Ermutigung auf dem Pfad

Auszüge aus einem Brief

Gottfried v. Purucker

Kein Mensch ist ohne Schwierigkeiten irgendeiner Art. Und wir sollten uns daran erinnern, dass die Sorgen und Unannehmlichkeiten des Lebens unsere wahren Freunde sind - Freunde, weil sie unseren Charakter stärken; sie ge­ben uns Mitgefühl mit jenen, die leiden und in Not sind. Durch Stärkung der moralischen Kraft in uns befähigen sie uns auch, unsere eigene Last leichteren und freudigeren Herzens zu tragen. Wenn mit der Zeit das Leiden seine wunderbare Arbeit an uns getan hat, erscheint es uns nicht mehr als Leid, sondern wir erkennen darin mit ruhigem und klarem Blick und mit einem fröhlichen Herzen das geheimnisvolle Wirken der Götter.
 
Durch Leiden und durch das Verlangen nach Licht machen wir Fortschritte. Wenn das Licht erscheint, dann entstehen auch der große Friede und die große Wahrheit, und unsere Herzen sind beruhigt.
 
Halten Sie sich diese Gedanken vor Augen, wenn Ihre Schwierigkeiten Sie überwältigen. Versuchen Sie, die wunderbare, stille und wohltuende innere Ruhe und Liebe zu Ihren Mitmenschen zu vervollkommnen. Sie werden entdecken, dass dies alles Ihnen in allen wesentlichen Belangen Glück und Erfolg bringt.
 
Bedenken Sie, dass karmisches Leiden nie ewig dauert und meistens kurz ist, obwohl es uns mitunter lang erscheinen mag. Und wenn sich dieses Karma aufgebraucht und erschöpft hat, dann endet es und lässt einen neuen und besseren Zyklus entstehen.
 
Ich will versuchen, Ihre Frage bezüglich des Mangels an Zeit, die Ihnen für ein tieferes Studium der theosophischen Lehren fehlt, zu beantworten. Ich kenne Ihre Lage genau, und ich weiß, wie Sie sich danach sehnen, dem Studium der Grundlagen der Theosophie mehr Zeit widmen zu können. Das ist wirklich äußerst wichtig, aber darf ich Sie andererseits darauf hinweisen, dass es größer und edler ist, sein Leben der Sache der Meister zu widmen, als ein Wissen über die technische Theosophie zu haben [engl. „technical theosophy", gemeint ist hier die „theosophische Lehre"]; und das tun Sie ja. Dieses Handeln veredelt ein Karma mehr als ein Leben, das dem Studium der theosophischen Lehren gewidmet ist.
 
Ihre Situation bringt mir die einiger Chelas (Schüler) in Erinnerung, deren Herzen danach verlangten, mehr Zeit mit dem Studium der Weisheit der Götter zu verbringen. Sie sind aber dazu berufen, ihren Wunsch zu opfern und als Sendboten in die Welt zu gehen, um das an andere weiterzugeben, was sie selbst bereits erreicht haben. Verstehen Sie nicht, dass Ihr Problem dem dieser Chelas etwas ähnelt? Indem sie ihren Herzenswunsch nach mehr Licht hingegeben haben, sind sie selbst gewachsen. Sie haben innerlich tatsächlich mehr erreicht, als sie gewinnen würden, wenn sie die von den Lehrern auferlegte Pflicht versäumt hätten.
 
Darum lassen Sie sich von dieser Vorstellung trösten. Sie machen spirituell und intellektuell Fortschritte. Auch moralisch wachsen Sie, denn Sie führen ein edles Leben im Dienst an unserer heiligen Sache. Sie geben alles, was Ihnen möglich ist, ohne an Belohnung zu denken. Die Meister erwarten nicht einmal von ihren höchsten Schülern mehr.
 
Seien Sie daher nicht traurig und nicht entmutigt. Sie baten mich um meine ehrliche Meinung und um meinen Rat, den ich Ihnen jetzt gebe: ich wiederhole, dass Sie bei dem, was Sie jetzt tun, spirituell und intellektuell schneller wachsen als jemand, der allein irgendwo luxuriös und bequem lebt und sein Leben einem Studium ganz für sich allein widmet. Bedenken Sie, dass der Chelapfad mit einem Selbstopfer für die Welt beginnt und ebenso endet - wenn es tatsächlich ein Ende gibt, was nicht der Fall ist. Auf diese Weise entstehen die großen Meister der Weisheit und des Mitleids und des Friedens. Auf diese Weise werden die Buddhas hervorgebracht.
 
Trotzdem ist das Studium der Grundlagen wichtig. Ich freue mich sehr, dass Sie immer davon sprechen, denn es beweist, dass Sie genau die richtige Einstellung haben. Ich weiß aber auch, dass Sie einen großen Teil des technischen Wissens gerade dadurch gewinnen, dass Sie sich von ganzem Herzen der theosphischen Arbeit widmen. Sie nehmen es dabei auf, vielleicht ohne es zu merken. Sie entnehmen es der theosophischen Atmo­sphäre; und alles, was ich von Ihnen gelesen habe, zeigt mir, dass Sie ein großes grundlegendes Verständnis erlangen. Es ist eine tatsächliche Wahr­heit der Weißen Magie, dass ein Mensch durch selbstlosen Dienst an unserer Sache mehr lernt, als wenn er nur an sein eigenes Vorwärtskommen denkt und seine gesamte Zeit nur seiner persönlichen Entwicklung widmet. Letz­teres ist genau betrachtet selbstsüchtig. Es verschließt die Tore des Herzens und des Verstandes gegen das spirituelle Licht. Deshalb ist zwar der Wunsch nach persönlichem Fortschritt de facto ein edler, wenn er aber selbstsüchtig verwirklicht wird, verhindert der selbstsüchtige Wunsch sogar das Erreichen des Zieles, nach dem ein solcher Mensch strebt.
 
Sie haben in dieser Hinsicht nicht viel zu befürchten. Ihr Leben, das Sie so wunderbar dem Dienst an unserer heiligen Sache verschrieben haben, bringt Sie spirituell und intellektuell in eine Lage, in der Sie, wie ich schon gesagt habe, mehr lernen als auf irgendeine andere Weise, vielleicht ohne es jetzt zu erkennen.
Wind des Geistes, Verlag der Theosophischen Gesellschaft
Pasadena, Deutschland
 


Autor: Gottfried v. Purucker