„Die Vielfalt religiöser Erfahrung"

Hinführung zu dem Buch von W. James

Dr. Berhard Prediger

Die Begegnung des Menschen mit Theosophie geschieht zu Anfang mit dem, was man ihren äußeren Teil nennen kann - mit den sogenannten Theosophi­schen Lehren. Diese entfalten vor ihm ein Bild von Gott, Mensch und Welt, das keinen denkbaren Teil des Ganzen ausspart, also alles uns Denkbare um­fasst und dies in sich völlig widerspruchsfrei - auch für einen mit der kanti­schen Vernunftkritik vertrauten Sucher eine faszinierende Sache. Der Um­stand, dass vieles davon seiner eigenen Erfahrung (noch?) nicht zugänglich ist, braucht ihn zunächst nicht besonders zu irritieren, denn auch Atome, mit denen die Physik hantiert und die Viren, welche die Medizin bekämpft - von „Prionen" gar nicht zu reden, hat er ja auch noch nicht gesehen.
 
Was das Theosophische Weltbild angeht, das sich für ihn aus den theosophi­schen Lehren entfaltet, so gibt es zunächst jedenfalls nur so etwas, was man eine Gesamterfahrung nennen kann: Wie lebt es sich für ihn damit, für ihn, den Sucher, der meist von einem zunächst materialistischen Weltbild her­kommt, das ihn in Enttäuschung, wenn nicht Verzweiflung geführt hat. Diese Gesamterfahrung kann so schlecht nicht sein, denn die meisten ernsthaften Sucher, wenn sie denn dabei bleiben, meistern das Leben und seine Krisen besser und sterben leichter. Ihr Leben wird auch viel reicher durch das um­fassende Verständnis, welches sich ihnen auf den Gebieten von Literatur und Musik, bildender Kunst, Wissenschaft und Philosophie erschließt, vor allem aber auf dem Gebiet der Religion, wo sich ihnen der Reichtum an Gemein­samkeit allmählich auftut, über den alle Weltreligionen verfügen. Das Theo­sophische Weltbild und die theosophischen Lehren, die es entstehen lassen, sind daher sehr wichtig für den Menschen und dies auch noch aus einem an­deren Grund: Während ein materialistisches Weltbild auf Dauer sein Seelenle­ben verhärtet und austrocknet, wird dies durch ein Leben unter theosophischer Weltanschauung eher aufgelockert, durchlüftet, durchfeuchtet. Während ein materialistisch-rationalistisches Weltbild den Menschen immer stärker von möglichen neuen Erfahrungen und Entwicklungen abschließt und sich so selbst perpetuiert, hält das Theosophische Weltbild den Menschen beweglich und offen - vor allem eben auch für andere und neue Erfahrungen. Hat dieser Werdeprozess eine Zeit gedauert, so kommt der Sucher irgendwann in ein Stadium, in dem ihm bloße theosophische Lehren nicht mehr genügen -er ist gereift und damit aufgerufen, den Vorhof der Lehre zu verlassen und in einem Bereich neuer, eigener Erfahrung einzutreten, die in diesem Entwick­lungsstadium immer bewusster auch „religiöse Erfahrung" ist.
 
Vielleicht hat er dann das Glück, dass ihm das Buch Die Vielfalt religiöser Erfahrung von William James in die Hände fällt, Hauptwerk und damals schon Bestseller des amerikanischen Psychologen und Philosophen, der von 1842 - 1910 lebte. Dieses Buch mit dem Originaltitel The Varieties of Religious Experience enthält die Gifford-Vorlesungen des Verfassers, die dieser an der Universität Edinburgh in Schottland gehalten und 1902 zu einem Buch zusammengefasst hat.

Was dieses Buch vor allen „Lehrbüchern" auszeichnet, ist, dass es anhand einer Fülle von Original-Zitaten das beschreibt, was religiöse „Erfahrung" wesentlich ausmacht und dies eben in einer, wie der Titel sagt, solchen Vielfalt, dass sich wirklich ein jeder Leser darin wiederfinden kann. Dabei geht der Gesamtzusammenhang, in dem alles steht, nie verloren, denn dieses Buch ist von einem Menschenkenner und Menschenfreund geschrieben, der jeden einzelnen anspricht, von Herz zu Herz unter Hintansetzung jedweder religiöser Institutionen. Endlich erfahren wir von einem Kenner und Könner das, was wir schon immer irgendwie ahnten und wussten, dass wirkliche, d. h. eben erfahrene Religiosität, die hilft und heilt, auch sehr viel mit Ge­fühl zu tun hat. Dabei werden die Täuschungsmöglichkeiten, die gerade hier bestehen, keineswegs ausgespart! Vielmehr wird ein sehr griffiges Kriterium angeboten, hier Spreu von Weizen zu trennen: Allein auf die Wirkungen -die positiven - für den Einzelnen und für das Ganze kommt es an. „An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen." So sagte auch schon Jesus, gewissermaßen der erste Vertreter des sogenannten „Pragmatismus", der als Philosophie­richtung dem zu Grunde liegt.

Im Oxford-Lexikon der Weltreligionen heißt es über dieses Buch, es profitie­re davon, dass sein Autor mit „religiöser Musikalität" ausgestattet sei. Wie schön und wie wahr. Und was hat das alles mit Theosophie zu tun? Nun -soviel wie Mystik - und um diese geht es natürlich vornehmlich in diesem Buch überhaupt - nämlich eigentlich alles! Und so, wie es viele Theosophen gibt auf der Welt, die diesen Namen weder gehört haben noch gebrauchen, so gibt es auch - die vielen z. T. sehr ausführlichen Zitate zeigen es - viel mehr Mystiker auf der Welt, als man ahnt: Auch Zitate aus theosophischer Literatur im engeren Sinne, z. B. aus der Autobiografie von Anni Besant und aus der Stimme der Stille von H. P. Blavatsky sind enthalten. Dies ist kein Wunder, denn bei S. Cranston/C. Williams in ihrem ebenfalls hoch empfeh­lenswerten Buch Wiedergeburt4 können wir nachlesen, dass William James seit dem 25. Juli 1891 der Theosophischen Gesellschaft in Amerika ange­hörte. Um so erfreulicher ist, dass The Varieties of Religious Experience gerade als Insel-Taschenbuch Nr. 1784 (581 Seiten - ISBN 3-458-33484-X, 16,00 EUR) in Deutschland neu erschienen sind, ausgestattet mit einem Vorwort von Peter Sloterdijk und empfohlen von Rüdiger Safranski in der ZDF-Sendung „Das Philosophische Quartett" am 25.11.2004. Hier haben sie einen Treffer gelandet.

Schon eine Alltagswahrheit hat, von einem Lehrer geäußert, eine tiefe Be­deutung, nach welcher der Lernende suchen sollte, die ihm aber verloren geht, wenn er sich damit aufhält, die Worte zu kritisieren und auf die ge­wöhnliche Weise abzuwiegen.

William Quan Judge

4 Der ausführliche Titel lautet Wiedergeburt, ein neuer Horizont in Wissenschaft, Religion und Gesellschaft, erschienen im Hirthammer Verlag (ISBN 3-88721-075-1). Von William James z. Zt. ferner in Deutsch erhältlich Der Pragmatismus, Meiner Verlag, Hamburg, 2. Aufl. 1994, (ISBN 3-7873-1150-5)



Autor: Dr. Berhard Prediger