Einige Gedanken über die letzten Hefte

von Theosophie heute

Dr. Bernhard Prediger

Unter der Überschrift „Theosophie als Quelle der Zuversicht“ schreibt Reiner Ullrich auf Seite 107 des letzten Heftes (Nr. 3/2008):

Wer sein Leben „wie geplant“ meistert, wem alles gelingt, wer Freunde, Familie, hoffnungsvolle Kinder hat ..., den plagen weder Sorgen noch Selbstzweifel, der ist keines Trostes bedürftig. Wer jung (geblieben) ist und gesund und erfolgreich, wer so viel an materiellen und anderen Gütern besitzt, dass er sich alle (vernünftigen) Wünsche erfüllen und dazu noch Bedürftigen von seinem Überfl uss mitteilen kann (oder doch zumindest könnte) – einem solchen „Glückspilz“ liegen Sorgen naturgemäß fern.

Es mag dies in den meisten Fällen dieser Art so sein und, so lange sich die irdische Existenz eines solchen Menschen noch im Aufbau befi ndet, fast ausnahmslos gelten.

Von einem Gegenbeispiel berichtet Karlfried Graf Dürckheim in einem seiner Vorträge: Eben ein solcher „Glückspilz“ kommt zu ihm, erklärt seine Lage genau wie beschrieben und sagt sodann: „Gleichwohl, Herr Professor, bin ich kreuzunglücklich. Was ist mit mir los?“

Demjenigen, der sich lange genug mit Theosophie und verwandten spirituellen Schulen und Lehren befasst hat, dürfte die Antwort auf diese Frage nicht schwer fallen. Sie kann nur lauten: Hier wird jemand von seinem höheren Selbst mit Nachdruck angerufen, sich nun, nachdem er sein Leben in der polaren Welt so erfolgreich gestaltet, ja gemeistert hat, dem eigentlich wichtigen in seinem Leben, seinem göttlichen Wesen zuzuwenden. Denn „wir sind nicht nur von dieser Welt“.1

Es steht zu hoffen, dass immer mehr Erfolgsmenschen dieser Art einen solchen Anruf von Innen nicht überhören, ihm inneren Raum geben und dann letztlich vielleicht sogar folgen. Denn gerade was sie tun, wird in unserer Gesellschaft beachtet. Sie sind vornehmlich das, was man geeignete „Vervielfältiger“ nennt. Dabei ist unter den genannten Gesichtspunkten vornehmlich interessant, was sie am Ende ihres Lebens gewissermaßen als die Summe aller ihrer Erfahrung gedacht haben, und weniger das, was in der Zeit davor ihr „Credo“ war und was ihnen vielleicht zu dem dargestellten
äußeren Erfolg verholfen hat.

Wir haben uns einige Hefte zuvor mit Immanuel Kant und seiner geistesgeschichtlichen Rolle befasst. Als Ergebnis haben wir anhand des Inhalts seiner gegen Ende seines Lebens und seiner akademischen Laufbahn gehaltenen Vorlesungen feststellen können, wie weit er sich von seiner früheren Aufklärungsphilosophie entfernt hat und wie sehr er sich expressis verbis dem zugeneigt hat, was wir als theosophische Auffassung heute bezeichnen.2

Ganz ähnlich muss es Charles Darwin gegangen sein, dessen Bedeutung für das heutige Weltbild anlässlich seines 200. Geburtstages in den nächsten Heften von Theosophie heute noch gebührend Raum gegeben werden soll. Er wird in Heft 1/2008 S. 13 vom Verfasser dieser Zeilen wie folgt zitiert:

„Ich habe meinen Geschmack für Gemälde und Musik beinahe verloren. Mein Geist scheint eine Art Maschine geworden zu sein, allgemeine Gesetze aus großen Sammlungen von Tatsachen heraus zu malen. Wenn ich mein Leben noch einmal zu leben hätte, so würde ich mir zur Regel machen, wenigstens alle Woche einmal etwas Poetisches zu lesen oder etwas gute Musik anzuhören. Denn vielleicht wären dann die verkümmerten Teile meines Gehirns durch den Gebrauch tätig geblieben“.

Um noch einmal an Karlfried Graf Dürckheim anzuknüpfen: Er erzählt zwei weitere Geschichten aus seiner Therapiepraxis, die beide deutlich machen, wie wenig spirituelle Reife und spirituelles Wachstum mit Lebensalter oder intellektuellem Vermögen zu tun haben.

Dürckheim berichtet in einem seiner Vorträge von einem Seminar über die von ihm vertretene „Initiatische Therapie“, das er auf Einladung eines Wirtschaftsunternehmens vor einer größeren Zahl von Mitarbeitern gehalten hat. Bei dem anschließenden Abendessen fragte er den neben ihm sitzenden Finanzchef des Unternehmens, ob er denn mit dem Inhalt des soeben gehörten Vortrages etwas habe anfangen können.

Der Höflichkeit gewohnte Finanzmanager sagte daraufhin aufrichtig genug zu Dürckheim: „Ach wissen Sie, Herr Professor, was Sie da gesagt haben, scheint mir doch alles sehr theoretisch zu sein.“ Auf die Nachfrage von Dürckheim, was denn dann aber für ihn besonders praxisbezogen von Interesse sei, erhielt er die Antwort: „Na zum Beispiel unsere Bilanzen mit Gewinn- und Verlustrechnungen.“

Das Gegenbeispiel begegnete Dürckheim noch auf derselben Tagung, als er das Firmengebäude in Richtung Ausgang verließ. Am Ende der nach unten führenden Treppe stand ein freundlicher, bieder aussehender Mann, drehte etwas verlegen seinen Hut in der Hand und ging sodann auf Dürckheim zu und sagte in Worten, die er sich gut zurechtgelegt hatte, er wolle sich bei Dürckheim ausdrücklich für das soeben Gehörte bedanken. Auf entsprechende Nachfrage Dürckheims sagte er dann auch noch:

„Ach wissen Sie, Herr Professor, so ganz genau, dass ich das, was ich bei Ihnen gehört habe, hier so einfach wiedergeben könnte, so genau habe ich es nicht verstanden. Aber ich kann Ihnen sagen, ich weiß genau was sie meinen.“

Und dann erzählt Dürckheim noch von einer Besucherin, die eine zeitlang an der Wirkungsstätte Dürckheims in Rütte im Schwarzwald lebte. Die spirituelle Reife dieser Jugendlichen war den dort tätigen Therapeuten und auch Dürckheim sehr bald klar, ebenso allerdings ihr Problem, mit den praktischen Anforderungen des Lebens in geeigneter Weise zurecht zu kommen, handelte es sich dabei zum Beispiel darum, ihr Zimmer in Ordnung zu halten oder aber den ihr übertragenen Aufgaben im Rahmen der dortigen Gemeinschaft gerecht zu werden.

Eines Tages erschien ein junger Mann, der sich augenscheinlich sehr für sie interessierte, und alle waren gespannt, was das nun geben werde. Eines Abends rauschte Susanne, so will ich sie an dieser Stelle einmal nennen, in Graf Dürckheims Arbeitszimmer, pfl anzte sich dort auf das Besuchersofa und sagte zu Dürckheim: „Jetzt ist er wieder weg.“ Und auf die Nachfrage Dürckheims: „Er hat die ganze Welt, das Universum und den Sinn des Lebens bei mir gesucht. Und die hat er auch gefunden. Dann aber suchte er auch noch eine Frau zum Zusammenleben und die bin ich noch lange nicht.“

Diese von Dürckheim für erzählenswert gehaltenen Beispiele spiritueller Entwicklung machen klar, wie wenig spirituelle Reife und praktische Lebenstüchtigkeit miteinander zu tun haben müssen, wenngleich es richtig bleibt, dass derjenige, der einen spirituellen Pfad für sich zu gehen beginnen möchte, gut beraten ist, zuvor oder gleichzeitig seine ganz normalen Pflichten gegenüber Familie, Beruf und Mitmenschen handwerksgerecht und ordentlich zu erfüllen.

In den beiden letzten Heften von Theosophie heute ist im übrigen von Maurice Maeterlincks Der blaue Vogel die Rede – eine Thematik, die an frühere Artikel über Märchen und ihre spirituelle Bedeutung anknüpft, die Gegenstand theosophisch nachforschender Überlegungen in zwei der vorhergehenden Hefte war.

Dass der Autor Maeterlinck es verdient, in einer theosophischen Zeitschrift gewürdigt zu werden, wird insbesondere dadurch betont, dass er von Hermann Hesse in seinem Werk Magie des Buches als spiritueller Geist besonders gewürdigt worden ist. Immerhin war Maeterlinck im Jahre 1911 Literaturnobelpreisträger3 und damit in seinen Äußerungen über Spiritualität, also dem Hauptgegenstand theosophischer Lehren, von ebensolchem Gewicht wie Hermann Hesse selbst. Dieser schreibt dort auf S. 14/15:

„Betrachten wir uns zum Schluss noch einen Romantiker von heute, einen lebenden, noch jungen, der schon abseits vom naturalistischen Bekenntnis aufwuchs und zur Zeit als Typus des Neuromantikers gelten kann. Ich rede von M. Maeterlinck. Bei ihm fi nden wir scheinbar keine Spur von Naturalismus mehr. Er stilisiert, er komponiert, er schmückt seine Dichtungen scheinbar mit der freien Willkür eines Brentano oder Hoffmann. Doch nur scheinbar. Auch er hat realistisch sehen und darstellen gelernt, man bemerkt das nur nicht sofort, weil er fast nur von unsichtbaren Dingen spricht. Im Eifer des Neuerers begann er seine Bahn als weltabgewandter Träumer und Einsiedler. Seither aber ist er mitten in seine Zeit und ihr Leben getreten. Aber er als erster hält unbeirrt an der Lehre des Novalis fest. Ihm spielen sich alle wichtigen Ereignisse im Innern ab, er entdeckte die „Tragik des Alltags“. Er sieht in jedem Menschen verborgen und verschüchtert die Seele wohnen, und er lockt sie mit zarten, schonenden Worten hervor, spricht ihr Mut ein und versucht, ihr die verlorene Herrschaft zurückzugeben“.

Und über Novalis schreibt Hermann Hesse dort auf Seite 11:

„Dass über den Bannkreis von Zeit und Ort hinweg Gesetze walten, dass der Geist dieser ewigen Gesetze in jeder Seele schlummernd wohnt, dass alle Bildung und Vertiefung des Menschen darauf beruht, diesen Geist im eigenen Mikrokosmos zu kennen, sich seiner bewusst zu werden und aus ihm den Maßstab für jede neue Erkenntnis zu nehmen, das ist in kurzen Worten die Lehre Novalis’“.4

Ich glaube, schöner und anmutiger kann man den Kern theosophischer Lehren nicht darstellen, wie hier von drei großen Geistern geschehen.

Wir haben gesehen, in welch vielfältiger Hinsicht die Lektüre der genannten Hefte von Theosophie heute geeignet ist, spirituelles Denken anzuregen und Zusammenhänge kennenzulernen, die uns der von der Theosophie behaupteten Einheit allen Lebens ein Stück weit näher bringt.

Jede Art von Literatur und Geisteswissenschaft, die diesen Namen verdient, ist nichts anderes als ein Stück weit Theosophie und wie aufgezeigt, können in den Heften von Theosophie heute Dinge in ihrem Zusammenhang Konturen gewinnen, die von den jeweiligen Autoren bzw. Redakteuren so weder geplant waren noch geplant werden konnten.

Ein weiteres kleines Beispiel aus den letzten Heften hierfür zum Abschluss: Der Verfasser dieser Zeilen hat in seinem Beitrag „Sind wir heute noch berechtigt, optimistisch zu sein?“ in Heft 2/2008 Albert Einstein zitiert mit seiner Feststellung: „Die wichtigste Frage, die ein Mensch stellen kann, lautet: ‚Ist das Universum ein freundlicher Ort?‘“ Dem aufmerksamen Leser wird nicht entgangen sein, dass sich eine theosophische Antwort auf diese Frage im Vorspruch des Textes von Shirley Nicholson, „Einheit allen Lebens“, abgedruckt im letzten Heft 3/2008 von Theosophie heute auf S. 82ff. befi ndet und wie folgt lautet:

„Die Natur hat alle Teile ihres Reiches durch feine Fäden der Sympathie miteinander verbunden, und es gibt selbst eine wechselseitige Beziehung zwischen einem Stern und einem Menschen.“

Dieses aus den Mahatma-Briefen, dem 1. Band, Brief Nr. 45 entnommene Zitat beantwortet die von Einstein gestellte Frage präzise und klar mit „ja“.

Nichts anderes aber bedeutet es, wenn in Heft 2/2008 von Theosophie heute in dem längeren Zitat aus Der kleine Prinz von Antoine de Saint-Exupéry, (vgl. S. 47ff.) davon die Rede ist, welch großes Geheimnis die Beziehung aller fühlenden Wesen zu unserem Sternenhimmel ist und dass es viel von der Einstellung des Menschen abhängt, ob die Sterne lachen oder weinen. „Das ist ein sehr großes Geheimnis“, sagt Saint-Exupéry hierzu.

Sinn vorstehender Ausführungen ist es, deutlich zu machen, wie sehr es sich lohnen kann, die Hefte von Theosophie heute genau und in ihrem Zusammenhang zu lesen und das eine oder andere Mal wieder zu lesen.

Vielleicht sind Schätze hineingeraten und insbesondere Zusammenhänge deutlich geworden, die von den Autoren der einzelnen Beiträge gar nicht beabsichtigt sein können. Vielleicht veranlasst diese Überlegung den einen oder anderen, die Hefte zu abonnieren und vielleicht schreibt der eine oder andere Leser, welche Gedanken durch einzelne Beiträge in ihm ausgelöst oder welche Fragen in ihm aufgeworfen worden sind, auch einmal ein paar Zeilen an die Redaktion, worüber sich diese freuen würde.

Besonders ein lebendiger Austausch zwischen Autoren und Redaktion einerseits und Lesern andererseits kann wiederum zu Ergebnissen und Erkenntnissen führen, die heute bestenfalls geahnt werden können. Etwas in dieser Richtung zu initiieren, war auch das Motiv zu vorstehenden Überlegungen.

1 So ein Buchtitel des Erfolgsautors Hoimar von Ditfurth.

2 Theosophie heute, Heft 2, 2006, S. 45-61.

3
Vgl. die Laudatio zur Nobelpreisverleihung an Maeterlinck: „Mit dem Instinkt und der Vorstellungskraft des Dichters ahnt er (Maeterlinck), dass der Mensch nicht nur der sinnlichen Welt angehört, und er erklärt ausdrücklich, eine Dichtung, die nicht den Widerschein der tieferen und verborgenen Wirklichkeit, den Ursprung der Phänomene erkennen lasse, sei unzulänglich … Maeterlincks Idealismus findet … einen glücklichen Ausdruck in seiner Erklärung, was höchste Dichtung sei. Ihr Ziel … liege darin, die großen Bahnen offenzuhalten, die von der sichtbaren zur unsichtbaren Welt führen. An mehreren Stellen taucht der … Gedanke auf, dass es hinter unserem sichtbaren Ich ein anderes Ich gebe, das unser wirkliches Wesen ausmache. Diese Idee … ist nicht weniger plausibel als die Lehre Kants vom vernunftbegabten Wesen, das ja die Grundlage für das empirische Wesen bildet. In „Le Temple Ensevêli“(1902) – „Der begrabene Tempel“ – fi nden wir die Idee einer unsichtbaren Persönlichkeit, die die Grundlage der sichtbaren Persönlichkeit bildet … Das Buch „La Sagesse et la Destinée“ (1898) – „Weisheit und Schicksal“… (ist) von einem sanften Optimismus. Das Schicksal wird als eine Macht defi niert, die dem Menschen selbst in die Hand gegeben ist. Es hängt von der Art und Weise ab, wie der Mensch seinen Willen gebraucht. Unglück und Sturz großer historischer Persönlichkeiten werden als selbstverschuldet dargestellt, als Folge eines Verlusts einstiger Größe, als Folge böser Taten, der Aufgabe früheren Selbstvertrauens und im Zusammenhang damit der Kraft, Gefahren siegreich zu begegnen.“ (Die vollständige Rede ist beim Coron Verlag in Zürich erschienen.)

4 Alle Zitate mit freundlicher Genehmigung des Suhrkamp-Verlages entnommen aus Magie des Buches von Hermann Hesse, Bibliothek Suhrkamp Nr. 542. Leider vergriffen, aber vollständig enthalten in Suhrkamp TB Nr. 415: Die Welt der Bücher.
 


Autor: Dr. Bernhard Prediger