Die Schöpfung aus Nichts

Dr. Franz Hartmann

Es ist ein Ding, Bücher, welche über geistige Dinge handeln, flüchtig zu lesen, und ein anderes Ding, den Inhalt derselben zu verstehen. In unserer anspruchsvollen Zeit, wo man alles auf einmal erhaschen will, scheint der Augenblick zu kostbar, um etwas genauer zu untersuchen. Man will deshalb nur alles oberflächlich betrachten, und daher beurteilt man auch religiöse Dinge oberflächlich und falsch. Die Bibel lehrt, Gott habe die Welt aus Nichts erschaffen, und die Wissenschaft hat einen großen Sprung nach vor­wärts getan, als sie den Aberglauben eines Erschaffens aus Nichts an den Pranger stellte und nachwies, dass aus Nichts nichts entstehen könne, und dass alles in der Natur nach dem Gesetze der Evolution vor sich geht. Leider hat man dabei übersehen, dass auch das Gesetz der Evolution nicht Hohes aus Niedrigem hervorbringen kann, sondern dass dieses Höhere, das sich entwickeln soll, vorhanden sein muss, ehe es sich entwickeln kann. Die Annahme, dass etwas Höheres sich aus etwas Niederem entwickeln könne, ohne dass dieses Höhere bereits im Keime vorhanden sei, käme in der Tat dem Glauben an ein Erschaffen aus Nichts gleich. Eine Million vernunftloser Menschen könnten niemals eine Vernunft evolutionieren; ist aber in einem Menschen Vernunft vorhanden, so kann sich dieselbe in ihm offenbaren. Sie entwickelt sich auch nicht, sie ist bereits in sich selber vollkommen. Wohl aber kann sich die Form so verbessern, dass sie in ihr zu immer höherer Offenbarung gelangt. Auch das Leben erzeugt sich nirgends; es ist bereits in sich selbst das, was es ist und stets war; wohl aber kann sich die Tätigkeit des Lebens in einem Organismus entfalten, der hierzu tauglich ist. Durch den Tod hört nicht das Leben, sondern nur dessen Offenbarung im Körper auf. Die Uhr steht still, wenn das Räderwerk außer Ordnung ist; kommt es wie­der in Ordnung, so wird dadurch keine neue Kraft erschaffen, sondern die bereits vorhandene Kraft setzt von neuem das Räderwerk in Bewegung.
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Die Bibel lehrt: „Im Anfange war das Wort, und alles ist aus dem Wort erschaffen."
 
Der Anfang ist das Prinzip; das Prinzip ist das Wesen, der Sinn, und im Prinzip ist das Wort, die schaffende und organisierende Kraft, enthalten. Auch heute noch wächst alles in der Natur aus seinem Prinzip hervor. Da­durch wird die Eigenschaft des Prinzips offenbar, aber ohne diese Offenba­rung ist das Prinzip für unser Begriffsvermögen ein Nichts. Auch heute noch schöpft der Künstler, der Dichter, Erfinder und überhaupt jeder selbstden­kende Mensch seine Ideen und Gedanken aus seinem Geiste, dessen Inhalt ihm selbst hierdurch erst offenbar wird, und was er im Innern geschöpft hat, das sucht er äußerlich darzustellen, sei es durch Wort oder Bild.
 
Im Worte liegt der Sinn. Der Sinn bringt die Worte hervor und spricht sich von selber aus. Wer den Gegenstand kennt, über den er sprechen will, der bedarf keiner langen Vorbereitung.
 
„Es trägt Verstand und rechter Sinn
 
Mit wenig Kunst sich selber vor." (Faust)
 
Der Geist schafft von selbst.
 
Meister Eckhart sagt:
 
„Gott ist alles und nichts." „Er ist weder dies noch das, seine Eigenschaft ist Wesen." „Er ist die lebendige, seiende Vernunft, die sich selber ver­steht und in sich selber ist, lebt, und mit sich selber identisch ist." „Die Schöpfung ist nur eine Selbstanschauung Gottes, indem Gott sich selber anschaut, erfasst er sich als die Fülle der Ideen, der Urbilder aller Dinge. Dieses ewige Anschauen seiner selbst ist die schaffende Tätigkeit Gottes".
 
Wir brauchen, um uns von der Wahrheit des Obigen zu überzeugen, weder dem Meister Eckhart noch den Veden aufs Wort zu glauben, wir kön­nen uns von diesen Tatsachen selbst überzeugen, da, so wie Gott im Großen und Ganzen, jeder Mensch Schöpfer in seiner eigenen kleinen Welt ist.
 
Vergessen wir unser persönliches Selbst und versenken wir uns einmal in die Tiefe unseres Innern, so tritt eine Welt von Ideen in unser Dasein ein, und aus der Idee bildet sich ein Gedanke, eine Vorstellung, eine Form, welche in die innerliche objektive Erscheinung tritt, so dass wir sie in uns selbst wahr­nehmen können. Da assoziieren sich unsere Ideen und bringen neue Ge­danken hervor. Da beginnt die Evolution der Offenbarung im Innern; es entwickelt sich ein Gedanke aus dem anderen durch die Kraft des Geistes, und zuletzt wird aus einem unbedeutenden Einfall eine große Idee. Alles, was dabei unveränderlich ist, ist unser Ich; es wird weder kleiner noch größer, es sondert seine Gedanken nicht ab, sie existieren in ihm, und wir betrachten diese Erscheinungen, die wir für nichts Fremdartiges halten; wir wissen, dass sie in uns sind und durch uns ihr Traumleben haben. Alles dies hat uns niemand gelehrt, wir haben es weder von der Kanzel noch vom Katheder gehört und in keinem Buche gelesen, brauchen auch keinen Beweis davon; wir wissen es, weil es so ist, und es ist uns vollkommen gleichgültig, was ein anderer darüber urteilen mag.
 
So ungefähr können wir es uns im Makrokosmos vorstellen, und nach dem Gesetze der Analogie muss es so sein. In Gott sind die Typen der Ge­danken und Vorstellungen, welche schließlich in die äußere Welt geboren werden und den Naturgesetzen gemäß als verkörperte Erscheinungen ins Leben treten. Das Ganze ist ein Traum, den der Weltgeist träumt, und Gott ist der stille Zuschauer, der, was in ihm selber vorgeht, sieht: der weiß, dass es ist, und keinen anderen Beweis dafür braucht, als dass er sein Dasein er­kennt, und dem ist es absolut gleichgültig, was die Welt oder die Wissen­schaft (die Theologie mit eingerechnet) davon denkt, er ist doch selber alles und außer ihm nichts.
 
Dr. F. Hartmann, Die weiße und die schwarze Magie, Schatzkammer-Verlag
 


Autor: Dr. Franz Hartmann