. Welch ein großer, unermeßlicher Segen kann damit der Menschheit zuteil werden! Welch hohe Aufgabe hat die "Theosophische Gesell­schaft" zu erfüllen!
 
So wollen wir unablässig danach streben, uns selbst zu besiegen, täglich Herr über uns selbst zu werden und in der Ausübung des Guten fortzuschreiten, um zu einem wahren, schönen, reinen, freien Leben zu gelangen. Die Kunst der Selbstbeherrschung be­freit, sie führt uns zur Weisheit, sie lehrt uns mit dem erhabenen Sein und dem heiligen, göttlichen Leben eins zu werden. Sie öffnet uns Tore zum unvergänglichen Reiche des Friedens, der Liebe; sie schenkt uns die Krone des ewigen Lebens und mit ihr die höchsten Güter: Freiheit, Unsterblichkeit und Glückseligkeit.
 
Die Kunst der Selbstbeherrschung ist die Selbsterkenntnis und aller Künste letztes Ziel. Sie ist die höchste Lebendigkeit und zu­gleich ein Leben vollkommener Ruhe und erhabenster Weihe, sie ist des Lebens Krönung.
 
Wir wollen uns in dieser Kunst üben, damit wir dem göttlichen Leben entgegenreifen. Denn "Reif-Sein" ist alles! Und weil es so ist, wollen wir alles, was wir haben, und uns selbst an das "Eine" göttliche Leben hingeben. In ihm gelangen wir zur wahren und höchsten Kunst! Dann vermögen wir erhobenen Hauptes in vollem Bewußtsein unserer Menschenwürde und der allumfassenden Ver­antwortung als Träger des Lichtes und der Liebe durch alle Welten und Sphären zu gehen. Wir sind glücklich, vielen helfen und Licht und Kraft zu ihres Wesens Vollendung geben zu können.
 
So werden wir uns selbst zu immer höheren Lebenskreisen erheben und in das Wesen ewiger Schönheit eingehen, vermöge der hohen Kunst der Selbstbeherrschung.
 


Autor: Erhard Bäzner