Bemühe dich, indem du die ganze Kraft deiner Seele zusammenfasst, das Tor deines Verstandes gegenüber allen wandernden Gedanken zu verschließen, und gestatte nur jenen Gedanken einzutreten, die geeignet sind, dir die Unwirklichkeit des Sinnenlebens und den Frieden der inneren Welt zu offenbaren. Denke Tag und Nacht über die Unwirklichkeit deiner Umgebung und deiner selbst nach. Das plötzliche Auftauchen böserGedanken ist weniger schädlich als das von müßigen und gleichgültigen Gedanken. Denn gegenüber den bösen Gedanken bist du ständig auf der Hut, und da du dich entschlossen hast, sie zu bekämpfen und zu besiegen, hilft dir diese Entschlossenheit, die Kraft des Willens zu entfalten. Gleichgültige Gedanken hingegen dienen nur dazu, die Aufmerksamkeit abzuziehen und Kraft zu vergeuden.

Die erste große grundlegende Täuschung, welche du überwinden musst, ist die Gleichsetzung deiner selbst mit dem physischen Körper. Fange an, von diesem Körper nur als von dem Haus zu denken, in dem du für eine bestimmte Zeit zu leben hast, dann wirst du seinen Versuchungen nie mehr nachgeben. Versuche auch, durch beharrliche Anstrengungen die hervorstechendsten Schwächen deiner Natur zu überwinden …

Traurigkeit ist nichts Böses. Aber klage nicht; scheinbare Leiden und Hindernisse sind oft in Wirklichkeit nur die geheimnisvollen Bemühungen der Natur, dir in deiner Arbeit zu helfen, du musst dich ihnen gegenüber nur richtig verhalten. Betrachte alle Umstände mit der Dankbarkeit eines Schülers. Alles Klagen bedeutet Auflehnung gegen das Gesetz des Fortschrittes. Was du vermeiden sollst, sind jene Leiden, die noch nicht gekommen sind. Die Vergangenheit kann nicht verändert oder verbessert werden; was zu den Erfahrungen der Gegenwart gehört, kann und soll nicht gemieden werden. Was aber gemieden werden soll, das sind in gleicher Weise einerseits beunruhigende Vorwegnahmen und Sorgen vor der Zukunft und andererseits alle Handlungen und Gemütsregungen, die dir selbst oder anderen künftiges Leid verursachen könnten.

Nichts Wertvolleres kann ein Mensch besitzen als ein erhabenes Ideal, dem er beständig zustrebt, nach dem er sein Denken und Fühlen formt und, so gut er kann, sein Leben gestaltet. Wenn er sich so bemüht, mehr zu werden als zu scheinen, muss er seinem Ziele ständig näher kommen. Er wird dies aber nicht ohne Mühe und Kampf erreichen; auch wird der wirkliche Fortschritt, den er macht und dessen er sich bewusst wird, ihn nicht mit Eigendünkel und Selbstgefälligkeit erfüllen, denn wenn sein Ideal erhaben ist und sein Fortschritt echt, wird er sich eher demütiger fühlen als aufgeblasen. Die Möglichkeiten zu noch weiterem Fortschritt und das Erkennen noch höherer Daseinsebenen, die sich vor ihm eröffnen, werden seinen Eifer nicht dämpfen, aber alle Eitelkeit werden sie in ihm sicherlich ertöten. Gerade dies Erkenntnis der ungeheuren Möglichkeiten im Leben des Menschen ist aber auch notwendig, um ihn aus seinem Gelangweiltsein aufzuwecken und seine Apathie in waches Interesse zu verwandeln. Sobald das Ziel des Lebens klar wird und seine wunderbare Möglichkeiten gewürdigt werden, wird das Leben so um seiner selbst willen lebenswert.

Der direkteste und sicherste Weg zum Erreichen dieser höheren Ebene ist die Pflege des Grundsatzes der Selbstlosigkeit, sowohl im Denken als auch im Leben. Eng fürwahr ist der Spielraum einer Schau, die sich nur auf das eigene Ich begrenzt und alle Dinge nach dem Grundsatz des Eigennutzes misst, denn solange die Seele so ichbegrenzt ist, ist es für sie unmöglich, irgendein erhabenen Ideal zu erfassen oder sich einer höheren Daseinsebene zu nähern. Die Voraussetzungen für einen solchen Fortschritt liegen mehr innen als außen und sind glücklicherweise von seinen äußeren Lebensumständen unabhängig. Es ist daher jedem die Möglichkeit geboten, von einer Höhe des Daseins zur nächsten fortzuschreiten und so mit der Natur zur Erreichung des offensichtlichen Zieles des Daseins zusammenzuarbeiten.

Wenn wir glauben, dass der Zweck des Lebens bloß darin liegt, unser materielles Ich zufrieden zu stellen und es ihm behaglich zu machen, wenn wir glauben, dass materieller Wohlstand das höchste Maß möglichen Glücks verleiht, dann verwechseln wir Hohes mit Niedrigem und halten eine Täuschung für Wahrheit. Unsere materielle Lebensweise ist eine Folge der materiellen Zusammensetzung unserer Körper. Wir sind „Erdenwürmer“, weil wir mit all unseren Wünschen an der Erde haften. Wenn wir uns fähig machen würden, einen Entwicklungspfad zu beschreiten, durch den wir weniger materiell und mehr ätherisch würden, so könnte eine Kultur von wesentlich anderer Art aufgebaut werden. …

Für einen Menschen mögen ein Dutzend Paläste eine unentbehrliche Notwendigkeit sein, für den anderen ist es ein Wagen, für den dritten eine Pfeife und so fort. Aber alle diese Notwendigkeiten sind nur solche, die der Mensch selbst geschaffen hat. Sie machen den Zustand, in dem der Mensch sich jetzt gerade befindet, für ihn angenehm, und verführen ihn dazu, in diesem Zustand zu verweilen und nichts Höheres zu erstreben. Sie können seine Entwicklung sogar hemmen, statt sie zu fördern. Alles Materielle muss aufhören, eine Notwendigkeit für uns zu sein wenn wir wirklich geistig fortschreiten wollen. Es ist das Begehren nach und die Vergeudung von Gedankenkraft auf die Vermehrung der Freuden des niederen Lebens, was den Menschen daran hindert, in das höhere Leben einzutreten.

aus: H. P. Blavatsky "Praktischer Okkultismus", Adyar-Verlag Graz, 1977 



Autor: H. P. Blavatsky