Die Theosophie des Julius
Dr. Robert Roth
Die „Theosophie des Julius" - als Kernstück enthalten in den „Philosophischen Briefen" - ist das philosophische Bekenntnis des jungen Friedrich Schiller.Die folgende Betrachtung ist ein Auszug eines Vortrages des Verfassers. Der Schillersche Text ist durch Kursivschrift hervorgehoben. (Die Red.)
Nach bitteren Erfahrungen in Mannheim war Friedrich Schiller im Herbst 1785 in Dresden eingetroffen. Eingeladen hatte ihn der Konsistorialrat Christian Gottfried Körner, der durch den Tod seiner Eltern kurz vorher ein vermögender Mann geworden war. So konnte er neben seiner beruflichen Tätigkeit anderen, besonders musischen Neigungen nachgehen. Er wurde des Dichters treuester Freund und blieb es bis zum Tode.
Gern hätte er den Dichter für immer an Dresden gebunden, aber die innere Unruhe und das Gefühl einer noch nicht gefestigten Existenz trieben Friedrich Schiller weiter. Immerhin vollendete er in dieser Zeit die beiden letzten Akte des „Don Carlos". Der Freundschaft mit Körner errichtete er mit der „Ode an die Freude" ein unvergängliches dichterisches Denkmal.
Schließlich entstanden auch die „Philosophischen Briefe" mit dem Kernstück „Die Theosophie des Julius" in dieser Zeit, in diesem geistigen Klima. Sicher schon in den Stuttgarter Tagen gab es Aufzeichnungen dazu, nunmehr wurde die Freundschaft mit Körner zum entscheidenden Anstoß. Geplant war ein regelrechter Briefwechsel zwischen Körner als Raphael und Schiller als Julius. Doch dazu kam es fast nicht. Körner war ein Mann mit vielerlei Interessen, und ebenso vielfach waren die Möglichkeiten anderer Art, die ihn zu einer solch schriftstellerisch-philosophischen Betätigung nicht kommen ließen. So mußte der Dichter beide Rollen, den materialistischen Zweifler Raphael und den idealistischen Schwärmer Julius, übernehmen. Erst im Jahre 1789 steuerte Körner einen Brief bei, der im
7. Heft der „Thalia" erschien, während alle anderen schon 1786 im
3. Heft gedruckt vorlagen.
Bei dem Versuch „Die Theosophie des Julius" zu deuten, wollen wir sowohl „Don Carlos" als auch die Ode „An die Freude" heranziehen.
Der „Theosophie des Julius" gehen zwei Briefe des Julius an Raphael und einer des Raphael an Julius voraus. Auf den letzteren müssen wir eingehen, weil er sozusagen den unmittelbaren Anlaß für die „Theosophie" bedeutet. Julius führt in den vorhergehenden Briefen aus, wie Raphael ihm die Augen geöffnet, wie er ihm deutlich gemacht habe, daß der Abstand zwischen den Ansprüchen des Menschen und ihrer Erfüllung groß ist. Die Vernunft ist eine Fackel in einem Kerker. Der Gefangene wußte nichts von dem Lichte, aber ein Traum der Freiheit schien über ihm wie ein Blitz in der Nacht, der sie finsterer zurückläßt, heißt es wörtlich. Er sagt, er sei so glücklich gewesen, bis er anfing zu fragen, wohin er gehen müsse und woher er gekommen sei. Raphael, ich fordere meine Seele von dir. Ich bin nicht glücklich. Mein Mut ist dahin.
Daraufhin folgt der erwähnte Brief des Raphael. Dieser führt aus, daß es der rechte Zeitpunkt gewesen sei, ihm, der in voller Jugendkraft vor ihm gestanden habe, die Wahrheit und den Irrtum und damit die Grenzen der menschlichen Vernunft nahegebracht zu haben. Er müsse die Quellen seiner Klagen aufspüren; daher solle er ihm die Resultate, die er sicher aufgeschrieben habe, zuschicken.
So erhält Raphael „Die Theosophie", also gewissermaßen eine Standortbestimmung der philosophischen Überlegungen Schillers, seine Weltanschauung, jedenfalls bis zu diesem Lebensabschnitt.
Das erste Kapitel ist überschrieben:
Die Welt und das denkende Wesen
Der erste Satz bedeutet gleich ein Programm; denn er lautet: Das Universum ist ein Gedanke Gottes. Die Aufgabe aller denkenden Wesen bestehe darin, in dem vorhandenen Ganzen die erste Zeichnung wiederzufinden, die Einheit in der Zusammensetzung aufzusuchen und das Gebäude rückwärts auf seinen Grundriß zu übertragen. Also gibt es für mich nur eine einzige Erscheinung in der Natur, das denkende Wesen. Die Naturgesetze bezeichnet er als Chiffren, die das denkende Wesen zusammenfügt, um sich dem denkenden Wesen verständlich zu machen. Harmonie, Wahrheit, Ordnung, Schönheit, Vortrefflichkeit bereiten Freude, weil sie die Gegenwart eines vernünftig empfindenden Wesens verraten und die Verwandtschaft mit ihm ahnen lassen. Alle neuen Erfahrungen in diesem Reich der Wahrheit - er führt u.a. das Natursystem des Linné an - seien nur neue Bekanntschaften mit einem ihm ähnlichen Wesen.
Jeder Seelenzustand habe ein Gleichnis, eine Entsprechung in der physischen Schöpfung. Nicht nur Künstler, selbst die abstraktesten Denker, hätten aus diesem reichen Magazin geschöpft. Wir nennen lebhafte Tätigkeit: Feuer, die Zeit: ein reißender Strom, die Ewigkeit: ein Zirkel und andere Beispiele. Schiller setzt hinzu, daß er anfange zu glauben, das künftige Schicksal des menschlichen Geistes liege im dunklen Orakel der körperlichen Schöpfung vorher verkündigt. Wir fragen uns hier natürlich, ob der Dichter dabei an eine Vorbestim-mung, an eine Verkörperung nach dem Karmagesetz gedacht hat. Zu einer klaren Deutung wird man nicht kommen können. Allerdings führt er gegen Schluß dieses ersten Kapitels aus, wie ihm jeder Frühling, das Wiedererwachen von Pflanze und Tier, die Besorgnis eines ewigen Schlafs widerlegt und ein treffendes Sinnbild unserer Unsterblichkeit gibt. Also doch wohl der Glaube an die Reinkarnation, und zwar dichterisch in einem Bild ausgedrückt.
Dieser Abschnitt bietet eindeutig die Grundlage der ganzen Schrift, sozusagen ihr Programm. Die philosophisch-weltanschauliche Richtung nennt man allgemein Panentheismus. In allen Äußerungen
der Natur, in allen Erscheinungen ist ein Prinzip, eine geistige Mitte, die wir Gott nennen. Wir sind uns aber darüber klar, daß dieses Wort nur ein Hilfsmittel bedeutet.
Der zweite Abschnitt trägt die Überschrift:
Idee
Hier führt Schiller aus, daß alle Geister von Vollkommenheit angezogen werden, daß sie den Trieb haben, alles an sich zu ziehen, alles sich zu eigen machen, was sie für gut, für vortrefflich erkennen. Schon die Anschauung des Schönen, des Wahren, des Vortrefflichen sei Besitznahme dieser Eigenschaften. Den Zustand, den wir wahrnehmen, in ihn versetzen wir uns selbst. Wir selbst werden das empfundene Objekt. Diese Voraussetzung sei die Basis für alles Folgende. Weiter erörtert Schiller eingehend, wie wir bei Bewunderung einer Handlung der Großmut, der Tapferkeit, der Klugheit ein geheimes Bewußtsein empfinden, wir könnten ebenso handeln. Ja, unser Körper stimme sich in diesem Augenblick in die Gebärden des handelnden Menschen ein und zeige, daß unsere Seele in diesen Zustand übergegangen sei. Im glücklichen Moment des Ideals seien der Künstler, der Philosoph, der Dichter wirklich die großen und guten Menschen, deren Bild sie entwerfen.
Er wollte erweisen, erklärt Julius seinem Briefpartner, daß es der eigene Zustand sei, wenn wir einen fremden empfinden, daß die Vollkommenheit im Augenblick unser wird, in dem wir uns eine Vorstellung von ihr erwecken, daß unser Wohlgefallen an Wahrheit, Schönheit und Tugend sich endlich in das Bewußtsein eigener Veredlung, eigener Bereicherung auflöst.
Jede Vollkommenheit, die ich mir vorstelle, wird mein eigen.
Ebenso heißt es, daß die Glückseligkeit, die ich mir vorstelle, meine wird, also liege mir daran, Glückseligkeit um mich her zu verbreiten. Ich begehre fremde Glückseligkeit, weil ich meine eigene begehre. Begierde nach fremder Glückseligkeit nennen wir Wohlwollen, Liebe. So ist auch der nächste Abschnitt überschrieben. Doch zuvor wollen wir noch einmal auf den vorangegangenen zurückkommen. Aus den Worten des Dichters spricht eine hohe Auffassung von Lebensbewältigung. Begriffe wie Wahrheit, Schönheit und Tugend und schließlich Vollkommenheit sind Ideale, nach denen zu streben unsere Aufgabe bedeutet, gerade in der theosophischen Weltanschauung. Schiller weist besonders dem Künstler eine ausschlaggebende Funktion zu (was seinem Weltbild entspricht). So heißt es auch in seinem etwas später entstandenen Gedicht „Die Künstler":
Der Menschheit Würde ist in eure Hand gegeben, Bewahret sie!Sie sinkt mit euch! Mit euch wird sie sich heben! Der Dichtung heilige Magie Dient einem weisen Weltenplane, Still lenke sie zum Ozeane Der großen Harmonie!
Autor: Dr. Robert Roth