Eine Erzählung
Eine Frau stand an der Straße und bettelte. Sie war blind und wurde von einem kleinen Jungen geführt, dessen hellleuchtende blaue Augen die Leute veranlassten, darüber nachzusinnen, ob die Augen seiner Mutter ebenso schön waren, ehe sie zerstört wurden. Anscheinend waren sie bei einem Unglücksfall ausgelöscht worden. In Wahrheit hatte sie sich in ihrem höheren Selbst freiwillig in dieses Leiden und diesen Verlust ergeben. Denn eine der größten Versuchungen für sie lag in dem Entzücken, das sie empfand, wenn sie auf das Kind schaute, das sie über alles liebte. Es bereitete ihr die größte Freude, wenn sie den Knaben anblicken konnte. Es war ihr oft so, als wäre sie nicht bloß seine Mutter, sondern sein Schöpfer selber. Und so hatte sie sich ganze Zeitalter hindurch gegen die Wahrheit aufgelehnt, dass Gott der Herr gibt, und Gott der Herr auch wieder nimmt. Ihre übergroße Liebe zu ihrem Kinde war zu einer Fessel ihres Fortschrittes geworden.
Der kleine barfüßige Junge mit den leuchtenden Augen hielt die zarte Hand ausgestreckt, und viele warfen Münzen hinein, weil sie von der Schönheit, der hingebenden Liebe und dem vollen Vertrauen, die aus seinem Antlitz strahlten, ergriffen waren.
„Wenn man ihn so anschaut, kann man viel lernen“, meinte eine Frau zu ihrer Begleiterin, blieb stehen und sagte dann: „Er scheint so glücklich und froh zu sein wie ein kleiner Prinz.“
„Sie haben recht“, sagte die Mutter, „obwohl kleine Prinzen oft nicht so aussehen wie er, meine ich. Ich kann sie noch hören, obwohl ich langsam taub werde.“
„Taub und noch dazu blind!“ sagte die Frau. „Sie haben ein schweres Los.“
Die Mutter presste die Hand ihres Kindes an sich und hielt sie fest.
„Die Taubheit nimmt schnell zu. Bald werde ich seine fröhliche, kleine Stimme nicht mehr hören können. Nie werde ich seine Stimme hören, wenn er ein Mann geworden ist. Doch ich will nicht klagen, denn ich kann ja noch seine Hand halten.“
Die Frauen bedauerten sie und gingen weiter. Ein Jahr später sahen sie sie wieder. Sie wanderte im Lande umher und kehrte jetzt auf den Wegen zurück, die sie im letzten Jahr gegangen war. Sie sprachen sie an, aber sie bemerkte sie gar nicht. Sie war ganz taub. Sie murmelte etwas vor sich hin. Eine der beiden Frauen beugte sich vor, um besser verstehen zu können, was sie flüsterte.
„Lass mich langsam absterben, wenn das die richtige Strafe für mich ist, HERR; und nimm mich so hinweg. Doch lass ihn zum Manne werden und lass ihn sich selbst der Welt hingeben.“
Die rebellierende Seele hatte den Pfad betreten und das Kreuz auf sich genommen.
Im nächsten Jahr stand der Knabe eines Tages allein auf der Straße, als er die freundliche Frau wiedererkannte, die seine Mutter bemitleidet hatte. Er sprach sie an und erzählte ihr, dass seine Mutter völlig gelähmt sei und hilflos in einer nahen Hütte liege. Die Frau ging hin, um sie zu besuchen, und pflegte sie mit der Güte, die arme Menschen einander entgegenbringen. Andere kamen auch, um für sie zu sorgen; und der Junge ging zur Schule. Der Tag kam, da sie aller ihrer Sinne beraubt war und nicht mehr wusste, ob ihr Kind bei ihr war oder nicht. Sie lag stumpf da wie ein Klotz. So wurde die Sühne vollendet. Als endlich ihre Erlösung da war und der unempfindliche Körper zu atmen aufgehört hatte, erhob sich stark und schön aus ihm die Seele. Denn sie, die sich willig der Strafe der Einkerkerung in das Schweigen jener verdunkelten Schale unterworfen hatte, hatte das große Licht gefunden und schaute auf zum ALLERHÖCHSTEN.
Der Knabe wuchs auf und wurde ein großer Mann, ein Führer der Menschen, der von vielen geliebt wurde. Oft sagte er, dass er in Augenblicken großer Sorge und hoher Verantwortung die Gegenwart der Seele jener Mutter fühlte, die ihn so sehr geliebt hatte, und die ihn dann aufrichte und begeistere.
In seinem Herzen wusste er, dass diese Seele sein anderes Selbst war, das endlich dem ALLERHÖCHSTEN huldigte und aufgehört hatte, sich aufzulehnen. Er wusste, dass sie jetzt einander gleich waren, und dass die Zukunft für sie beide ein großes Werk bereit hielt, das von einem einzelnen allein nicht geleistet werden kann und unaussprechlich Freude in sich birgt, die kein Mensch zu erfassen vermag.
Über den Weg des Kreuzes
- Kommentar -
Ein großer Lehrer nach dem andern ist auf diese Erde herniedergekommen, um den Menschen bei der Lösung der schwierigen Aufgabe zu helfen, die sie unternommen haben, nämlich den Pfad zu finden, der aus der Hölle, in die sie fielen, zurück zum Allerhöchsten führt. (…) Sie haben Seelen mitgebracht, die fähig sind, zu führen und zu lehren. (…) Sie haben auch unter den Menschen selbst Schüler gefunden, die genügend stark und ergeben sind, um Schulen des Geistes zu gründen. Die Verleugnung der alleinenden Wahrheit führt zu geistiger Verdunkelung. Die Menschen trennen sich selbst immer wieder von ihren Lieben, die den physischen Plan verlassen haben, indem sie sie für tot halten, statt sich daran zu erinnern, dass sie nur ein abgetragenes oder unzulängliches Gewand abgeworfen haben und in einen Zustand von größerer Lebensfülle und Kraft eingetreten sind. (…) So trennen sich die Menschen selbst von dem Lichte und dem Allerhöchsten, indem sie nur ins Dunkel schauen und leugnen, dass es etwas anderes als dieses Dunkel gibt. Jene aber, die ihr Kreuz auf sich nehmen können, die das Leid hinnehmen und sich mühen, den Weg zu verstehen, betreten den Pfad. Dieser Weg steht allen Menschen offen, und die Vorangeschrittenen sind allen nahe.
Autor: Mabel Collins