Die Weihnachtsgeschichte

Geoffrey Hodson

Vorwort

Zur Symbolsprache der Bibel

(im Alten und Neuen Testament)

Viele Symbole sind dazu da, die mystischen Erfahrungen zu beschreiben, die von denen gemacht werden, die den Pfad der Nachfolge und der Einweihung fanden und ihn auch zu durchwandern bereit sind. Symbol ist z. B. Geheiltwerden von Leiden. Symbol ist die Sättigung nach Hungerzeiten. Symbol ist das Entdecken eines Ausweges, wenn jemand sich verloren glaubt in einer Wüste oder verlassen ist in einer Wildnis. Symbol ist auch die Errettung von raubgierigen Tieren, entweder durch Vernichtung derselben oder durch ihre Zähmung.

So interpretiert lässt sich das 35. Kapitel des Buches Jesaja, Vers 5-10 als eine allegorische Beschreibung innerer Erfahrungen lesen: „Alsdann werden der Blinden Augen aufgetan werden und der Tauben Ohren werden geöffnet werden, alsdann werden die Lahmen springen wie ein Hirsch und der Stummen Zunge wird Lob sagen. Denn es werden Wasser in der Wüste hin und her fließen und Ströme im dürren Lande. Und wo es zuvor trocken gewesen ist, sollen Teiche stehen. Und wo es dürr gewesen ist, sollen Brunnenquellen sein. Wo zuvor die Schakale gelegen haben, soll Gras und Rohr und Schilf stehen. Und es wird daselbst eine Bahn sein und ein Weg, welcher der Heilige Weg heißen wird..." Der wohlbekannte Abschnitt aus dem 11. Kapitel des Buches Jesaja Vers 6-9 hat etwa die gleiche Bedeutung: „Die Wölfe werden bei den Lämmern wohnen und die Parder bei den Böcken liegen. Ein kleiner Knabe wird Kälber und junge Löwen und Mastvieh miteinander treiben. Kühe und Bären werden auf der Weide gehen, dass ihre Jungen beieinander liegen ... Man wird nirgends Schaden tun noch Verderben auf meinem ganzen heiligen Berge, denn das Land ist voll Erkenntnis des Herrn, wie Wasser das Meer bedeckt..."

Diese Abschnitte können wörtlich für Prophezeiungen eines zukünftigen „goldenen Zeitalters" auf Erden gehalten werden, in dem Frieden zwischen Mensch und Mensch und Frieden zwischen Menschen und Tieren herrschen wird. Aber sie beschreiben ebenso genau in Ausdrücken der „Heiligen Sprache" die Umwandlungen und Verzückungen einer jeden menschlichen Seele, besonders aber der Jünger und der Eingeweihten, die ihre Pilgerschaft rasch durchmessen, aufwärts, dem Zustande eines Vollkommenen entgegen.

Tiere stellen erstrebenswerte und auch weniger wünschenswerte Eigenschaften dar, je nach dem, ob es sich um wilde oder um Haustiere handelt. Das „kleine Kind", das sie leiten wird, ist die neugeborene spirituelle Kraft der vereinigenden Weisheit. Das Kind kann aber auch verstanden werden als das von Neuem erwachte Christos-Prinzip4 im „Höheren Selbst" des Menschen, von dem alle räuberischen und feindseligen Eigenschaften gebändigt und geläutert werden, so dass all die verschiedenen Kräfte und Aspekte5 des menschlichen Charakters in eine harmonische zusammenwirkende Einheit eingehen können. Dieser erneuerte oder wiedergeborene Zustand wird wieder und wieder dargelegt als wesentlich für den erfolgreichen Aufstieg der Seele, wozu uns in Markus 10, 15 ein Beispiel gegeben ist: „Wahrlich ich sage Euch, wer nicht das Reich Gottes empfängt wie ein Kind, der wird nicht hineinkommen".

Diese innere Wandlung setzt zweierlei Anstrengung voraus. Eine ist der normale Entwicklungsvorgang, der diese Wandlung ganz allmählich und sozusagen natürlich hervorbringt ... Die andere Anstrengung besteht in konzentrierter Bemühung des Jüngers selbst, den dann allerdings die Hilfe des Meisters stützt. Der Meister erreichte ja bereits vor langer Zeit vollkommene Vereinigung aller seiner Kräfte, um so zu einem einzigartigen Instrument im Dienste des Allmächtigen Willens zu werden des gekrönten Königs im Innern.

Wenn der Meister merkt (z. B. in den ägyptischen Mysterien), dass der Schüler einen ausreichenden Entwicklungsgrad erreicht hat, dass er Mer Kheru hat (auf den rechten Ton gestimmt ist) oder im esoterischen Buddhismus Gotrabhu hat, stellt er ihn einem Kreis von Bruder-Adepten vor, um noch mehr und weiterreichende Hilfe für ihn zu erlangen durch eine Zeremonie, die als Initiation in die „Größeren Mysterien" bekannt ist.

Die Stimme der Stille:

„Wenn er (der Schüler) aufgehört hat, die Vielfalt zu hören, vermag er, das EINE wahrzunehmen, den inneren Ton...

Lehrer gibt es viele, jedoch nur eine MEISTERSEELE, Alaya, die Universalseele. Lebe in diesem MEISTER wie IHR Strahl in dir. Lebe in deinen Mitmenschen, wie sie in IHR. Du musst vorbereitet sein, dich vor Dharma, dem strengen Gesetz zu verantworten, dessen Stimme dich ganz am Anfang, bei deinem ersten Schritt fragen wird:

„...Hast du Herz und Geist in Einklang gebracht mit dem großen Geist und dem Herzen der ganzen Menschheit? Denn gleich der tosenden Stimme des heiligen Stromes, in der alle Töne widerhallen, muss das Herz dessen, ,der in den Strom eintreten will', erbeben als Antwort auf jeden Seufzer und Gedanken von allem, was lebt und atmet.

Helena P. Blavatsky, Die Stimme der Stille, Studienausgabe, Satteldorf 1997, Verse 7, 221,223,225f

Der Durchgang durch fünf solcher tiefgeheimen, macht­vollen und kraftverleihenden Riten kennzeichnet das Fort­schreiten der Seele heraus aus den Begrenzungen einer voran­gegangenen Phase, hinein in die Freiheit der nächsten. Auf jeder wird ein weiterer Plan der Natur und eine neue Ebene des Bewusstseins betreten und allmählich gemeistert, nicht ohne dass die Entwicklung von Bewusstsein und Handeln des menschlichen Vehikels oder Körpers, in welchen die innere Geistigkeit auf der jeweiligen Ebene noch immer gehüllt ist, als Werkzeug mit verfeinert wird.

Eine Beschreibung dieser fünf Einweihungen oder Initiationen ist in den Legenden um das Leben Jesu Christi enthalten. Die Symbole dafür sind Geburt, Taufe, Verklärung, Kreuzigung und Auferstehung.

Die Geburt

Wer die Lebensgeschichte Jesu und insbesondere auch die Weihnachtsgeschichte mit dem uns nun schon bekannten Schlüssel in der Hand oder im Sinn liest, wird nicht daran zweifeln, dass sie von Wissenden aufgeschrieben wurde, welche die uralten Weisheiten kannten und die ausgebildet waren für den Gebrauch der allegorischen und symbolischen Sprache. Vielleicht waren diese Eingeweihten Mitglieder der einen oder anderen noch arbeitenden Mysterienschulen oder Schüler anderer heiliger Stätten und daher im Besitz der „Heiligen Sprache". So benutzten sie also lebende Menschen und zeitbedingte Ereignisse (z. B. die „Volkszählung") und bestimmte Gegenstände und Formen als Symbole für die ewige Wahrheit. Vielen Christen geht die Jesus-Legende wegen ihrer wunderbaren Schönheit über alles. Es gibt aber auch Studierende, die an verschiedenen Vorkommnissen und den Worten unseres Herrn die Mysterien-Erzählung erkennen und darin Lichter und Wahrheiten entdecken, die jene historischen Zusammenhänge bei weitem überstrahlen.

Jesus sagt z. B.: „Ich und der Vater sind eins." (Joh.10, 30)
   „Ehe Abraham ward, bin ich." (Joh. 8, 58)
und im Buch der Offenbarung sind ihm Worte in den Mund gelegt wie:
  „Ich bin A und O, Alpha und Omega, 
 
   Anfang und Ende, das Erste und das Letzte ..."

Diese Worte können schwerlich nur auf Jesus, den Menschen, der in Bethlehem geboren wurde, bezogen werden. Tatsächlich beginnt Johannes seine wunderbare Wiedergabe des Lebens Jesu, indem er ihn mit dem „schöpferischen Wort" gleichsetzt, welches am Anfang war und später, im Fleische geboren, unter uns weilte (Joh.l, 1-5).

Dass ein Geheimnis in der Lebensgeschichte und im Wesen Jesu Christi tief verborgen ist, erscheint unübersehbar. Die erhabene Zentralfigur der Evangelien vereinigt in sich Größe und Universalität. Metaphysisch betrachtet ist ER das göttliche Leben und die göttliche Gegenwart in der gesamten Natur und in allen Menschen. Die Hauptereignisse, die von IHM als überliefert gelten, sind auch Erlebnisse, die sich im ganzen Universum wie auch im Innern der spirituellen Seele oder eben in der Christus-Seele des Menschen zutragen.

Geheimnisvoll weit außerhalb des menschlichen Verständnisses, ist die Christuslegende sowohl eine Geschichte des Kosmos wie die Geschichte eines jeden einzelnen Menschen. Sie berichtet von Geburt und Entwicklung zu relativer Vollkommenheit des ganzen Universums und der Menschheit sowie auch eines jeden einzelnen Individuums.

Tatsächlich ist Christus auf drei Ebenen in den Jesus-Legenden zu erkennen.

Die drei Ebenen sind:

  1. die kosmische Ebene: das göttliche Leben und die göttliche Gegenwart in der ganzen Natur und in allen Dingen...
  2. die mystische Ebene: die Gegenwart Christi in jedem Menschen und
  3. die historische Ebene: der große Mensch, der auf Erden vor rund 2000 Jahren in Palästina erschien.

Die kosmische Auslegung zeigt den Kreislauf des Kommens und Gehens, des Stirb und Werde. Bei einer kosmischen Geburt ergießt sich das Leben der schöpferischen Gottheit in ein neu geformtes oder neugeborenes Universum. Die Taufe dann bedeutet ein tieferes Herabsteigen. Bei der Kreuzigung, beim Sterben und bei der Grablegung ist das göttliche Leben in tiefste Gefangenschaft geraten, in die dichteste Materie des Sonnensystems, nämlich in das Mineralreich - symbolisiert durch den Felsbrocken, der über das Grab gerollt wird. Die Auferstehung bedeutet den Aufbruch zum Rückweg, an dessen Ende die Himmelfahrt steht: sitzend zur Rechten Gottes ...

Jeder menschliche Geist, jede Monade6 verfolgt denselben Weg nach außen und zurück nach innen. Auf der Pilgerfahrt vom Zustand der Unschuld nach außen, hinein in die Schwierigkeiten mit dem Stoff und in die Auseinandersetzungen mit den Triebkräften des mentalen, emotionalen des physischen Körpers, symbolisiert durch den Sturm auf dem See Genezareth und die Beschwichtigung der Wellen. In jedem Lebenskampf erwachsen schließlich der Seele Flügel, mit denen sie aufsteigt zum Frieden, von dem sie kam.

Schritte auf dem Weg zum Kreuz

Wenn wir der Linie dieses wohl sicher letzten Einweihungsweges (Erdenweges) des Menschen Jesus Christus folgen, so finden wir, dass drei bestimmte Menschentypen mit hinein verwickelt sind.

Erstens die zwar netten, aber achtlosen Durchschnittsmenschen, die es in der ganzen Welt gibt, ohne jegliches Verständnis für metaphysische Erfahrungen, unberührt von jeglichem Idealismus und uninteressiert an der möglichen Existenz überphysischer Welten und an einer geistigen Gestaltung des Lebens. Das waren die Zeitgenossen damals in Palästina, unter denen sich „unser Herr Jesus" bewegte.

Zweitens kommen in der Jesus-Legende Leute vor, die eben gerade sich der geistigen Wirklichkeit bewusst werden und die den Ruf, das Leben auf geistige Art zu führen, vernehmen. Diese sammeln sich um den Meister und lauschen seinen Lehren aufmerksam, während er von Ort zu Ort wandert. Zu diesen gehört beispielsweise jener junge Mann, von dem Lukas im 18. Kapitel, Vers 18-23, berichtet, dem von Jesus der Rat gegeben wird, allen seinen Besitz zu veräußern und ihm zu folgen. Die Entscheidung wird dem jungen Mann schwer, denn er ist sehr reich. Wie er sich entschied, wird nicht berichtet. Doch ist anzunehmen, dass, wenn noch nicht in diesem Leben, er doch in einer seiner nächsten Inkarnationen aufgrund seiner Begegnung mit Jesus - genau genommen aufgrund seiner Begegnung mit dem Christus-Prinzip - also infolge des Gewahrwerdens des Christus in ihm selbst dann gar keiner Entscheidung mehr bedurfte.

Drittens begegnen wir in der Jesus-Legende Männern und Frauen, die bereit sind, sich völlig dem spirituellen, dem geistigen Leben zu weihen. Diese sind „Erwachte", die auf den inneren Ruf des höheren Lebens antworten und dazu bestimmt sind, inmitten und trotz der weltlichen Pflichten den Pfad zu betreten, den Jesus als den Pfad, den Heilsweg bezeichnete. Diese waren die Jünger und andere, die unverzüglich dem Herrn folgten, und sie sind es, die später - zum Teil wenigstens - die Botschaft des Herrn der Nachwelt übermittelten.

Diese drei Arten von Menschen hat es immer gegeben und überall. Es gibt sie noch heute. Für alle diese, was immer sie im Leben darstellen, ist das Leben Jesu, ist die Christus-Legende ein Modell, ein Vorbild. Seine Lehren erweisen sich als die allerbeste Führung, besonders für die geistig Erwachten, für die Suchenden und Strebenden, von denen es heute nicht wenige gibt.

Es liegt eine wunderbare Erfahrung im Verständnis des Beispiels, das Christus uns gibt, besonders wenn wir versuchen, nach seinen Lehren zu leben! Ein Wunder beginnt sich dann in uns und um uns zu entfalten. Wir erleben an uns selbst die wesentlichsten Umstände der Legende von Jesus und seinen Jüngern.

Wann immer ein Mensch ernsthaft vom Geiste her versucht, sein Leben zu führen gemäß dem Höchsten, was in ihm ist, dann kommt sein wahrer Lehrer auch zu ihm.

Die fünf Hauptabschnitte im Leben Jesu werden von jedem nach Vollkommenheit Strebenden durchlaufen. Denn die Geburt, die Taufe, die Erleuchtung, die Kreuzigung und die Auferstehung, so wie sie in der Legende berichtet werden, sind allegorische Einkleidungen der Erfahrungen eines jeden Menschen, der sich jemals zu Füßen seines Meisters begibt.

Diese metaphysische Art der Betrachtung von Ereignissen, die in der Seele des geistig Erwachten vor sich gehen, kann befremdlich wirken, besonders für die, die sie zum ersten Male nachvollziehen. Aber diese Art der Betrachtung ist keinesfalls etwa neu! Sogar schon zu Lebzeiten Jesu gab es eine Gruppe von Neu-Platonikern in Alexandrien, die die heiligen Schriften der Welt nach diesem System studierten, besonders aber das Alte Testament. Sie werden Analogisten genannt. Die frühen symbolischen Anspielungen auf die „historische" Geburt des Kindes finden sich ja schon in den Prophezeiungen des Alten Testaments über das Kommen des Messias.

Die unbefleckte Empfängnis

Wer ist vom metaphysischen Standpunkt aus denn nun Maria, die jungfräuliche Mutter Jesu?
 
 
Mit tiefster Verehrung für sie als historische Person darf vielleicht gesagt werden: sie ist die
Personifizierung der unsterb­lichen, spirituellen Seele der Menschheit, die Mütterlichkeit in Person, der Schoß, aus dem die Christus-Kraft und das Christus-Bewusstsein oder eben „das Kind" geboren wird.

Dass dies als Beschreibung innerer Erfahrungen und Ent­wicklungen einer Person zu lesen ist, versteht sich aus der Feststellung, dass Joseph, der Gatte Marias, nicht der Vater Jesu war. ER wurde unbefleckt geboren von seiner jung­fräulichen Mutter (Matth. 1, 18).

Viele ernsthafte Christen finden es schwierig, diese Lehre von der unbefleckten Em­pfängnis anzunehmen. Aber die Schwierigkeiten schwinden, wenn die Legende nicht nur historisch genommen wird, sondern auch als eine allegorische Beschreibung von Wandlungen und Entwicklungen, die im Geist und im Herzen eines jeden Menschen vor sich gehen.

Der Engel der Verkündung, der Erzengel Gabriel, entspricht dem innersten Selbst im Menschen. Maria ist die unsterbliche Seele, die empfänglich ist für die Kraft des Geistes. Das Christkind, das geboren wird von der Jungfrau Maria, ist das Christusbewusstsein im Menschen, die neu erwachte Kraft der All-Liebe und der geistigen Beeindruckbarkeit, die dem Verstand die Einheit allen Lebens und alles Belebten offenbart. So verstanden ist die Verkündigung eine innere Erfahrung, ein Herabsteigen der Monade, die als Gabriel Quelle des schöpferischen Willens ist, also jener befruchtenden Kraft, die bisweilen als Lilie dargestellt wird, die wiederum Symbol für das Stirb und Werde ist.

Dieser Vorgang bringt im Ego, im Träger des abstrakten Geistes, also in Maria, eine tiefgreifende intellektuelle und seelische Entwicklung hervor, eine wahrhafte Geburt von neuen geistigen Verstandeskräften. Nach dieser mystischen Empfängnis wird die Frucht durch den empfangenden Verstand und durch die reinen Empfindungen übertragen auf den äußeren Menschen und seinen physischen Körper.

Hier ist die symbolische Verschleierung besonders markant, da die Evangelisten7 anscheinend sehr wohlbedacht diese geheimnisvollen Vorgänge an Menschen versinnbildlicht haben. Der vorbereitete und empfängliche Verstand - das ist Joseph, die reinen Empfindungen - das sind die zahmen Haustiere, und der physische Körper - das ist die Herberge, ist der Stall!

Alle sieben Prinzipien der Menschheit lassen sich auffinden in der Geschichte von der Geburt Christi. So wie es anderen klugen forschenden Menschen seither und jetzt gelungen ist, den Schleier über diesen Begebnissen, die wir die Weihnachtsgeschichte nennen, ein wenig zu lüften, so sollte es auch jedem von uns gelingen.

Die Heilige Familie

Die innere Geburt ist wirklich unbefleckt. Denn wie gesagt, ist ja Joseph der nach außen gerichtete, logische, konkrete Verstand eines fortgeschrittenen menschlichen Wesens. Er war zwar vorher schon erfahren, jetzt aber ist er spirituell erleuchtet nach der mystischen Geburt.

So wertvoll der nach außen gerichtete Verstand auch sein mag, aus ihm kann keine Intuition8 geboren werden. Seiner Natur nach ist er intelligent, analytisch und auf Tatsachen bezogen. Die Intuition aber, die durch das Christkind symbolisiert wird, bringt rasche Verwirklichung latenter Ursachen und auch ernstzunehmende Warnungen hervor, die ganz unab­hängig von der nach außen gerichteten Verstandestätigkeit vor sich gehen.

Das unsterbliche Selbst - Maria - mit der Aufnahmefähigkeit für abstrakte9 Gedanken kann empfangen, verstehen und dies auch weitergeben an den nach außen gerichteten Verstand. Sie kann dieser intuitiv wirkenden Kraft Leben geben.

Die Offenbarungen der Intuition erscheinen auf einmal gerechtfertigt vor der Schranke, die der Intellekt aufgebaut hat, weil ihr beweglicher Ausdruck von einem weisen und ausgewogenen Verstand geleitet wird: Joseph. Er personifiziert hier den entwickelten Verstand des Einweihungskandidaten und ist somit zu Recht der vermeintliche Vater, nämlich der Pflegevater von Jesus.

Es waren Haustiere bei der Geburt zugegen. Sie stellen die in Zucht und Sauberkeit gehaltenen Empfindungen dar. Die Krippe, als Futterbehälter, kann für den Vitalkörper oder den Ätherleib10 genommen werden, der durch den physischen Körper die Lebenskraft der Sonne aufnimmt, erhält und verteilt. Der Stall selbst stellt den physischen Körper dar.

In dieser wunderschönen Weihnachtsgeschichte ist mit der Sprache der Symbole aufs Genaueste dargestellt, wie der ganze Mensch in allen seinen Trägern dem spirituellen, dem emotionellen, dem vitalen, dem physischen beschaffen ist.

Außerdem ist die Geschichte noch so erzählt, dass sie tiefe, metaphysische Wahrheiten von universeller Bedeutung offenbart.

Die Hirten auf dem Felde und die Heiligen Drei Könige

Die Hirten auf dem Felde sind die großen Seelenhirten, die vervollkommneten Menschen auf Erden, die „Älteren Brüder der Menschheit",11 die überaus seltenen Blüten der Menschheit. Der Apostel Paulus bezeichnet sie in Hebr. 12, 23 als „die Gemeinde der Erstgeborenen, die im Himmel angeschrieben sind als die Geister der vollendeten Gerechten und als Mittler..." Paulus entfaltet dabei in mannigfacher Weise ein Wissen von der metaphysischen Bedeutung der Jesus-Legende.

Die Hirten sind zu recht in die Weihnachtsgeschichte verwoben. Denn wenn ein Mensch den Entwicklungszustand erreicht, in dem die Christus-Kräfte in ihm geboren werden können, dann wird er in die Nähe der GROSSEN auf Erden gezogen, der GROSSEN, die der Menschheit in der Entwicklung vorausgingen.

Ein majestätisches Schauspiel enthüllt sich vor den Augen der Hirten, nachdem die göttliche Zustimmung gegeben ist. Die Hirten sind auch deswegen einbezogen in die Legende, um eine mögliche Beschreibung zu geben von dem, was EINWEIHUNG genannt wird. Eine Einweihung vollzieht sich immer in Gegenwart der VOLLKOMMENEN unserer Erde, in Gegenwart der Adepten unseres Planeten, in Gegenwart der wahren Seelenhirten.

Die Magier oder die Weisen, die Könige aus dem Morgenlande, traditionsgemäß drei an der Zahl, werden in den Bibel-Auslegungen sehr verschieden aufgefasst. Einerseits sind sie zu beziehen auf die drei Aspekte oder Auswirkungen des inneren unsterblichen Selbst im Menschen. Diese drei Aspekte heißen: spiritueller Wille, spirituelle Weisheit und spirituelle Intelligenz. Jedes dieser drei Wirkungsfelder ist zu der Zeit ausreichend aktiv, um zu seinem Teil die besonderen Kräfte oder Gaben auszuteilen, die den Einzuweihenden stärken, leiten und erleuchten sollen für das neue Leben, in das er nun eintritt.

In einer anderen Auslegung beziehen sich die drei Magier auf den gereinigten Geist, auf die gereinigten Gefühle und auf die gereinigten körperlichen Kräfte des Einzuweihenden, also auf dessen vermehrte Fähigkeiten oder Gaben, die dem Christus, der nun in ihm geboren ist, dargeboten oder übergeben werden.

Symbolisch werden die Gaben dem neugeborenen Christkind, also der eben erleuchteten Seele zu Füßen gelegt.
 
Der Stern von Bethlehem ist das weiße und feurige Pentagramm, welches über dem Haupte des Hierophanten12 leuchtet, wenn die Einweihungsriten zu Recht vollzogen werden. Er ist das Zeichen und ein Symbol dafür, dass die notwendigen Kräfte und Eigenschaften, insbesondere die der Selbstentäußerung, erlangt worden sind und dass die Einweihung vollzogen werden darf...

Der Kindermord zu Bethlehem

Hier bedeutet Herodes das Vergangene und das Christkind das Kommende. Zwischen diesen beiden Polen kann es nichts anderes als Unvereinbarkeit geben. Alte Gewohnheiten, Gelüste, Selbstgefälligkeiten, Selbstsüchte und die ganze materialistische, auf Weltlichkeit und Gewinn ausgerichtete Lebenseinstellung sind unvereinbar mit einem Leben der Liebe in aufopferndem Dienst, das nun gelebt werden will. Der Eingeweihte wird darum zunächst einige Schwierigkeiten zu überwinden haben, nämlich drängende körperliche Forderungen und eifersüchtige, angeberische und egoistische Verstandeszwänge, die durch Herodes symbolisiert sind, zu überwinden. Dieser Teil der menschlichen Natur, der Herodes im Menschen, wird seine Macht einbüßen in dem Maße, wie der Christ-gleiche Teil sich entwickeln darf. Der äußere Mensch nimmt diesen Verlust des Verstandesmäßigen irgendwie übel. Er macht sogar heftige Anstrengungen, um die Herrschaft des Neuen, die geistigen Vorstellungen in sich, zunächst zu verhindern. Symbolisch: Herodes mordet die unschuldigen Kindlein, nur um das neugeborene Christ-Kind zu vernichten.

Die Flucht nach Ägypten

Die Flucht nach Ägypten ist für den Symbolforscher von großem Interesse. Wiederum geht es um die ganze Zusammensetzung des Menschen, und alle sieben Zustände seines Wesens sind aufgezeichnet. Joseph, Maria und das Kind stellen hier das dreifältige, spirituelle Selbst im Menschen dar. Sie sind die in den Menschen reflektierte Heilige Dreieinigkeit: Vater, Sohn und Heiliger Geist. Die niederen Teile des Menschen: Verstand, Gefühl, Lebenswille und Fleisch (genannt die niedere Vierheit) sind auch hier, wie so oft, symbolisiert durch einen Vierfüßler.

Der für gewöhnlich so störrische Esel wurde zum Reittier erwählt für die Flucht nach Ägypten - und auch später für den Einzug nach Jerusalem am Palmsonntag. Hiervon spricht bereits der Prophet Sacharja 9, 9: „Aber Du, Tochter Zion, freue Dich sehr, und Du, Tochter Jerusalem, jauchze! Siehe, Dein König kommt zu Dir, ein Gerechter und ein Helfer, arm, und reitet auf einem Esel und auf einem jungen Füllen der Eselin..."

Der Esel ist, vom symbolischen Standpunkt aus, eine sehr passende Wahl. Denn die stofflichen Teile der menschlichen Natur, die niedere Vierheit, versucht stets ganz störrisch sich dem Willen des Geistigen, das ein jeder in sich trägt, entgegenzustemmen. Wenn erst einmal das spirituelle Selbst die Oberhand gewonnen haben wird, dann werden die widerborstigen und eigenmächtigen Eigenschaften in Sanftmut verwandelt sein, dann wird der äußere Mensch dem inneren gehorsam. Die gezähmte, vierfältige Persönlichkeit ist gut dargestellt durch das Symbol eines vierbeinigen Haustieres, durch den bisher noch störrischen Esel, der jetzt so willig seinen Dienst versieht [...]

Geoffrey Hodson, The Hidden Wisdom in the Holy Bible, übersetzt, ausgewählt und herausgegeben in 5 Teilen von Beate Maltusch 1973 in der Theos. Gesellschaft Adyar (Auszug)
 
4 Christos / Christus = der Gesalbte. Würdename des Jesus von Nazareth, von der gleichen Bedeutung wie die alttestamentarische Bezeichnung „Messias" (G.H.)
 
5Aspekte, in der theosophischen Terminologie im Sinne von sich auswirkenden Möglichkeiten gebraucht. (G.H.)
 
6 Monade (griechisch) = das Einfache, Nichtzusammengesetzte, Unteilbare. Der göttliche Geist im Menschen, der Bewohner des Allerinnersten, von dem angenommen wird, seine Entwicklung nehme den Weg durch die vormenschlichen Bereiche der Natur, durch den Menschen hin zu einem Zustand der Adeptschaft, über den sich noch unbegrenzte Entwicklungshöhen ausdehnen. Die Bestimmung des Menschen durch Christus übernimmt diese Vorstellung, wenn ER sagt: Ihr sollt vollkommen sein gleich wie euer Vater im Himmel vollkommen ist (Matth. 5, 48).
 
7 die Verfasser der kanonischen Evangelien (Matthäus, Markus, Lukas und Johannes)
 
8 Intuition: unmittelbare ganzheitliche Wahrnehmung im Gegensatz zum Beobachten von Einzelheiten und dem Folgern aus diesen Beobachtungen. Erkennen ... ohne logisch-kausale (Schritt für Schritt aufbauende) Überlegung. (G.H.)

9 abstrakt: vom Dinglichen gelöst, unirdisch, unbenannt (G. H.)

10 Modell oder Archetypus für die Einzigartigkeit eines jeden Menschen. Gedacht als die Physis umgebend und mit ihr... verbunden.

11„Ältere Brüder": Vervollkommnete, Adepten: ein Adept (lat. adeptus) ist „einer, der es erreicht hat": vollkommene Bemeisterung seiner irdischen Natur, der Wissen und Macht besitzt entsprechend seinem hohen Entwicklungsstand, ein Voll-Eingeweihter in den Großen Mysterien, der über die Entwicklung der Menschheit wacht und sie leitet. (G. H.) Siehe auch frühere Artikel, u. a.: G. v. Purucker, „Die großen Weisen", H. P. Blavatsky, „Mahatmas und Chelas", I. K. Taimni, „Yoga und der gewöhnliche Mensch" in Theosophie heute, Jg. 2002, S. 114 ff, 57 ff, 60ff.

12 Hierophant: Das griechische Wort hierophantes bedeutet wörtlich „einer, der heilige Dinge erklärt". Ein Hierophant offenbart die heiligen Lehren und ist das Oberhaupt der Initiierten. Dieser Titel wurde den höchsten Adepten in den Tempeln des Altertums gegeben. (HPB, Lexikon)

 


Autor: Geoffrey Hodson