DIE WIEDERVERKÖRPERUNG ODER REINKARNATION
Im vorherigen Kapitel wurde die dreifältige Struktur des menschlichen Wesens als Geist, Seele (Psyche) und Leib beschrieben. Nach der darin gelegten Auffassung ist jeder Mensch im Innersten ein göttlicher Geistesfunken. Das Bewusstsein des irdischen Menschen erwacht aber zuerst im Physischen in seinem Gehirn und ist in diesem eingeschlossen. Allmählich erst tauchen die psychischen Berieche aus dem Unbewussten in das Bewusste empor, und der Mensch baut ein eigentliches Ichbewusstsein auf, die Persönlichkeit. Erst wenn der psychische Bereich weitgehend integriert ist, können die Tore nach innen bewusst geöffnet werden und vermag der Geist in die Psyche einzutreten - das Ich wird zum Selbst, die Persönlichkeit zur geistigen Individualität, deren kosmisches Bewusstsein dann in allen Schichten des menschlichen Wesens zu wirken vermag.
Wird dieser Entwicklungsweg als Aufgabe des Menschen anerkannt, dann ergibt sich daraus als notwendige Folge von selbst die Annahme wiederholter Erdenleben, denn kein Mensch kann diesen ganzen Weg in einer einzigen Inkarnation bewältigen. Die Menschheit als Ganzes hat für diese Entwicklung aus dem Tierhaft-Unbewussten zur bewussten Persönlichkeit Jahrmillionen benötigt. Wir alle sind diesen Weg mit ihr mitgegangen, einen Weg, den in der einzelnen Inkarnation auch heute noch jedes Kind in geraffter Zeit wiederholen muss.
Es ist Jahrmillionen her, seit der menschliche Geist, mitgetragen von den schöpferischen Kräften, die unser Gestirnsystem aufgebaut und beseelt haben, „Röcke aus Fell“ (Genesis 3, 21) anlegte und sich in Leibern aus Fleisch und Blut verkörperte. Hunderte, ja vielleicht Tausende von Leben hat jeder Mensch inzwischen durchgemacht. Nach jeder Inkarnation folgte eine Ruhepause, die der subjektiven Verarbeitung, einer Art geistiger Verdauung der Erfahrungen des letzten Erdenlebens, diente. Sie konnte wenige Jahre oder auch Jahrtausende währen, je nach den individuellen Bedürfnissen. Danach aber wurde der Mensch wieder vom Hunger nach neuen Erfahrungen in die dichteren Sphären gezogen.
Die Vorstellung, dass der menschliche Geist zu wiederholten malen auf der Erde inkarniert, ist daher schon ein sehr alter Glaube der Menschheit. Er findet sich nicht nur im Osten bei den Hindus und Buddhisten; in der Antike lehrte Pythagoras die Wiedergeburt, und sogar Kirchenväter, wie z.B. Origenes, bekannten sich dazu. Die christliche Kirche verdammte diese Lehre zwar im 3. Jahrhundert, da sie im Widerspruch mit der Doktrin von der einmaligen Versöhnung und Erlösung durch Jesus Christus stand, sie verschwand aber nie ganz aus unserem Kulturbereich. In neuerer Zeit bekannten sich Lessing, Jean Paul und Richard Wagner zu diesem Glauben, Goethe schwankte zwischen Zustimmung und Ablehnung.
In den letzten Jahrzehnten hat sich auch die wissenschaftliche Forschung diesem Gebiet zuzuwenden begonnen, und verschiedene Fälle von Rückerinnerungen wurden untersucht.
Was sagt kurz die Wiederverkörperungslehre?
Der menschliche Geist wird, wie schon erwähnt, nach der im Tode folgenden Ruhepause wieder von den dichten Sphären angezogen. Die in den vergangenen Leben gesetzten Ursachen - sein Karma - führen ihn in ein bestimmtes Volk und Land und zu einem bestimmten Elternpaar, dessen Erbgut ihm jene Anlagen vermitteln kann, deren er bedarf. Sein vergangenes Karma setzt hierbei bestimmte Grenzen, es bestimmt auch das Geschlecht des neuen Körpers.
Entsprechend diesen aus der vergangenen Inkarnation fortwirkenden Kräften, die im Buddhismus Skandhas genannt werden, baut sich der Geist eine neue Psyche auf, die ihm als Verbindungsglied zu neuen Körper dienen kann. Erst wenn die psychische Entwicklung einen bestimmten Grad erreicht hat, ist der Mensch wieder voll inkarniert.
Neben den inneren sind auch die äußeren Umstände des Lebens durch die vergangenen Ursachen bestimmt. Menschen, denen er geistig, seelisch oder physisch etwas schuldet, und Menschen, die ihm dergleichen schulden, werden in seinen Lebenskreis geführt bzw. er in den ihren. Ernstes Streben auf bestimmten Gebieten bewirkt nicht nur die Geburt mit der Anlage zu den im vergangenen leben erworbenen Fähigkeiten, sondern führt auch zu Gelegenheiten für ihre weitere Entfaltung. Vernachlässigung von Anlagen und Nichtausnützung von Gelegenheiten führen zum Fehlen von solchen im folgenden Leben.
Jedes folgende leben ist so einerseits das Ergebnis der in den vorhergehenden leben gesetzten Ursachen, gleichzeitig aber bietet es die für den weiteren Fortschritt des Menschen bestmöglichen Verhältnisse - diese können unter Umständen gerade in sehr harten Bedingungen liegen. Nicht zu Unrecht werden die einzelnen Leben daher oft mit Schulklassen verglichen.
Jedes Leben ist nämlich nicht nur von den vergangenen durch die Persönlichkeit gesetzten Ursachen bestimmt, sondern hat auch ein bestimmtes Ziel, eine Aufgabe, die in der indischen Philosophie das Dharma des Menschen genannt wird. Das rührt daher, dass für den Menschen nicht nur die in den dichteren Sphären durch Gedanken, Gefühle oder Handlungen gesetzten Ursachen bestimmend sind, sondern vor allem auch die in ihm wirkende überpersönliche Entwicklungstriebkraft, der geistige Strahl aus dem kosmischen Urgrund, der ihn in die Verkörperung hinausgetragen hat und weiterträgt.
Wenn man einen Vergleich anwenden will, so entspricht das Geschehen durch die persönlichen karmischen Ursachen und Wirkungen der Rotation der Erde um ihr Achse, die Bewegung durch die geistige Entwicklungstriebkraft aber ihrem Umlauf um die Sonne: Wenn ein Punkt der Erdoberfläche nach einer Umdrehung in der Rotation wieder in die gleiche Himmelsrichtung gelangt ist, ist die ganze Erde mit ihm bereits um ein Vielfaches des Rotationsumfanges auf der Umlaufbahn um die Sonne weitergeeilt. Ähnlich ist es, wenn das Karma eines Menschen sich erfüllt, dieser, von seinen inneren Kräften getragen, bereits um ein großes Stück auf seinem Pilgerweg weiter ist, als er damals war, als er die karmischen Ursachen setzte.
Es folgt Kap. 5: „Das Gesetz der Kausalität“
Autor: Norbert Lauppert