Erkenntnis

1.
Wenn es dir übel geht, nimm es für gut nur immer,
Wenn du es übel nimmst, so geht es dir noch schlimmer.
Und wenn der Freund dich kränkt, verzeih's ihm und versteh:
Es ist ihm selbst nicht wohl, sonst thät' er dir nicht weh.
Und kränkt die Liebe dich, sei dir's zur Lieb' ein Sporn;
Daß du die Rose hast, das merkst du erst am Dorn.
 
2.
Sich selber anzuschaun, der Schöpferkraft bewußt,
Erschuf Gott die Natur, den Spiegel seiner Lust.
Im Anblick der Natur, wenn du dich fühlst erbaut,
Da hast du ihn belauscht, der in den Spiegel schaut.
 
3.
Wie der Genesene ganz der Gesundheit Glück
Empfindet, wenn er an die Krankheit denkt zurück;
Des ungehemmten Stroms der Lebensfülle froh,
Wenn er der Hemmung nun, er hofft auf stets, entfloh:
So auch, wer voriger Verirrungen gedenkt,
Aus denen Gott ihn hat zur rechten Bahn gelenkt;
Er mag die rechte Bahn mit rechter Freude wallen,
Kraft fühlend und Entschluß, nie mehr zurück zu fallen.
Doch wie ein Nachgefühl der Krankheit den Gesunden
Oft leise mahnt, und, kaum sich meldend, ist geschwunden;
So den, der voriger Verirrung auch gedenkt,
Nur daß dies Nachgefühl von Krankheit stärker kränkt.
Denn einen Unterschied in dem, was wir erduldet,
Macht immer, ob es war ver- oder unverschuldet.
 
4.
Es hat Natur dem Mann dazu das Weib beschieden,
Damit der Geist gestellt sei durch den Leib zufrieden.
Der Geist, wenn er den Zoll der Sinnenwelt gegeben,
In seine Reiche soll er ungehindert schweben.
Wenn er im Innern nun des Lebens Früchte zeitigt,
Hat sie die Störungen von außen ihm beseitigt.
Und was er so vollbringt, das hat sie mit vollbracht,
Weil sie für ihn gelebt, weil er für sie gedacht.
Fragt ihr, in welcher Schul' ich, was ich lehre, lernte?
Mein Liebesfrühling trägt nun seine Weisheitsernte.
 
5.
Du klagest, daß die Welt so unvollkommen ist,
Und fragst, warum? Weil du so unvollkommen bist.
Wenn du vollkommen wärst, wär' auch die Welt vollkommen,
Die Unvollkommenheit wär' ihr von dir genommen.
Sie will Vollkommenheit nur mit dir selbst empfahn,
Und du bist noch so weit zurück auf dieser Bahn.
Dank ihr, daß sie mit dir will halten gleichen Schritt,
Und spute dich, daß sie auch vorwärts kommt damit!
6.
Sechs Wörtchen nehmen mich in Anspruch jeden Tag:
Ich soll, ich muß, ich kann, ich will, ich darf, ich mag.
Ich soll, ist das Gesetz, von Gott ins Herz geschrieben,
Das Ziel, nach welchem ich bin von mir selbst getrieben.
Ich muß, das ist die Schrank', in welcher mich die Welt
Von einer, die Natur von andrer Seite hält.
Ich kann, das ist das Maß der mir verlieh'nen Kraft,
Der That, der Fertigkeit, der Kunst und Wissenschaft.
Ich will, die höchste Kron' ist dieses, die mich schmückt,
Der Freiheit Siegel, das mein Geist sich aufgedrückt.
Ich darf, das ist zugleich die Inschrift bei dem Siegel,
Beim aufgethanen Thor der Freiheit auch ein Riegel.
Ich mag, das endlich ist, was zwischen allen schwimmt,
Ein Unbestimmtes, das der Augenblick bestimmt.
Ich soll, ich muß, ich kann, ich will, ich darf, ich mag,
Die sechse nehmen mich in Anspruch jeden Tag.
Nur wenn du stets mich lehrst, weiß ich, was jeden Tag
Ich soll, ich muß, ich kann, ich will, ich darf, ich mag.
 
7.
Nie stille steht die Zeit, der Augenblick entschwebt,
Und den du nicht benutzt, den hast du nicht gelebt.
Und du auch stehst nie still, der gleiche bist du nimmer,
Und wer nicht besser wird, ist schon geworden schlimmer.
Wer einen Tag der Welt nicht nutzt, hat ihr geschadet,
Weil er versäumt, wozu ihn Gott mit Kraft begnadet.
 
8.
So hilflos zu der Welt wird nie ein Tier geboren
Als wie der Mensch, der sich so hoch fühlt auserkoren.
Warum? Es hat Natur dadurch uns sagen wollen,
Daß wir uns selber und einander helfen sollen.
Die Mutter hilft zuerst dem Kind, der Vater dann;
Dann hilft es ihnen, und sich selber hilft der Mann.
 
9.
Wer sich als Menschen fühlt und tief in sich empfindet,
Daß mit der Menschheit ihn die Menschlichkeit verbindet,
Der wird nicht wollen, wird nicht können auch, die Leiden
Und Freuden des Geschlechts von seinen eignen scheiden.
Wes irgend einer vom Geschlecht sich freut' und litt,
Mitfreuen wird es ihn und leiden wird er's mit.
Doch Freud' ist Geistesthat, zur Freud' ist er berufen:
Ein Thor nur glaubt, daß ihn zum Leiden Götter schufen.
Vernunft will freie That; wer ihre Stimme hört,
Räumt freudig weg, was ihm Freiheit und Freude stört,
Räumt weg die Leidenschaft und mit ihr seine Leiden;
Wird er nun auch darum den Anblick fremder meiden?
Ja, wenn er, dumpf genug, nicht fühlt, was er nicht sieht,
Auch der Vorstellung mit dem Anblick sich entzieht.
Viel lieber kämpfen wird er mit des Geistes Waffen,
Vom Leiden frei wie sich auch andere zu schaffen.
Hat er in sich bekriegt das Leid und es besiegt,
Daß überwunden es zum Fuß der Freude liegt;
So wird er ihren Krieg auch andern helfen kriegen,
Daß sie, von seinem Sieg gestärkt, sich selbst besiegen.
Nicht weil er fühlt, daß er's in sich allein vollbracht,
Wird er die Schwächeren verlassen in der Schlacht.
Wes er sich selb schämt, wird er sich für sie nicht schämen,
Mit Freuden wird er teil an fremden Leiden nehmen.
Ob er den Gipfel auch der Göttlichkeit erstiegen,
Wo Erdendunstgewölk' in Ätherduft verfliegen;
Um wieviel mehr, wenn er sich sagen muß, er sei
Noch selbst von Leiden nicht und Leidenschaften frei.
 
10.
Auch mir will oft das Haupt der Greisenwahn umdüstern,
Von alter bessrer Zeit und neuer schlechtrer flüstern.
Doch gleich danieder schlägt den Wahn und die Verachtung
Der Gegenwart zerstreut die doppelte Betrachtung:
Daß ich doch schlechter nicht geworden, als gewesen,
Ja besser, als es war zu hoffen, bin genesen;
Und daß nun andre nicht sind schlechter, als ich war,
Und können darum noch viel besser werden gar.
 
11.
Nicht eine Stimme nur in dir warnt dich vorm Bösen,
Die du, wie leise, hörst trotz lautesten Getösen;
Dieselbe Stimme mahnt dich auch zum Guten an,
Die Zügel ist zugleich und Sporn auf deiner Bahn.
Nicht das Gesetz nur spricht in dir, das du gebrochen;
Dasselbe hat in dem, der nie es brach, gesprochen,
Du fühlst, daß dies Gesetz Gott selber in dir sei;
Und daß du ihm gehorchst, das macht von ihm dich frei.
Wie ein gelehrig Roß nicht Zügel fühlt noch Sporn;
Das widerspenst'ge nur fühlt seines Meisters Zorn.
 
12.
Vollendet wird hier nichts, nichts aber kann gelangen
Dort zur Vollendung, was nicht hier ward angefangen.
 
13.
Leicht ist's, mit der Natur im Einklang dich empfinden,
Wenn sie im wonn'gen Schoß dich wiegt mit weichen Winden;
Doch anders, wenn sie an dich haucht mit eis'gem Sturm,
Und schaudernd du vor ihr dich krümmest wie ein Wurm.
Dann fühlest du, daß sie das Leben nicht allein,
Der Tod auch ist und ihr gleichgültig Herz und Stein.
Dann danke Gott, der dich nicht gab in ihre Macht,
Und nimm dich künftig auch vor ihrer Huld in acht.
 
14.
Zwölf Jahre war ich alt, da hatt' ich ohne Fleiß
Fast alles und noch mehr gelernt, als ich nun weiß.
Ich hatte schon die Frucht, wovon den Ruhm nun haben
Manch andre, die zuerst ans Licht der Welt sie gaben.
Und rühm' ich dessen mich? Ich rühme nur die Zeit,
Durch deren neuen Trieb das Neu' allein gedeiht.
Gedanken kommen wie des Frühlings goldner Duft,
Sie sind nicht mein noch dein, sie schwimmen in der Luft.
Sei dankbar, daß die Welt so reich dir dargeboten
Des besten Wissens Schatz von Lebenden und Toten.
Du hast ihn nicht gesucht, du hast ihn nur gefunden;
Nun spend' ihn liebend aus und sei der Welt verbunden.
 
15.
Wie fern der Wirklichkeit, wie fern der Ahnung liegt
Der Unschuld Friedenswelt, wonach die Sehnsucht fliegt!
Wo mit dem Äußern nicht im Streit das Inn're war,
Dem Geiste klar die Welt, und er sich selber klar.
Wo rein im Wunschgenuß war Wunschbefriedigung,
Von Erdenschwere nicht behindert Himmelschwung.
Wir wünschen, Kindern gleich, nun Fest um Fest heran;
Und wie es ist erreicht, so ist es abgethan.
In nächster Zukunft scheint das goldne Glück zu liegen,
Und wird sie Gegenwart, so sehn wir's weiter fliegen.
Dein ganzes Leben ist verfallen dem Geschick,
Gewinnen mußt du's neu in jedem Augenblick.
Aus jedem Plätzchen läßt ein Paradies sich machen,
Und neugeschaffen fühlt sich täglich dein Erwachen.
Und neugeboren schläft die Welt in jedem Kinde,
Ihr Alter fühlt sich jung in jedem Frühlingswinde.
Das alles ist ein Hauch, ein Schatten und ein Traum,
Doch kann das Ewige nicht anders stehn im Raum.
 
16.
Das höchste Liebeswerk, das Menschen ist verliehn
Zu thun, ist, andere zur höchsten Liebe ziehn.
 
17.
Du wärest gerne reich, umhäuft von Überfluß,
Und gern auch arm zugleich, zufrieden im Genuß.
Du wärest gern berühmt, von aller Welt genannt,
Und gern auch ungestört, von niemand gar gekannt.
Du hättest gern zugleich den Himmel und die Erde;
Ich fürchte, daß dir so von beiden keines werde.
 
18.
In langem Umgang kann vermeiden ganz kein Mann,
Zu kränken und gekränkt zu werden dann und wann.
Wer aber weis' ist, sucht des Freunds Entschuldigung
In sich, und wer da sucht, der findet bald genung,
Sieht, ob er kann verzeihn mit Ehren und Gewissen,
Und will um Eitelkeit ein Menschenherz nicht missen.
 
19.
Wenn dein Gemüt ist frisch vom Tau der Nacht befeuchtet
Und deine Seele klar vom Morgenglanz durchleuchtet,
So schwinge mit Vertrau'n in Andacht dich empor
Und trage dein Gebet dem Herrn der Schöpfung vor!
Ein Vaterauge schaut, es hört ein Vaterohr;
Ihm trage dein Gebet mit aller Schöpfung vor!
Zum Himmel aufwärts blickt und ruft der Wesen Chor:
Nun trage dein Gebet mit Blick und Worten vor!
Den Wünschen aufgethan ist der Erhörung Thor;
O trage dein Gebet in frommen Wünschen vor!
 
20.
Du hast, vom Glück belehnt, ein schönes Fleckchen Erde;
Genieß es recht, daß dir's ein Stückchen Himmel werde.
Ich wünsche dir nicht ganz ein sorgenfreies Los,
Nur gegen den Genuß die Sorge nicht zu groß.
Ein wenig Salz ist gut, auch Pfeffer, am Gericht,
Nur übersalzen sei's und überpfeffert nicht.
 
21.
Was ist die Tugend? Schrank' und Maß der Menschenkraft;
Drum Menschentugend ist gleich Menschen mangelhaft.
Und manches, was für uns hier Tugend ist auf Erden,
Wird keine sein, wenn wir einst mehr als Menschen werden.
So ist's auch nicht für die, die mehr als Menschen sind,
Doch rechnen sie dir's an als Tugend, Menschenkind!
 
22.
Leb' in der Gegenwart! Zu leer ist und zu weit
Der Zukunft Haus, zu groß das der Vergangenheit.
In beiden weißt du nicht den Hausrat einzurichten
Der ungescheh'nen und geschehenen Geschichten.
Doch daß die Gegenwart nicht eng dir sei und klein,
Zieh die Vergangenheit und Zukunft mit herein.
Die beiden mögen dir erfüllen und erweitern
Die Wohnung und mit Glanz die dunkle schön erheitern.
 
23.
Aus Felsen springt der Quell, und Freiheit will ihm ahnen,
Das Schicksal reißt ihn schnell auf ungewählte Bahnen.
Er möchte dort hinab, doch er muß da hinunter;
Er schlingt und schlängelt sich und spielt mit Kieseln munter.
Er sammelt sich zum See, doch seine Lust ist kurz;
Er muß aus weichem Bett zum jähen Wassersturz.
Da meint er zu versprühn, doch kurz ist auch die Qual,
Er schnaufet aus und fließt, ein stiller Fluß, im Thal.
O Wandersmann am Quell, so wechselt Leid und Glück;
Das Leben rinnet schnell und kehret nie zurück.
 
24.
In der natürlichen Religion geboren
Wird jeder Mensch, und nie geht sie ihm ganz verloren.
Ihm angezogen wird ein äuß'res Glaubentum,
Das nimmt im Leben er wie einen Mantel um.
Er trag' es, weil er lebt; im Tode legt er's ab,
Da bleibt der Glauben ihm, den Gott ihm selber gab.
 
25.
Wer nur das Kleinste thut, was recht ihm dünkt und gut,
Wird finden, daß ihm gut davon der Nachschmack thut,
Du brauchst, was dir gelang, so hoch nicht anzuschlagen,
Um doch ein freudiges Bewußtsein mitzutragen.
Vor dem, was droben ich soll thun, ist eitel Tand,
Was ich hienieden that, doch ist's ein Liebespfand,
Das ich beim Abschied froh lass' in der Nachwelt Hand.
 
Friedrich Rückert
 


Autor: Friedrich Rückert (1788-1866), Dichter, Lyriker, Übersetzer, Prof. für orientalische Philologie in Erlangen