Die Philosophie der Bhagavad Gita
T. Subba Row
"Bhagavad Gita" ist der Titel eines religionsphilosophischen Lehrgedichts, das als Episode in das 6. Buch des indischen Epos ,Mahabharata" verflochten ist. Zwei feindliche Heere stehen gerüstet in Schlachtordnung sich gegenüber. Sie stehen symbolisch für den Kampf zwischen den höheren Prinzipien und den Leidenschaften, der noch heute in jedem Menschen stattfindet.Bedeutung und philosophischer Gehalt der Bhagavad Gita werden in den Worten des indischen theosophischen Gelehrten T. Subba Row deutlich4, die wir im folgenden auszugsweise abdrucken (vgl auch die Einführung Franz Hartmanns in Theosophie heute 1997, Heft 1; Red.)
Wenn wir die Bhagavad Gita kennenlernen wollen, so dürfen wir sie nicht als ein von dem übrigen Teile des Mahabharatagetrennt stehendes Buch behandeln. Es wurde von Vyasa (einer der Verkörperungen Vischnus) am richtigen Platze und mit Bezugnahme auf Dinge, die in jener beschrieben sind, eingefügt. Wir müssen vor allem die Stellung, welche Arjuna und Krischna einnehmen, begreifen lernen, ehe wir den Wert der Lehren des letzteren zu erfassen imstande sein können. Arjuna ist mit verschiedenen anderen Namen bezeichnet, und die Bedeutung derselben ist von ihm selbst in der Virataparva erklärt. Ein Name jedoch ist dort nicht erwähnt, nämlich „Nara", d. h. „Mensch".
Es erscheint auf den ersten Anblick sonderbar, dass eine spezielle Person diesen Namen als Eigennamen führen sollte; aber es liegt in diesem Umstand der Schlüssel, nicht allein zum Verständnis der Stellung der Bhagavad Gita im Text des Mahabharata, und deren Beziehung zu Arjuna und Krischna, sondern auch zu den dem ganzen Mahabharatazu Grunde liegenden Ideen, und bezeichnet die Anschauung Vyasas in Bezug auf den Ursprung, die Versuchungen und die Bestimmung des Menschen. Vyasastellte Arjuna als den Menschen, oder, um es richtiger auszudrücken, als die wahre Monade im Menschen (den inneren Menschen, die Seele), und Krischna dar als den Logos (den Geist, die Kraft), welcher kommt, um den Menschen zu erlösen. Es mag auf den ersten Anblick sonderbar erscheinen, dass das Gespräch zwischen Arjuna und Krischna zu so einer ungelegenen Zeit, nämlich gerade am Anfange der Schlacht stattfinden soll; aber wenn man erst den Sinn des Mahabharata begreift, so wird man einsehen, dass dies der geeignetste Zeitpunkt war.
Im geschichtlichen Sinne bedeutet diese Schlacht einen Kampf zwischen zwei Stämmen; philosophisch betrachtet dagegen ist es der große Kampf, den der Menschengeist gegen die Leidenschaften im physischen Körper zu kämpfen hat. Da ist der „Hüter der Schwelle", der dem Neophyten entgegentritt, und der besiegt werden muss. Dieser Hüter der Schwelle ist das Gespenst, aus Furcht und Verzweiflung gebildet, wenn der Schüler, der ins Heiligtum eintreten will, alle seine Neigungen für alles, was ihm bisher auf Erden lieb war, verlassen soll. Wenn er alles aufgegeben hat, und das Höhere noch nicht in sein Bewusstsein getreten ist, so fühlt er sich allein; getrennt von seinen Freunden erscheint ihm das Leben selbst in nichts zu verschwinden; er glaubt alle Hoffnung verloren zu haben und sein Dasein erscheint ihm ohne Zweck, [...] Wenn er aber gegen diese Furcht siegreich ankämpft, so ist er auch fähig zum Vorwärtsschreiten.
Dies war der innere Zustand von Arjuna in diesem Zeitpunkt. Für ihn handelte es sich darum, einen Vernichtungskrieg gegen Feinde, die von seinen eigenen nächsten Blutsverwandten befehligt waren, zu beginnen, und es ist begreiflich, dass er vor dem Gedanken zurückschreckte, seine nächsten Verwandten und Freunde zu töten.
Desgleichen sind wir alle berufen, einen solchen Vertilgungskrieg gegen unsere Neigungen und Leidenschaften zu unternehmen. Diese Neigungen sind nicht immer an und für sich böse, aber ihre Einflüsse müssen überwältigt werden, ehe wir uns zu etwas Höherem dauernd erheben können. Arjuna repräsentiert den Schüler (Chela), welcher dem Hüter der Schwelle entgegentritt. Wie der Guru (Meister) den Chela unterrichtet, um ihn gegen die Versuchungen, welche sich ihm bei der Initiation entgegenstellen, zu stärken, so unterrichtet Krischna seinen Schüler Arjuna am Beginn der Schlacht. Die Bhagavad Gita ist demnach ein Gespräch zwischen einem Meister und seinem Schüler, allen irdischen Wünschen und Hoffnungen zu entsagen, der aber trauert, weil ihm sein Dasein nun nichtig und freudenlos erscheint. Das Buch enthält achtzehn Kapitel, die unter sich innig verbunden sind; jedes derselben beschreibt eine gewisse Phase des menschlichen Lebens.
Was die Moral der Bhagavad Gita betrifft, so behaupten manche, dass, wenn jedermann die darin enthaltenen Lehren befolgen würde, aller gesellschaftliche Fortschritt aufhören würde. Dies beruht auf einem Missverständnis. Es ist wahr, dass die Mehrzahl der Menschen nicht in der Lage ist, ihren Bürger- und Familienpflichten zu entsagen; aber Krischna sagt ausdrücklich, dass die Ausübung dieser Pflichten wohl vereinbar sei mit einer Entsagung im Geiste (im Willen), welche viel wirksamer ist als eine bloß äußerliche Trennung von der Welt; denn wenn auch der Körper des Einsiedlers in der Wildnis lebt, können dennoch sein Herz und seine Gedanken in der Welt sein; andererseits kann man in der Welt leben, ohne ihr anzugehören. Krischna lehrt, dass die geistige Enthaltsamkeit wichtiger als die körperliche ist. Wer Pflichten zu erfüllen hat, muss sein Denken darauf richten: aber es ist eine Sache, etwas aus Pflichtgefühl zu tun, und ein anderes, dasselbe zum Vergnügen oder Eigennutz zu betreiben. Es ist deshalb wohl denkbar, dass ein Mensch seinen äußerlichen Pflichten nachkommen mag und dennoch geistige Fortschritte macht. Keine Religion lehrt, dass die Menschen Sklaven ihrer Neigungen sein sollen; manche lehren sogar die Notwendigkeit der (äußerlichen) Enthaltsamkeit. Was man den Hindus und Buddhisten am meisten vorgeworfen hat, ist, dass ihre Religion die Menschen, welche sich ihr ergeben, für das gewöhnliche Leben untauglich mache. Diese Ansicht beruht auf einem Missverständnis, denn diese Religionen lehren, dass nicht die äußere Handlung, sondern der Beweggrund, aus welchem dieselbe hervorgeht, in erster Linie von Wichtigkeit ist. Diese Moral ist in allen Teilen der Bhagavad Gita zu finden. Es ist darin die Geschichte des Ursprungs und die Bestimmung des Menschengeistes beschrieben, und die Weise, wie der Mensch Erlösung erlangen kann durch die Hilfe und Erleuchtung, welche er durch das Wort (Logos) erhält. [...]
Krischna zerstreut die Zweifel Arjunas, indem er ihn zu einer höheren Anschauung der (göttlichen) Kraft, welche in ihm und durch ihn wirkt, verhilft, wenn er auch gleich zeitweilig sich als ein individuelles Wesen offenbart. Er treibt Arjuna zum Kampfe an, indem er ihm das wahre Wesen des „Ichs" erklärt, dass derjenige im Irrtum sei, der glaubt, dass er (der persönliche eigene Wille) dies oder jenes tue. [...] Wer einmal einsieht, dass sein sogenanntes „Ich" ein Schein, eine Täuschung ist, entstanden infolge der Nichterkenntnis der Wahrheit, der hat bereits das Schwierigste überwunden. Krischna beweist dann das Dasein einer höheren Individualität (im Menschen), von welcher zuvor Arjuna nichts wusste, und er lehrt, dass diese Individualität mit dem Logos verbunden ist. Er bezeichnet das Wesen des Logos und beschreibt ihn als Parabrahm.
Dies ist im Allgemeinen der Inhalt der ersten zwölf Kapitel der Bhagavad Gita. In den darauf folgenden gibt Krischna noch weitere Lehren, um ihn in seinem Glauben zu befestigen, und erklärt ihm die Eigenschaften, welche der Natur (Prakriti) und dem Geiste (Puruscha) innewohnen, durch welche alle Wesen ins Dasein gerufen wurden. [...]
4 Die Philosophie der Bhagavad Gita, Drei Vorträge von T. Subba Row, Schatzkammer-Verlag, Calw
Autor: T. Subba Row