DIE ROLLE DER WISSENSCHAFT

Die Entwicklung der exakten wissenschaftlichen Forschung ist eine Leistung des wesentlich menschlichen Bewusstseinsaspektes, der den Menschen über das Animalische hinausgehoben hat - seines Denkprinzips (Manas).
 
Während in Indien das Denkprinzip vom Menschen vorwiegend auf die Erforschung seines Inneren eingesetzt wurde, richtete der abendländische Mensch sein Erkenntnisstreben in den letzten Jahrhunderten vorwiegend auf die Erforschung der Gesetze der äußeren Natur. In der Gegenwart reicht er mit seiner Forschungstätigkeit aber bereits mehr und mehr über diese hinaus.
 
Durch die Erforschung der äußeren Naturgesetze gelang es dem Menschen, Schritt um Schritt Aberglauben und Furcht zurückzudrängen. Allmählich hat die Erforschung der äußeren Natur dann die Forscher zur Erkenntnis der im Inneren der Bausteine des Universums wirkenden Kräfte geführt. Gegenwärtig ist die wissenschaftliche Forschung im Begriff, in der Tiefenpsychologie auch die menschliche Psyche zu durchleuchten und in der Parapsychologie auch die Fähigkeiten der außersinnlichen Wahrnehmung (Hellsehen und dergleichen) in ihre Methoden einzubeziehen.
 
Mit der fortschreitenden Aufdeckung der inneren Zusammenhänge des Lebens kann die Wissenschaft allmählich auch die Religion bei der Entwicklung der Moralgesetze ablösen. Moralgesetze ergeben sich in logischer Folgerung aus der Erkenntnis der Zusammengehörigkeit der Menschheit und aus dem Wissen um das Karma-Gesetz. Bei entsprechendem Fortschreiten kann der Wissenschaft der Nachweis der Selbstschädigung durch Egoismus gelingen. (Anm. des Autors: Ein Vorläufer dieser wissenschaftlichen Moral ist die Ethik des Buddhismus. Anders als nahezu alle anderen Religionen begründet der Buddhismus seine Ethik nicht mit den Geboten irgendeines höheren Wesens, sondern ausschließlich aus der Ursachenverkettung des Lebens.)
 
Einer der neuesten Zweige der Wissenschaft ist die Friedensforschung. Religiöser und politischer Fanatismus, eine der Hauptursachen von kriegen, ist eine emotionelle Angelegenheit. Die Wissenschaft vermag seine Schädlichkeit nachzuweisen. Sie vermag aber auch Spannungsquellen anderer, vor allem wirtschaftlicher Art nachzuweisen und zu zeigen, dass Voraussetzungen für den Frieden ihre Beseitigung durch Gerechtigkeit ist (Anm. des Autors: Die Erkenntnis, dass für die Herbeiführung eines dauernden Friedens eine gerechtere Ordnung Voraussetzung ist, und zwar sowohl soziale Gerechtigkeit innerhalb der Völker als auch ein gerechterer wirtschaftlicher Ausgleich sowohl innerhalb als auch zwischen den Völkern, hat heute bestimmte Kreise erfasst.)
 
Man kann einwenden, dass die Erkenntniskraft an sich amoralisch ist. Das ist richtig. Aber durch die sich ergebenden Folgerungen aus dem Erkannten können die eigentlichen Moralgesetze erschlossen werden. Bloße Liebe vermag dies nicht - sie ist oft einseitig, parteiisch und von äußeren umständen beinflussbar. Liebe im höheren Sinne setzt ein Erkannthaben des Einenden voraus.
 
Der geistig Strebende wird daher die Wissenschaft als Hauptverbündete im Ringen nach Höherem begrüßen und alle einwandfrei festgestellten Erkenntnisse annehmen.
 
Die Wissenschaft kann allerdings auch Irrwege gehen, insbesondere, solange sie Naturgesetze nur teilweise entdeckt hat und bloße Theorien vorzeitig als Tatsachen betrachtet. Auch kommt es vor, dass die Wissenschaft in den Dienst von Emotionen (und/oder kommerziellen Interessen die Red.) gestellt wird. Hier heißt es, wachsam zu prüfen. Das setzt allerdings voraus, dass der einzelne das höhere Denken (Buddhi-Manas) bis zu einem gewissen Grad entwickelt, den Verstandesaspekt der Psyche vom Geist aus erleuchtet hat.
 
Die unbeschränkte Anwendung der Vivisektion in der medizinischen Forschung z.B. geht auf eine solche mangelhafte Erkenntnis der Naturgesetze zurück. Es wurde wohl der unmittelbare Erfolg gesehen, der in vielen Fällen durch die Erprobung von chirurgischen Eingriffen, medikamentöser Behandlung und dergleichen an Tieren für den Menschen erzielt werden konnte. Es wurde aber einerseits übersehen, dass diese Erprobung nicht immer zum Ziel führen kann, da in der Reaktion eines Tieres und eines Menschen beträchtliche Unterschiede bestehen, vor allem aber wurde nicht bedacht, dass die Einheit des Lebens Menschen und Tiere umfasst und dass sich das bewusst Zufügen von Qualen gegenüber Tieren karmisch am Menschen durch das Entstehen neuer Krankheiten auswirken muss.
 
Ein weiteres Beispiel mangelhafter Erkenntnisse durch die Wissenschaft war die während des letzten Jahrhunderts erfolgte schrankenlose Ausbeutung der Natur, Vernichtung vieler Tiergattungen und bedenkenlose Störung des Gleichgewichtes im Naturhaushalt durch die Verschmutzung von Wasser und Luft.
 
Erinnert werden muss auch an eine wesentliche Grenze, die der wissenschaftlichen Erkenntnis gesetzt ist: Der letzte Urgrund des Daseins kann durch Denken nicht erkannt werden. Das Denken gleicht einem Scheinwerfer - man kann mit ihm die ganze Welt ableuchten, nur auf seine eigene Lichtquelle kann er nicht gerichtet werden. Diese kann nur durch meditative Verinnerlichung erlebt werden, wobei aber sowohl wissenschaftliche Erkenntnisse als auch religiöse oder künstlerische Symbole von Hilfe sein können.
 
Es folgt Kap. 10: „Die schöpferische Hilfe der Kunst“
Quelle: Nobert Lauppert, Pilgerfahrt des Geistes, Graz 1972; Kap.9
Das Büchlein ist - wenn überhaupt - nur noch antiquarisch zu erhalten.


Autor: Norbert Lauppert