„New Age“ ist keine bestimmte Bewegung. Schon gar nicht wird sie – wie ich es bei einigen allzu misstrauischen Beobachtern aus gewissen protestantischen Kreisen lesen konnte – von geheimen Drahtziehern gelenkt, in deren Auftrag auch ich meine Bücher geschrieben haben soll. Der Begriff „New Age“ ist ziemlich weit und vage und versucht, alles zusammen zu fassen, was an neueren esoterischen Richtungen in den letzten zwanzig bis dreißig Jahren überall auf der Welt entstanden ist. Dabei gibt es, wie in solchen Fällen immer, eine Menge Scharlatanerie, viel Schwarmgeisterei und einiges, was durchaus der ernsthaften Betrachtung wert ist. Allerdings ist das meiste davon überhaupt nicht „new“, sondern entstammt dem uralten Menschheitswissen vieler Kulturen.

Im Großen und Ganzen dreht es sich bei all dem, was unter dem Sammelnamen „New Age“ läuft, um einen Versuch, aus dem rein positivistisch-materialistischen Weltbild heraus zu kommen und eine Brücke zu einer spirituellen, besser gesagt, ganzheitlichen Weltvorstellung zu bauen, welche die inzwischen unerträgliche Kluft zwischen Erkenntniswahrheit (Naturwissenschaft) und Glaubenswahrheit (Religion) überwindet. Der Mensch soll dabei wieder in eine lebendige, erfahrbare Beziehung, vor allem geistig-seelischer Art, zu der ihn umgebenden Natur und zum Kosmos gesetzt werden, Natur und Kosmos sollen dabei nicht mehr nur als rein materielle Träger physikalischer und chemischer Gesetze verstanden werden, sondern als eine durchaus beseelte und auch geisterfüllte Einheit der mannigfaltigsten Erscheinungsformen. Insofern dreht es sich um den Versuch, das bisherige, trotz aller Verfeinerungen noch immer rein materielle Weltbild zu überwinden, und zu einem neuen Bewusstsein von der Bedeutung des Menschen in der Welt durch zu stoßen. Das muss nicht im Geringsten in Widerspruch zu einer christlichen oder anderen monotheistischen Religion stehen. Ganz im Gegenteil.

Was meine persönliche Haltung in dieser Frage betrifft, so bin ich allerdings ganz entschieden der Überzeugung, dass wir zur Lösung der zahllosen Probleme, die uns die Entwicklung der vergangenen drei Jahrhunderte beschert hat, zu neuen Erkenntnismethoden und neuen Bewusstseinshaltungen kommen müssen, sei es auf gesellschaftlichem, wirtschaftlichem oder auch kulturellem Gebiet. Wenn uns das nicht aus freier Einsicht gelingt, dann werden es die Ereignisse sein, die uns belehren. Ich glaube nicht, dass das Ende der Menschheit bevorsteht, aber es wird sich um eine Maulschelle handeln, von der der Menschheit noch viele Jahrhunderte die Ohren klingeln werden.
Freilich muss man bei solchen Geburtswehen eines neuen Bewusstseins auch in Kauf nehmen, dass es Frühgeburten gibt, will sagen, recht absonderliche Sekten und verschrobene Heilserwartungen. Aber diese Dinge werden sich im Lauf der Geschichte ganz von selbst korrigieren. Sie sind jedenfalls – von wenigen Ausnahmen abgesehen – weniger gefährlich als ein Festhalten an all dem, was uns in diese gegenwärtige Sackgasse geführt hat.

 
Aus: Michael Ende "Zettelkasten. Skizzen und Notizen", Weitbrecht-Verlag, Stuttgart und Wien, 1994.


Autor: Michael Ende