Die Ursachen für das Leid in der Welt und seine Heilung
 
 
Gottfried v. Purucker
 
Was ist heutzutage mit der Welt los? Das Problem ist der verzweifelte Wunsch der Menschen, anderen ihre Meinung aufzuzwingen. Seit dem Untergang des Heidentums war und ist das im Westen ein Grund für Unruhe. Es war der Schandfleck in der Geschichte der christlichen Kirche - ich sage dies mit Ehrfurcht vor den vielen nobel gesinnten Herzen, die in dieser Kirche wirkten und sie durch ihr Leben mit Licht erfüllten. Seit der Zeit des Niedergangs von Rom war der große Fehler der Menschen aller europäischen Länder, natürlich auch der unserer beiden Kontinente, rücksichtslos darauf zu bestehen, dass andere genauso denken müssen wie sie, in der Religion, in der Politik, im Gesellschaftssystem, gleichgültig, worum es sich handelt.
 
Diese Geisteshaltung schürte die Scheiterhaufen der Märtyrer. Sie ist auch verantwortlich zu machen für die marodierenden Banden, die man schickte und beauftragte, andere Menschen umzubringen. Mit dieser Geisteshaltung wurden Verträge geschlossen, besiegelt und anderen Nationen aufgedrängt. Und heute beunruhigt uns das, man sieht es überall, genauso. Diese Haltung können Sie sogar in friedlichen Ländern beobachten. Sie sehen es zum Beispiel in unseren Gesellschaftsformen. Die Leute in der westlichen Hemisphäre scheinen nicht eher glücklich zu sein, als bis es ihnen mehr oder weniger gelingt, ihren Willen, ihr Denken und ihre Vorstellungen darüber, was richtig ist, anderen aufzuzwingen: So und so sollte die Welt funktionieren, dieses und jenes sollte auf solche Weise getan werden, und vor allem sollten andere Völker nur bestimmte Dinge glauben und für richtig halten. Wenn Sie sich vergegenwärtigen, wie hoch wir selbst das Heiligtum unserer eigenen Herzen schätzen, die Freiheit unseres eigenen Lebens und unser Recht, frei zu denken, dann können Sie leicht erkennen, wie tragisch die Konsequenzen immer sind.
 
Ich sah dasselbe falsche Verhalten sogar im Denken von Theosophen*. Diese schienen zu glauben, alle anderen Theosophen, die ihre theosophischen Meinungen nicht akzeptierten, seien allesamt auf dem falschen Pfad. Das ist eine Wiederholung desselben alten und üblen Wunsches, andere Weggefährten müssten ebenso denken wie sie.
 
Was Sie auch immer versuchen, Sie können damit niemals vollen Erfolg haben. Sie können die Menschen töten, ihre Körper in Ketten legen, ihren Verstand und ihr Herz quälen und versuchen, sie zu verwirren. Aber die menschliche Seele lässt sich nicht in Ketten legen. Sie wird sich immer befreien. Dann beginnt dieselbe alte Tragödie von neuem. Das ist erschütternd. Dies liegt keinesfalls nur am großen menschlichen Leid, das damit verbunden ist. Mindestens ebenso bedauerlich ist, das die Menschheit freiwillig auf die immensen Schätze verzichtet, die in den Herzen und im Denken anderer Mitmenschen verborgen sind. Bedenken Sie, ob es für einen Menschen etwas Schöneres geben kann, als die Denkprozesse seines Freundes oder seines Gefährten zu studieren, ihm dabei zu helfen, sie zu artikulieren und wachsen zu sehen und seinen ganzen Gedankenreichtum zu entfalten. Das ist produktiv. Alles andere zerstört nur. Der eine macht die Schätze fruchtbar, die im menschlichen Denken und Fühlen enthalten sind. Die Folge davon sind Großherzigkeit sowie Friedfertigkeit und Milde im Umgang mit anderen Menschen. Der andere erzeugt Hass, Argwohn, nicht zu bändigenden Unwillen und fördert den Drang, sich von der Sklaverei auferlegter Glaubensüberzeugungen, auferlegter Ideen und Denkformen zu befreien.
 
Wissen Sie, warum das alles passiert? Einfach deshalb, weil die meisten Menschen unbeseelt sind. Ich meine damit nicht, das sie keine Seele besitzen. Aber ihre Seelen sind nicht aktiv, sie arbeiten nicht und sind nicht produktiv. Sie schlummern. Die meisten Menschen leben wie menschliche Tiere. In Wirklichkeit ist es noch schlimmer, denn Tiere werden mehr oder weniger durch einen Instinkt geleitet, so dass sie gewissermaßen anderen Tieren gegenüber Respekt zeigen. Aber die Menschen denken mit List und Tücke. Wenn sie das noch unter Einsatz ihres Verstandes tun, dann ist das Ergebnis in jeder Weise religiöse, soziale und politische Tyrannei. Es ist meines Erachtens nach Tyrannei, wenn eine Minorität oder Majorität, ein einzelner oder viele aus einer bestimmten Gruppe versuchen, bestimmte Ideen, Denkformen oder Führungssysteme anderen aufzuzwingen, die dann zustimmen müssen - und das nennen wir „die Freiheit des Okzidents"!
 
Freiheit! Sie ist eine der segensreichsten Himmelsgaben und eines jener Geschenke, die wir am schlimmsten missbraucht haben. Denn wir waren der Meinung, dass andere Menschen erst dann Freiheit hätten, wenn sie sich entschließen würden, unsere Überzeugungen, unsere Institutionen und
unsere Lebensweise zu übernehmen. Und das Resultat: die Unterdrückung von Millionen blühender menschlicher Seelen, die sonst vielfach Frucht getragen hätten und auf wunderbare Weise ihren Beitrag zur Bereicherung unseres gemeinsamen menschlichen Schatzes geleistet hätten.
 
Bin ich mit diesen Ideen zu revolutionär? Niemals. Damit würde ich mich nämlich desselben moralischen Verbrechens schuldig machen, das ich gerade verurteilt habe. Ich würde versuchen, meine Anschauung anderen aufzudrängen. Evolutionär? Ja! Ich appelliere an die Herzen und an den Verstand der Menschen, sich stets zu vergegenwärtigen, dass man niemals vollständig glücklich sein, niemals sein Bestes geben und seine Mitmenschen nie anregen kann, dasselbe zu tun, wenn man andere bekämpft. Das hat nie funktioniert und wird es auch in der Zukunft nicht. Dem stehen alle Gesetze der menschlichen Natur entgegen. Es widerspricht allen Gesetzen der höheren und der niedrigeren Psychologie Es ist jedermanns Pflicht, den Gesetzen seines Landes zu gehorchen. ...
 
Im Leben ist es ein Ausdruck höchster Weisheit, so lehren die Meister der Weisheit, für die Seelen aller Menschen Sympathie zu empfinden. Machen Sie Ihr Leben zu einem Beispiel dessen, was Sie predigen: von Gerechtigkeit, brüderlicher Liebe, Sympathie, Mitgefühl, Mitleid, Erbarmen, Hilfsbereitschaft und von der Unfähigkeit, gegenüber einem anderen Menschen eine unehrenhafte Handlung zu begehen. Andere werden dann Ihrem Beispiel folgen, weil Sie wie ein Leuchtfeuer die dunkle Nacht erhellen.
 
Dies ist das Ideal; ich werde es mir stets vor Augen halten. Seit meiner Kindheit weiß ich, dass das interessanteste aller menschlichen Dinge, das interessanteste Ereignis in den menschlichen Beziehungen, im täglichen Geben und Nehmen, das Herausarbeiten der inneren Fähigkeiten des anderen ist, die er zu zeigen und auszudrücken versucht. Es ist ein faszinierender Vorgang. Der schnellste Weg, ihn zu beenden und die Entfaltung dieses Vorgangs zu unterbinden, ist der Versuch, dem anderen seine eigenen Ideen aufzunötigen. Sie töten damit tatsächlich etwas wunderbar Schönes. Anstatt einfühlend dabei zu helfen, dass sich diese inneren Fähigkeiten entfalten können, zerstören Sie das Edelste, was das menschliche Leben zu bieten vermag. Es ist ein Verbrechen, so zu handeln. Wenn Sie andererseits dabei helfen, die inneren Qualitäten einer menschlichen Seele zu entfalten, bereichern Sie diese und ebenso sich selbst. Dies ist das Kennzeichen echter Führung. Das bedeutet Führung der Herzen der Menschen: das Beste in anderen hervorzubringen, so dass sie selbst die Schönheit lieben lernen, die so zur Entfaltung kommt und vom Feuer der Begeisterung entflammt wird. Anderen Ideen aufzuzwingen, ist Tyrannei.
 
Wir leben unter einer Herrschaft der Gewalt. Überall werden Menschen gewaltsam unterdrückt. Sie kennen die Auswirkungen von Gewalt im Bereich der Technik; gleichermaßen bewirkt die Unterdrückung des Strebens der menschlichen Seele, das Niederhalten dessen, was eines Tages zum Vorschein kommen muss, Explosionen. Fragen Sie sich deshalb, warum uns die größten Menschen lehrten, die je auf Erden gelebt haben, dass der einzige Weg zu Frieden, Glücklichsein, Wachstum, Wohlstand, Reichtum und all den anderen schönen Dingen des Lebens darin besteht, gegenseitige Liebe und Gerechtigkeit zu praktizieren? Die Seelen der Menschen hungern nach Liebe und Sympathie. Fügen Sie andern nichts zu, was Sie nicht wollen, dass man es Ihnen zufügt - diese negative Formulierung ist die klügere. Anderen das anzutun, von dem Sie wünschen, dass man es auch Ihnen antut - nämlich „Menschenseelen zu retten" -, ist eine Regel die immerhin den Missbrauch von Unwissenheit und Fanatismus zuläßt.
 
Behandeln Sie andere - formulieren Sie es positiv, wenn Sie mögen -, behandeln Sie andere, wie Sie selbst von anderen behandelt werden möchten, und Sie werden nach und nach sehen, wie sich als Folge davon deren und Ihre Ideale zu voller Blüte entfalten. Wem das gelingt, der ist wahrlich seelenvoll. In ihm überwiegen die Qualitäten der Seele. Er liebt, weil Liebe etwas Wunderbares ist. Wer das Leben seiner Mitmenschen reicher macht, bereichert sein eigenes Leben. Er behandelt die anderen Menschen voller Edelmut und lässt ihnen den Vortritt. Das ist nicht nur ritterlich, sondern es lässt auch die eigene Kraft und Stärke wachsen, weil es Willenskraft erfordert, dies beständig zu tun. Das ist ein Prozess, sich selbst immer mehr zu beseelen. Die größten Menschen auf der Welt waren die in diesem Sinne am meisten beseelten. Ihre Herzen empfanden die umfassendste Liebe. Ihr Verstand arbeitete am schärfsten, am lebendigsten, am stärksten und am aufrichtigsten. Ihr ethisches Empfinden war am subtilsten, am lebhaftesten und am beständigsten. Sie waren diejenigen, denen es niemals in den Sinn kam, ihren Willen anderen aufzuzwingen, sondern anderen dabei behilflich zu sein, die Schönheit ihrer eigenen Seele zum Ausdruck zu bringen.
 
 
Aus: Wind des Geistes, Verlag der Theosophischen Gesellschaft Pasadena
Das englische Original dieses Buches ("Wind of the Spirit")
erschien 1944 in Pasadena (Kalifornien)
 
 
* „Theosophen" ist hier immer zu verstehen im Sinne des englischen „theosophists", für das es keine eingängige deutsche Übersetzung gibt. Vgl. Theosophie heute, 1998, Heft 2, S. 75
 
 


Autor: Gottfried v. Purucker