Der Mensch, der in verständnisvoller Weise in Harmonie mit dem göttlichen Willen wirken will, muss alle Gedanken an Vorteil oder Vergnügen für das persönliche Selbst aufgeben, um sich, indem er für die Wohlfahrt und das Glück seiner Mitmenschen wirkt, ausschließlich der Vollstreckung jenes Willens zu widmen.

Das ist ein hohes Ideal, und es ist, weil wir eine so lange Geschichte der Selbstsucht hinter uns haben, schwer zu verwirklichen. Die meisten von uns sind von reinem Altruismus noch weit entfernt; wie sollen wir überhaupt anfangen, ihn zu erreichen, da wir doch in so vielen guten Eigenschaften der Kraft ermangeln und Unwünschenswertes besitzen?

Hier tritt nun das bereits erwähnte große Kausalitätsgesetzt in Tätigkeit. Genau so vertrauensvoll, wie wir Naturgesetzen der physischen Welt begegnen, so können wir uns auch diesen Gesetzen der höheren Welt anvertrauen. Wenn wir schlechte Eigenschaften in uns vorfinden, dann sind diese durch unsere Unwissenheit und Mangel an Selbstkontrolle allmählich entstanden. Tritt nun aber Wissen an Stelle der Unwissenheit, und erkennen wir infolgedessen eine gewisse Eigenschaft als ein Übel an, so ist auch der Weg, sie abzuwerfen, leicht zu finden!

Jedes Laster hat als Gegensatz eine entsprechende Tugend; finden wir, dass sich irgendein Laster in uns zu regen beginnt, dann müssen wir mit Entschiedenheit versuchen, die gegenteilige Tugend in uns zu entwickeln. Wenn jemand einsieht, dass er in der Vergangenheit selbstsüchtig war, d. h. dass in ihm die Gewohnheit vorherrscht, erst an sich und sein Vergnügen und Behagen zu denken, ohne Rücksicht auf andere, dann möge er mit Entschlossenheit beginnen, genau die gegenteilige Gewohnheit anzunehmen und es sich zur Regel zu machen, bevor er etwas tut, daran zu denken, wie dies auf die Menschen in seiner Umgebung wirken würde; er möge anfangen, anderen aus Gewohnheit gefällig zu sein, selbst auf Kosten eigener Unannehmlichkeit und Entbehrung. Mit der Zeit wird ihm dies zur zweiten Natur werden, und auf diese Weise wird durch deren Entwicklung die andere abgelegt.

Ist jemand fortwährend argwöhnisch und geneigt, dem Tun seines Nächsten stets böse Motive unterzuschieben, so möge er sich mit Entschlossenheit zu Vertrauen in seine Mitmenschen erziehen und ihnen stets die denkbar edelsten Motive zutrauen. Man könnte sagen, dass ein vertrauensseliger Mensch nun aber oft betrogen wird und dass man sein Vertrauen missbraucht. Das ist jedoch von geringerer Bedeutung; denn es ist weit besser für einen Menschen, dass er bisweilen infolge seines Vertrauens in andere betrogen wird, als dass er sich durch fortwährenden Argwohn davor bewahre. Außerdem ist bekannt, dass Vertrauen Treue hervorruft. Ein Mensch, dem man vertraut, wird sich im Allgemeinen des Vertrauens würdig erweisen, während ein Mensch, dem man mit Verdacht begegnet, diesen Verdacht wahrscheinlich bei Gelegenheit rechtfertigen wird. – Merkt jemand, dass er die Tendenz hat, geizig zu sein, so möge er sich zur Freigiebigkeit zwingen; ist er leicht reizbar, so befleißige er sich entschlossen der Gelassenheit; wird er von Neugier verzehrt, so möge er sich immer und immer wieder standhaft gegen deren Befriedigung sträuben; ist er hingegen Anfällen von Niedergeschlagenheit unterworfen, so zwinge er sich zur Heiterkeit, selbst in ganz verfahrene Fällen. Stets bedeutet das Vorhandensein einer schlimmen Eigenschaft in der Persönlichkeit einen Mangel an der entsprechenden guten Qualität im Ego.[1]

Der kürzeste Weg der Befreiung von diesen schlimmen Qualitäten und des Verhinderns ihres Wiederauftretens besteht im Ausfüllen der Lücke im Ego, da dann die so entwickelte gute Eigenschaft in allen zukünftigen Leben einen Teil seines Charakters bilden wird. Ein Ego kann nicht schlecht sein, aber es kann unvollkommen sein. Die Eigenschaften, die es entwickelt, müssen gute sein, und wenn sie sich recht befestigt haben, kommen sie in allen seinen zahlreichen Persönlichkeiten zum Vorschein, die infolgedessen niemals in die gegenteiligen Laster verfallen können. Wo das Ego aber eine Lücke hat, wo eine Eigenschaft unentwickelt geblieben ist, da existiert nichts in der Persönlichkeit, das ein Wachstum des gegenteiligen Lasters hindern könnte; und da andere Menschen in seiner Umgebung jenes Laster bereits haben, und der Mensch ein nachahmendes Geschöpf ist, so wird es sich höchstwahrscheinlich sehr bald in ihm manifestieren. Dieses Laster gehört jedoch nur den vergänglichen Körpern des Menschen und nicht ihm selbst an. Allerdings kann durch eine häufige Wiederholung dieses Lasters in den Körpern eine schwer zu besiegende Kraft erzeugt werden; bemüht sich jedoch das Ego, die entgegengesetzte Tugend zu entwickeln, so wird das Laster sozusagen mit der Wurzel ausgerottet und kann nicht weiter existieren – weder in diesem Leben noch in allen späteren.
Einem Menschen, der die Entwicklung dieser Eigenschaften versucht, werden sich auf seinem Weg gewisse Hindernisse entgegenstellen, Hindernisse, die er überwinden muss. Eines dieser Hindernisse ist der kritische Geist unserer Zeit, die Neigung, alles zu tadeln und herabsetzen zu wollen und in allem und jedem nur die Fehler zu finden. Für den Fortschritt ist aber das genaue Gegenteil notwendig. Wer seine Entwicklung beschleunigen will, muss lernen, überall das Gute zu sehen, - und in allem und jedem die schlummernde Gottheit zu entdecken. Nur so kann er anderen Menschen helfen, und nur so kann er allen Dingen das Beste entnehmen.

Ein anderes Hindernis ist der Mangel an Ausdauer. Unsere Zeit neigt zur Ungeduld; versuchen wir irgendeinen Plan, so erwarten wir ein sofortiges Resultat; erhalten wir es nicht, dann geben wir den Plan auf und versuchen etwas anderes. Auf diese Weise macht man jedoch keine Fortschritte im Okkultismus. Der Zweck unserer Bemühungen ist der, in ein oder zwei Leben uns so weit zu entwickeln, wie es sonst nur in etwa hundert Leben möglich wäre. Und bei einem derartigen Unternehmen kann man nicht ein sofortiges Resultat erwarten. Wir versuchen, ein Laster mit der Wurzel auszurotten und finden, dass es eine harte Arbeit ist. Warum? Weil wir dieses Laster vielleicht zwanzigtausend Jahre lang haben wachsen lassen. Die Gewohnheit von zwanzigtausend Jahren kann man aber nicht in ein oder zwei Tagen abschütteln. Wir haben zugegeben, dass diese Gewohnheit zu einer enormen Kraft angewachsen ist, und ehe wir eine entgegengesetzte Kraft frei wirken lassen können, müssen wir diese erst überwinden. Das kann natürlich nicht in einem Augenblick geschehen, aber wenn wir beharrlich sind, dann ist es absolut sicher, dass es geschehen wird, weil die Kraft, so stark sie auch sein mag, von begrenzter Quantität ist, während die Macht, die wir ihr entgegenstellen können, die Tag um Tag, Jahr um Jahr, ja, wenn es sein muss, selbst Leben um Leben, erneute Anstrengungen machen kann, die unendliche Macht menschlichen Willens ist.
Eine andere große Schwierigkeit auf unserem Wege ist der Mangel an Klarheit im Denken. Die Bewohner der westlichen Länder sind in betreff religiöser Dinge wenig an klare Gedanken gewöhnt. Alles ist unklar und verschwommen; dies ist aber für okkulte Entwicklung ein Hindernis. Unsere Begriffe müssen scharf umrissen und unsere Gedankenbilder bestimmt sein. Ferner sind Ruhe und Heiterkeit absolut nötig; beide sind zwar im modernen Leben selten zu finden, aber sie sind für die zu unternehmende Arbeit von wesentlicher Bedeutung.

[1] dem Höheren Selbst
 
Aus: Charles W. Leadbeater "Ein Textbuch der Theosophie", Ring-Verlag, Düsseldorf, 1932.


Autor: Charles W. Leadbeater